Siebentes Kapitel - Die Stapletons von Merripit House - 02
Plötzlich wurde ich in meinem Nachdenken gestört, indem ich hinter mir schnelle Fußtritte und eine Stimme hörte, die meinen Namen rief. Ich drehte mich um, in der Erwartung, Dr. Mortimer zu sehen, zu meiner Überraschung aber war es ein Unbekannter, der mir nachlief. Es war ein kleiner hagerer Herr mit einem zarten, glattrasierten Gesicht, flachsblond und hohlwangig, dreißig bis vierzig Jahre alt, mit einem grauen Anzug und Strohhut bekleidet. Eine Botanisierbüchse hing über seiner Schulter, und in der einen Hand trug er ein grünes Schmetterlingsnetz.
»Gewiß werden Sie die Freiheit entschuldigen, die ich mir herausnehme, Herr Dr. Watson,« sagte er, als er keuchend die Stelle, wo ich ihn erwartete, erreicht hatte. »Hier auf dem Moor sind wir Leute ohne viele Umstände und warten's nicht erst ab, daß wir in aller Form vorgestellt werden. Vielleicht haben Sie meinen Namen bereits von unserem beiderseitigen Bekannten Dr. Mortimer gehört. Ich bin Stapleton von Merripit House.«
»Das hätten mir schon Ihr Netz und die Botanisierbüchse sagen können,« antwortete ich, »denn ich wußte bereits, daß Herr Stapleton Naturforscher ist. Aber wie kommt es, daß Sie mich kennen?«
»Ich hatte bei Mortimer vorgesprochen, und er zeigte Sie mir vom Fenster aus, als Sie vorbeigingen. Da wir denselben Weg haben, so dachte ich, ich könnte Sie einholen und mich Ihnen selbst vorstellen. Ich nehme an, daß Sir Henry seine Reise gut bekommen ist?«
»Er ist wohl auf, danke.«
»Wir befürchteten eigentlich alle, daß nach Sir Charles' traurigem Ende der neue Baronet vielleicht nicht hier würde wohnen wollen. Es ist von einem reichen Mann viel verlangt, in eine solche Gegend zu ziehen und sich selbst lebendig zu begraben. Aber ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß für die Gegend sehr viel darauf ankommt. Sir Henry hegt doch wohl keine abergläubischen Befürchtungen?«
»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.«
»Natürlich kennen Sie die Legende von dem Höllenhund, der das Geschlecht verfolgt?«
»Ich habe davon gehört.«
»Es geht über alle Begriffe, was für ein leichtgläubiges Volk die Bauern hier herum sind. Vom Ersten bis zum Letzten sind sie bereit, zu schwören, sie hätten solch ein Geschöpf auf dem Moor gesehen.« Er sagte dies mit einem Lächeln; ich glaubte indessen seinen Augen anzusehen, daß er die Sache ernster auffaßte. »Die Geschichte beschäftigte Sir Charles' Gedanken in hohem Maß und ich zweifle nicht, daß sie die Ursache seines tragischen Endes wurde.«
»Aber wieso denn?«
»Seine Nerven waren so zerrüttet, daß der Anblick irgend eines Hundes wohl eine tödliche Wirkung haben konnte. Meiner Meinung nach hat der herzkranke Baronet in jener letzten Nacht wirklich etwas Derartiges in der Taxusallee gesehen. Ich fürchtete schon längst, ihm möchte irgend ein Unglücksfall zustoßen, denn ich hatte den alten Herrn sehr gern und ich wußte, daß sein Herz schwach war.«
»Woher wußten Sie das?«
»Mein Freund Mortimer erzählte es mir.«
»Sie glauben also, irgend ein Hund verfolgte Sir Charles und er starb aus Angst vor dem Tier?«
»Wissen Sie eine bessere Erklärung?«
»Ich habe mir noch keine bestimmte Meinung gebildet.«
»Aber Herr Sherlock Holmes?«
Mir stand bei diesen Worten einen Augenblick der Atem still, aber ein schneller Blick auf das unbefangene Gesicht und die ruhigen Augen meines Begleiters zeigte mir, daß er es nicht auf eine Überrumpelung abgesehen hatte.
»Wir können nicht leugnen, daß Sie uns bekannt sind, Herr Doktor,« sagte er. »Die Berichte von den Taten Ihres Detektivs sind auch zu uns gedrungen, und Sie konnten ihn nicht berühmt machen, ohne zugleich selber bekannt zu werden. Als Mortimer mir Ihren Namen nannte, konnte er es nicht ableugnen, daß Sie der wohlbekannte Gefährte des Herrn Holmes seien. Wenn Sie nun hier sind, so folgt daraus, daß Herr Sherlock Holmes sich für die Sache interessiert, und natürlich bin ich neugierig und möchte gerne hören, welche Ansicht er darüber hat.«
»Diese Frage werde ich Ihnen wohl leider nicht beantworten können.«
»Darf ich fragen, ob er uns mit seinem persönlichen Besuch zu beehren gedenkt?«
»Zur Zeit kann er nicht aus London fort. Seine Aufmerksamkeit ist von anderen Fällen in Anspruch genommen.«
»Wie schade! Er hätte vielleicht etwas Licht in dieses Dunkel hineingebracht, das uns umgiebt. Wenn ich Ihnen aber bei Ihren eigenen Nachforschungen in irgendeiner Weise von Nutzen sein kann, so bitte ich Sie, über mich zu verfügen. Wenn ich irgend einen Anhalt hätte, in welche Richtung Ihr Verdacht geht, oder wie Sie Ihre Untersuchungen zu betreiben gedenken, so könnte ich Ihnen vielleicht sogar schon jetzt nützlichen Rat geben.«
»Ich versichere Ihnen, ich bin ganz einfach hier auf Besuch bei meinem Freund Sir Henry und brauche keine Hilfe irgendwelcher Art.«
»Ausgezeichnet!« sagte Stapleton. »Sie haben vollkommen recht, daß Sie vorsichtig und verschwiegen sind. Sie haben mir für meine, wie ich fühle, unentschuldbare Zudringlichkeit eine wohlverdiente Zurechtweisung erteilt, und ich verspreche Ihnen, die Sache nicht wieder zu erwähnen.«
Wir waren inzwischen an eine Stelle gekommen, wo ein schmaler, grasbewachsener Pfad von der Straße abzweigte, um sich in Schlangenlinien über das Moor zu winden. Zur Rechten lag ein steiler, mit Felsblöcken übersäter Hügel, der in früherer Zeit als Steinbruch benutzt worden war. Die uns zugewandte Seite bildete eine dunkle Felswand, aus deren Spalten und Höhlungen Farnkräuter nickten und Brombeerbüsche hervorlugten. In einiger Entfernung schwankte am Himmel wie eine Riesenfeder eine graue Rauchwolke hin und her.
»Ein kleiner Spaziergang diesen Moorpfad entlang bringt uns nach Merripit House,« sagte Stapleton. »Wenn Sie vielleicht eine Stunde übrig haben, so könnte ich mir das Vergnügen machen, Sie meiner Schwester vorzustellen.«
Mein erster Gedanke war, daß ich eigentlich an Sir Henrys Seite gehörte. Aber dann erinnerte ich mich des Stoßes von Papieren und Rechnungen, mit denen sein Schreibtisch überdeckt war. Ich wußte, daß ich ihm beim Ordnen derselben nicht helfen konnte. Und Holmes hatte mir ausdrücklich gesagt, ich möchte die Nachbarn auf dem Moor genau studieren. Ich nahm also Stapletons Einladung an und wir gingen miteinander den schmalen Weg entlang.
»'s ist eine wunderbare Gegend, das Moor,« sagte er und dabei ließ er seinen Blick über die langen grünen Hügelwellen mit ihren phantastischen Zackenkronen von Granit hinschweifen. »Des Moors wird man niemals überdrüssig. Sie glauben gar nicht, was für wunderbare Geheimnisse es verbirgt. Es ist so weit und so wüst und so geheimnisvoll.«
»Sie kennen es wohl genau?«
»Ich bin erst seit zwei Jahren hier. In den Augen der Einheimischen bin ich noch immer ein Neuling. Wir kamen kurz nachdem Sir Charles sich niedergelassen hatte. Aber meine Liebhabereien trieben mich an, jeden Fleck hier in der Gegend genau zu erforschen, und ich glaube, daß es wenig Leute in dieser Gegend gibt, die sie besser kennen als ich.«
»Ist es so schwer, sich hier zurechtzufinden?«
»Sehr schwer. Sehen Sie zum Beispiel die große Ebene da nach Norden hin, woraus die eigentümlich geformten Erhöhungen hervorstechen. Bemerken Sie irgend etwas Auffälliges daran?«
»Es wäre ein ausgezeichneter Platz für einen Galopp.«
»Es ist ganz natürlich, daß Sie so denken, und dieser Gedanke hat schon manchen das Leben gekostet. Sie bemerken die hellgrünen Flecken, womit die Fläche dicht übersäet ist?«
»Ja, sie scheinen fruchtbarer zu sein als das übrige Land.«
Stapleton lachte und rief:
»Das ist das große Grimpener Moor. Ein Fehltritt bringt Menschen wie Tieren den Tod. Erst gestern sah ich eins von den Moorponies hineingeraten. Es kam nie wieder empor. Eine ziemlich lange Zeit sah ich den Kopf des Tieres aus dem Morastloch hervorragen, aber schließlich saugte der Sumpf es doch hinunter. Sogar in den trockenen Jahreszeiten ist es gefährlich, über das Moor zu gehen, aber jetzt nach den Herbstregen ist es geradezu ein fürchterlicher Ort. Trotzdem finde ich meinen Weg zu den verborgensten Stellen und kehre lebend und gesund wieder zurück. Beim Himmel, da ist wieder eines von den unglücklichen Ponies im Sumpf!«