Die Psychologie des Weihnachtszaubers
Jährlich stimmen wir uns auf unterschiedliche Art und Weise auf Weihnachten ein. Warum aber zaubert uns das „große Fest“ jedes Jahr wieder ein Lächeln aufs Gesicht? Eine Erklärung liefert die Hirnforschung.
Wir stehen auf dem Weihnachtsmarkt, wärmen unsere Hände am Glühwein und werden mit weihnachtlicher Musik beschallt. Das reicht schon, um in unserem Gehirn das Gefühl der Vorfreude auf das „große Fest“ am 24., 25. und 26. Dezember auszulösen. Seit wir uns erinnern können ist die Zeit vor Weihnachten etwas ganz Besonderes. Gemeinsames Feiern, Plätzchen backen, Weihnachtslieder singen, schenken und beschenkt werden – all das steigert unsere Vorfreude und führt zu ein und demselben Ergebnis: Unser Belohnungssystem wird aktiviert. Die Zeit vor Weihnachten beschert unserem Gehirn also mehr positive Gefühle, als das Ereignis an sich. Woran liegt das? Für den Neurologen Gerhard Roth gibt es eine einfache Antwort:
„Es gibt nicht nur die Freude, wenn Weihnachten ist, sondern auch die Vorfreude. Das heißt, die Vorstellung, dass irgendetwas Schönes passieren wird, erregt schon in meinem Gehirn bestimmte Zentren, die mit Freude und Erwartung zu tun haben und zum Teil noch viel mehr als dann die Freude selber, wenn die Sache, die man ersehnt, passiert. Darum heißt es ja: ‚Die Vorfreude ist die schönste Freude‘.“
Und dafür sind laut Gerhard Roth bestimmte Prozesse verantwortlich, die in unserem Gehirn ablaufen:
„Wenn wir uns freuen, dann liegt das daran, dass bestimmte Stoffe ausgeschüttet werden, Belohnungsstoffe. Das sind opiumartige Stoffe, die das Gehirn selber produziert im sogenannten Hypothalamus und der Hypophyse, in der Hirnanhangsdrüse. Und die wirken nun auf verschiedene andere Zentren. Und wenn diese Stoffe dort andocken, dort wirksam sind, dann haben wir das Gefühl: ‚Och, das ist schön, das freut mich, das macht Spaß, ich habe Lust‘.“
Chemische Prozesse in unserem Gehirn sorgen für ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Freude. Dieses ähnelt dem Zustand beim Genuss des Rauschmittels Opium. Das Gehirn schüttet diese opiumähnlichen Stoffe aus. Produziert werden sie in zwei Bereichen des Zwischenhirns, dem sogenannten Hypothalamus, und der mit ihm verbundenen Hypophyse. Der Hypothalamus steuert beispielsweise den Blutdruck, die Körpertemperatur und unser Sexual- und Fortpflanzungsverhalten. Im Zusammenhang mit Weihnachten werden diese chemischen Prozesse im Gehirn aus einem Grund ausgelöst, meint Gerhard Roth:
„Bei dem Wort ‚Weihnachten‘ da gibt es Assoziationen: Weihnachtsbaum, Geschenke, Licht – und alle sind nett und lieb, und so weiter. Das wird abgespeichert. Und wenn ich das Wort wieder höre, dann wird automatisch aus meiner Erinnerung dieser Vorstellungskomplex aufgerufen – und zusammen mit dem Vorstellungskomplex werden Gefühle aufgerufen. Und wenn ich dann ‚Weihnachten‘ höre, dann wird automatisch – hoffentlich – so ein Gefühl der Freude mit aufgerufen. Ich weiß aber, Weihnachten ist noch nicht, und das macht dann die Vor-Freude aus.“
Die Hirnforschung versucht, nicht nur die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen, sondern auch die Verknüpfung der Hirntätigkeit mit unseren Gefühlen. Knapp 100 Milliarden Nervenzellen kommunizieren mit über 100 Billionen Synapsen, Verbindungen zwischen den Zellen zur Übertragung von Reizen. Über 300 Reize kann jede Faser unseres Gehirns in einer Sekunde aussenden. Unser Belohnungssystem reagiert auf Reize, die entweder selbst eine Belohnung darstellen, zum Beispiel, wenn man Schokolade isst, oder die eine spätere Belohnung signalisieren, wie alles, was wir mit Weihnachten verbinden, assoziieren. Meist sind das Erinnerungen, wie wir das Fest als Kind erlebt haben. Wie bei einer Computerfestplatte sind diese Erinnerungen in unserem Gehirn abgespeichert, festgeschrieben. Zu ihnen gehört auch die Vorfreude auf Geschenke. Allerdings ist hier laut Hirnforscher Manfred Spitzer etwas sehr wichtig:
„Dass man nicht weiß, was man geschenkt bekommt. Wenn man weiß, man bekommt was geschenkt, aber man weiß nicht was, dann hat man sowohl die Vorfreude als auch die Freude dann beim Schenken. Wenn beides also erfüllt ist, hat man, wenn man so will, den Akt des Gebens optimal zum Zwecke der Freude ausgenutzt.“
Wer unerwartet ein Geschenk bekommt, freut sich umso mehr. Denn vor allem die Überraschung führt zum Zusammenspiel von sogenannten Neurotransmittern, einer chemischen Substanz, die eine Erregung im Nervensystem weiterleitet, und von Hormonen. Mindestens drei Faktoren gibt es aber laut Gerhard Roth, die bei dem einen oder der anderen die Vorfreude auf Weihnachten beeinträchtigen, sie trüben, oder einem die Freude sogar verderben, versauern, kann:
„Es ist die Dunkelheit, die also ganz entscheidend ist als Eintrübung des Freudegefühls. Zweitens ist es die Erfahrung, dass Weihnachten auch nicht mehr das ist, was es früher mal war, nämlich als Kind. Und drittens ist es diese unglaubliche Hektik, die immer weiter zunimmt. Man kauft dann die Geschenke einen Tag vor Weihnachten oder am Heiligabend. Und das ist schon richtig, dass diese drei Faktoren zusammen einem die Freude auf Weihnachten versauern können: Dunkelheit und Hektik und eben auch die Erfahrung ‚Freu dich nicht so sehr, da wirst du nur enttäuscht‘ – was ja meist auch stimmt.“
Denn nicht immer läuft das „große Fest“ so harmonisch ab, wie man es sich wünscht. Macht sich dann ein Gefühl der Enttäuschung breit, weil die freudige Erwartungshaltung nicht erfüllt wurde, kann das zu einem sogenannten „Weihnachtskoller“, zu einem Gefühl von Ärger, Stress, negativen Emotionen führen. Für die meisten bleibt Weihnachten dennoch eine ganz besondere Zeit – auch für Wissenschaftler wie Hirnforscher Manfred Spitzer:
„Ich möchte Weihnachten ja um Gottes Willen nicht entzaubern. Also für mich ist es eigentlich besonders zauberhaft, wenn ich verstehe: ‚Mensch, was haben sich Menschen Tolles überlegt und damit intuitiv eigentlich alles richtig gemacht‘. Also wenn man verstanden hat, warum wir auf zwei Beinen laufen können, weil wir komplexe Balanceakte vollbringen, ist man ja deswegen nicht weniger begeistert vom Laufen auf zwei Beinen, sondern man ist im Grunde genommen besonders begeistert, weil man kapiert, wie kompliziert das eigentlich ist. Und ich denk mir, bei Weihnachten ist das auch so.“
Die Vorfreude auf und die Freude an Weihnachten kann wissenschaftlich erklärt werden. Dennoch fasziniert der psychologische Aspekt des „Weihnachtszaubers“ immer wieder aufs Neue. Wer verstanden, kapiert, hat, wie komplex das menschliche Gefühlsleben ist, wird uns den mit dem Fest verbundenen Zauber nicht nehmen, das Weihnachtsfest nicht entzaubern, wollen. Und so gilt jedes Jahr wieder aufs Neue: Vorfreude ist die schönste Freude.