Zehntes Kapitel - Auszug dem Tagebuch von Dr. Watson - 02
Heute morgen nach dem Frühstück hatten wir eine kleine Szene. Barrymore bat Sir Henry um eine Unterredung, und sie verweilten kurze Zeit unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer. Ich saß im Billardzimmer und hörte mehrere Mal, daß sie ihre Stimmen erhoben; ich konnte mir wohl denken, was den Gegenstand ihres Gespräches bildete. Nach einer Weile öffnete der Baronet die Thür und bat mich, hereinzukommen.
»Barrymore glaubt Grund zu einer Beschwerde zu haben,« sagte er. »Er meint, es sei unredlich von uns gewesen, auf seinen Schwager Jagd zu machen, nachdem er uns freiwillig das Geheimnis mitgeteilt hatte.«
Der Schloßverwalter stand, sehr bleich, jedoch vollkommen gefaßt, vor uns.
»Ich mag vielleicht zu heftig gesprochen haben, Herr,« sagte er, »und wenn dies der Fall sein sollte, so bitte ich recht sehr um Vergebung. Ich war eben sehr überrascht, als ich die beiden Herren heute früh zurückkommen hörte und erfuhr, daß sie Selden verfolgt hatten. Der arme Kerl hat gerade genug durchzumachen und es war nicht nötig, daß sich ihm noch jemand auf die Hacken setzte.«
»Wenn Sie es uns freiwillig verraten hätten, so wäre es allerdings etwas anderes,« antwortete der Baronet. »Sie sprachen aber erst – oder vielmehr Ihre Frau tat es – als Sie nicht mehr anders konnten.«
»Ich glaubte aber nicht, daß Sie von meiner Mitteilung Gebrauch machen würden, Sir Henry – wirklich, dieser Gedanke lag mir völlig fern.«
»Der Mann ist eine Gefahr für die Menschheit. Überall über das Moor verstreut liegen einsame Häuser, und er ist ein Bursche, der vor nichts zurückschreckt. Man braucht nur mal einen Augenblick sein Gesicht zu sehen, um das zu wissen. Nehmen Sie zum Beispiel Herrn Stapletons Haus; da ist bloß er allein, der die Bewohner verteidigen könnte. Nein, die ganze Gegend ist unsicher, so lange Selden nicht wieder hinter Schloß und Riegel ist.«
»Er bricht in kein Haus ein, Herr. Darauf gebe ich Ihnen mein heiliges Wort. Aber er wird überhaupt keinen Menschen mehr in dieser Gegend belästigen. Ich versichere Ihnen, Sir Henry, in ganz wenig Tagen werden die nötigen Vorkehrungen getroffen und mein Schwager wird nach Südamerika unterwegs sein. Um Himmels Willen, Herr, ich bitte Sie, teilen Sie der Polizei nicht mit, daß er noch auf dem Moor ist. Sie haben es aufgegeben, ihn dort zu suchen, und wenn er sich ruhig verhält, so kann er es aushalten, bis sein Schiff abgeht. Wenn Sie ihn anzeigen, so bringen Sie damit unbedingt auch meine Frau und mich in Ungelegenheiten. Ich bitte Sie, Herr, sagen Sie der Polizei nichts davon!«
»Was meinen Sie dazu, Watson?«
Ich zuckte die Achseln und erwiderte:
»Wenn er außer Landes wäre, so wäre der Steuerzahler eine Last los.«
»Aber wenn er nun noch jemanden überfällt, ehe er abreist?«
»So eine Wahnsinnstat wird er nicht begehen, Herr. Wir haben ihn mit allem versorgt, was er nur braucht. Wenn er ein Verbrechen beginge, so würde dadurch ja bekannt werden, daß er sich hier im Moor versteckt.«
»Da haben Sie recht,« sagte Sir Henry. »Nun, Barrymore …«
»O, Gott segne Sie, Herr! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Es wäre meiner armen Frau Tod gewesen, hätte man ihren Bruder wieder ergriffen.«
»Ich glaube, Watson, wir machen uns da einer Begünstigung schuldig. Aber nach dem, was ich gehört habe, glaube ich, ich könnte es nicht übers Herz bringen, den Mann anzuzeigen, – und damit basta! – Es ist gut, Barrymore, Sie können gehen.«
Der Mann stammelte noch einige Worte des Dankes und ging. Plötzlich aber blieb er zögernd stehen, kam zurück und sagte:
»Sie sind so freundlich gegen uns gewesen, Herr, daß ich es gern vergelten möchte, so gut ich's nur kann. Ich weiß etwas, Sir Henry, und hätte es vielleicht früher sagen sollen, aber als ich Kenntnis davon erhielt, war seit Sir Charles' Leichenschau schon lange Zeit verstrichen. Ich habe bis jetzt zu keiner Menschenseele ein Wort davon verlauten lassen. Es betrifft den Tod meines armen früheren Herrn.«
Der Baronet und ich sprangen beide gleichzeitig von unseren Stühlen auf und riefen:
»Wissen Sie, wie er ums Leben kam?«
»Nein, Herr, davon weiß ich nichts.«
»Was wissen Sie denn?«
»Ich weiß, warum er um jene Stunde an der Pforte war. Er hatte eine Verabredung mit einer Frau.«
»Mit einer Frau? Was?«
»Ja.«
»Und wie hieß sie?«
»Den Namen kann ich Ihnen nicht angeben, wohl aber seine Anfangsbuchstaben. Diese sind L. L.«
»Woher wissen Sie das, Barrymore?«
»Sehen Sie, Sir Henry, Ihr Onkel bekam an jenem Morgen einen Brief. Für gewöhnlich bekam er sehr viele Briefe, denn er war eine hervorragende Persönlichkeit hier in der Gegend, und seine Gutherzigkeit war allgemein bekannt; deshalb wandte sich jeder, der in Verlegenheit war, mit Vorliebe an Sir Charles. Aber an jenem Morgen war nur der einzige Brief angekommen; deshalb fiel er mir umsomehr auf. Der Brief war in Coombe Tracey aufgegeben und die Adresse von einer Frauenhand geschrieben.«
»Weiter?«
»Nun, Herr, ich dachte nicht mehr daran und würde überhaupt nicht mehr daran gedacht haben. Vor ein paar Wochen jedoch räumte meine Frau Sir Charles' Arbeitszimmer auf – es war seit seinem Tod nichts darin angerührt worden –, und da fand sie hinten am Kaminrost die Asche von einem verbrannten Brief. Sein größerer Teil war in kleine Stückchen zerfallen, aber ein kleiner Streifen vom unteren Ende einer Seite hing noch zusammen, und die Schriftzüge waren zu lesen, weil sie sich grau von dem schwarzen Grunde abhoben. Wir hielten es für eine Nachschrift zu dem Brief, und die Worte lauteten folgendermaßen: ›Bitte, bitte! Da Sie ein Gentleman sind, so verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn an der Pforte!‹ Unterzeichnet war dieser Satz mit den Buchstaben L. L.«
»Haben Sie den Streifen aufbewahrt?«
»Nein, Herr, er zerfiel uns unter den Händen zu Asche.«
»Hatte Sir Charles schon früher Briefe mit derselben Handschrift erhalten?«
»Ich sah mir sonst seine Briefe nicht an und achtete nicht besonders darauf. Ich hätte auch auf diesen Brief nicht geachtet, wenn er nicht allein gekommen wäre.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer L. L. ist?«
»Nein, Herr – so wenig wie Sie selber. Aber ich nehme an, wenn wir die Dame ausfindig machen könnten, so würden wir mehr über Sir Charles' Ende erfahren.«
»Ich begreife nicht, Barrymore, wie Sie dazu kamen, einen so wichtigen Umstand zu verheimlichen.«
»Nun, Sir Henry, wir fanden den Brief gerade in jenen Tagen, als wir selber durch meinen Schwager in eine so fatale Verlegenheit versetzt wurden. Und dann, Herr – wir hatten alle beide Sir Charles sehr lieb gehabt – wie es ja nach allem, was er für uns getan hat, gar nicht anders sein konnte. Wenn wir die Geschichte wieder aufrührten, so konnte das unserem armen alten Herrn nichts nützen – und wenn irgendwo eine Dame im Spiel ist, so ist es besser, vorsichtig zu sein. Auch der beste Mensch …«
»Sie meinten, es könnte seinem guten Ruf schaden?«
»Nun, jedenfalls dachte ich, es könnte nichts Gutes daraus entstehen. Aber jetzt sind Sie so gut zu uns gewesen, und ich fühle, es wäre nicht recht von mir, Ihnen nicht alles gesagt zu haben, was ich von der Geschichte weiß.«
»Sehr gut, Barrymore! Sie können gehen.«
Nachdem der Mann hinausgegangen war, wandte Sir Henry sich zu mir und sagte:
»Nun, Watson, was meinen Sie zu diesem neuen Licht, das auf meines Onkels Ende fällt?«
»Mir scheint, die Dunkelheit ist nur noch tiefer geworden, als sie schon war.«
»Das ist auch meine Meinung. Aber wenn wir nur L. L. aufspüren könnten, so würde sich die ganze Sache aufklären. Was sollen wir nach Ihrer Meinung tun?«
»Vor allem sofort Holmes in Kenntnis setzen. Für ihn wird dies der Anhaltspunkt sein, nach dem er so lange gesucht hat.«
Ich begab mich sogleich auf mein Zimmer, um für Holmes einen Bericht über das Gespräch dieses Morgens niederzuschreiben. Augenscheinlich mußte er in der letzten Zeit mit Arbeit überhäuft gewesen sein, denn ich hatte aus der Bakerstraße nur ein paar ganz kurze Notizen erhalten, worin von meinen Berichten überhaupt nicht die Rede war; sogar die Aufgabe, die ich auf Baskerville Hall zu erfüllen hatte, war nur ganz obenhin erwähnt. Ohne Zweifel nimmt die Untersuchung wegen der Erpressung alle seine Geisteskräfte in Anspruch.
Aber der heute neu hinzugekommene Umstand muß ganz gewiß seine Aufmerksamkeit fesseln und seine Teilnahme neu beleben. Ich wollte, er wäre hier …