Neue Chancen dank Technik
Herzlich willkommen. Was dank Technik alles möglich ist,
das sehen wir immer eindrucksvoll bei den Paralympics-Athleten
mit ihren Hightech-Prothesen.
Und auch im Alltag kann uns Technik auf die Sprünge helfen.
Besonders spektakulär muten sogenannte Exoskelette an.
Mit ihnen sollen gelähmte Menschen wieder laufen können.
Aber: Diese Spezialgeräte sind nicht für alle geeignet
und außerdem sehr teuer.
André van Rüschen hat sich nach seinem Unfall fest vorgenommen:
"Ich will wieder laufen."
Also wollte er es unbedingt ausprobieren, so ein Exoskelett.
André gehörte zu den Ersten, die hierzulande
an einem Test der Laufroboter teilnehmen konnten.
Und, wie hat es sich für ihn angefühlt?
(André) Die ersten Schritte mal gehen, nach zehn Jahren,
da kullerten schon die ersten Tränchen, sag ich mal so.
Man hat immer so im Hinterkopf: "Irgendwann will ich wieder laufen."
Als man dann die ersten Schritte gegangen hat,
das war schon doch sehr emotional.
Parken, aussteigen, um zu einem Termin zu gehen,
war für André von Rüschen jahrelang unmöglich.
Seit seiner Querschnittslähmung nach einem Autounfall
brauchte er immer den Rollstuhl.
Doch eine revolutionäre Technik änderte das.
Das ist ein Exoskelett.
Da können querschnittsgelähmte Menschen wieder mit laufen, gehen.
Ich wähle jetzt gleich das Symbol "Stehen" aus,
dann bestätige ich, das System bestätigt.
Dann fährt der Beckenbügel nach vorne,
damit ich über diesen toten Punkt wegkomme.
Dann fahre ich mit dem System komplett nach oben hin.
Erst wenn ich den Oberkörper nach vorne hin neige,
erst dann macht es einen Schritt.
Nehme ich die Stützen nach vorne, macht es wieder einen Schritt.
Wieder auf eigenen Beinen stehen und gehen.
Das ist für den 48-Jährigen alles andere als selbstverständlich.
Durch das Exoskelett hat er die Chance auf einen Neuanfang bekommen.
Auf jeden Fall ist das ein neues Leben.
Weil, ich kann sonst bloß sitzen und kann alles
aus der "Popo-Perspektive", sag ich immer, begutachten.
Und jetzt, mit 1,93m, ist das 'n ganz anderen Blickwinkel.
Man gehört auch wieder zur Gesellschaft dazu.
Man wird nicht als Behinderter angesehen, wenn man läuft.
Der Norddeutsche war der erste Querschnittsgelähmte in Deutschland,
der ein Exoskelett ausprobieren durfte.
Durch Zufall liest er 2012 in einer Zeitschrift,
dass ein Hersteller Tester sucht.
Seitdem nutzt er die Hightech-Prothese täglich.
Inzwischen arbeitet er als Außendienstmitarbeiter
für die Herstellerfirma.
Zusammen mit einem Physiotherapeuten übt er mit Julika Tabaku,
das Exoskelett zu nutzen.
Wenn du jetzt das Kniebracket auf der linken Seite vormachst,
dann kannst du nicht mehr aus dem System rausrutschen,
dann kannst du besser deinen rechten Schuh anziehen.
Probier das mal aus.
Auch Julika Tabaku ist seit einem Unfall
vor zwei Jahren querschnittsgelähmt.
Sie nutzt ihr Exoskelett erst seit ein paar Monaten.
Noch braucht sie dabei Unterstützung.
Weil ich noch Probleme mit dem Gleichgewicht habe
und nicht so ganz sicher bin.
Und zur Not, falls ich mich falsch bewege
oder stürzen könnte, muss da jemand sein.
André gibt Julia Tabaku praktische Tipps
zum eigenständigen Aufstehen.
Du hast die Schultern ja schön frei,
du kannst dich schön neben dem System setzen.
Dann auf die Position "Stehen" gehen.
Aber immer gucken, was du machst, an der Uhr.
Besonders wichtig ist es, das Gleichgewicht zu finden.
Du darfst keine Angst haben, ob du vorne stehst,
oder es schubst dich jemand und du setzt die Stützen nach hinten.
Ist noch nicht so ganz automatisiert.
Aber das muss. - Genau.
Rund 110.000 Euro kostet die Hightech-Prothese
zusammen mit drei Monaten Physiotherapie.
Julika Krankenkasse hat die Kosten übernommen,
André musste die Kostenübernahme jahrelang erstreiten
und zog vor Gericht.
Meine Krankenkasse hat gesagt: "Nö, wir möchten nicht."
Für einen Querschnitt ist der Rollstuhl
Ausgleich der Behinderung.
Aber warum?
Warum sollte ich immer als Behinderter angesehen werden?
Ich bin jetzt wieder ein voller Mensch.
Das Exoskelett verbessert auch den körperlichen Allgemeinzustand.
Ich habe zehn Jahre im Rollstuhl gesessen.
Die zehn Jahre habe ich wirklich bloß
Probleme mit Blasenentzündung gehabt, Darmentleerung, Spastik,
Osteoporose, Rückenschmerzen.
Alle diese Begleiterkrankungen, die man durch das ständige Sitzen
und Rollstuhlfahren hat, hat man hiermit nicht, weil man steht.
Ob solche Roboter für einen Querschnittsgelähmten geeignet sind,
entscheiden Ärzte.
Dass damit irgendwann alle wieder gehen können,
hält André van Rüschen jedoch für unwahrscheinlich.
Nicht jeder möchte es auch.
Es gibt welche, die sind total offen für Technologie und für neue Sachen.
Und welche, die bleiben immer auf ihrem alten Stand.
Ich gehe immer weiter nach vorne.
Ich hab zwar ein Gestell, wo ich mit lauf,
aber ich bin nicht mehr der Behinderte.
Ich werde wieder voll akzeptiert.
André van Rüschen steht wieder mit beiden Beinen im Leben
und ist dankbar für diese neue Chance durch Technik.
Schon beeindruckend.
Aber mir ist genauso wichtig eine barrierefreie Umwelt,
in der sich alle ungehindert bewegen
und auch ohne Exoskelett auf Augenhöhe sein können.
Mit der technischen Entwicklung gehen wir noch eine Stufe weiter
und zeigen: Technik kann sogar Gedanken lesen
und ein Musikinstrument steuern.
Wie das geht, erklärt er uns am besten selbst: Berthold Meyer.
Er hat seine Unterarmprothese in den vergangenen Jahren
immer weiterentwickelt,
die Funktionen seiner bionischen Hand verfeinert.
Interessant dabei ist: Wie nehmen andere ihn
aufgrund dieser futuristisch aussehenden Prothese wahr?
Berthold Meyer kam ohne linken Unterarm auf die Welt.
Seit seiner Kindheit trägt er deshalb Prothesen.
(Meyer) Seitdem ich Prothesen trage, die eher so aussehen,
habe ich viel weniger mit Stigmatisierung im Alltag zu tun.
Die Leute reagieren anders auf dich
und kommen ganz anders auf dich zu.
Du kriegst kein Mitleid mehr,
sondern so ein positiv konnotiertes Interesse.
Gerade Kinder sagen: "Boah, cool, das ist ja krass, zeig mal."
Coolness gibt es sonst nicht bei Behinderung.
Berthold Meyer ist in zwei Welten unterwegs.
Er arbeitet als Professor für Psychologie an der TU Chemnitz.
Seine zweite Welt ist der Techno. Er ist DJ.
Das Besondere: Er erzeugt seine Musik mithilfe seiner Gedanken.
Als das zum ersten Mal funktioniert hat,
habe ich mich gefühlt wie ein Kind im Bonbonladen.
Ich war so verblüfft und so begeistert.
Hier gibt es auch ein kleines Display,
wo man die Ströme visualisieren kann,
die die Prothese an den Synthesizer schickt.
Da unten rechts kann man das dann sehen
und man hört es auch. * Technobeats *
Ich denke es einfach bloß.
* Er lacht. *
Je nach dem, wo du sie hinsteckst,
macht der Gedanke, der Muskelimpuls
ganz unterschiedliche Sachen.
Seine Hightech-Prothese ermöglicht neue Chancen im Alltag.
Der 43-Jährige lebt seine Leidenschaft als DJ aus.
Doch sie hat für ihn noch eine andere wichtige Bedeutung.
Unsere kleine Erfindung bedeutet für mich, ähm, hm ...
Dass ich im Grunde über die Beschränkungen meines Körpers
irgendwie hinauswachse und im Grunde genommen
ein Defizit auch versuche, in was Positives umzukehren.
Deswegen hat das für mich auch was unglaublich Ermächtigendes.
So, dass ich wirklich denke:
"Ich habe das selbst gemacht." So.
Das fühlt sich einfach total gut an.
Seine spezielle Prothese
hat Berthold Meyer in Eigenregie entwickelt.
Auf die Idee kam er, weil er mit seiner normalen Armprothese
die kleinen Knöpfe und Regler seines Musikinstruments
nur schwer bedienen konnte.
Du brauchst diese Bewegung, die kann die Prothese einfach nicht.
Das hat mich immer schon geärgert.
Dann kam ich auf die Idee, dass man fast alle Drehknöpfe
über Strom fernsteuern kann.
Warum also der Umweg über die mechanische Bewegung?
Vielleicht gibt es eine Möglichkeit,
den Strom von meinem Arm in den Synthesizer zu kriegen.
Von Prothesen, die seinen Alltag so positiv beeinflussen,
hat Berthold Meyer als Kind nie zu träumen gewagt.
Heute für ihn eine große Erleichterung.
Vor zehn Jahren gab es gerade die ersten Hände kommerziell verfügbar,
bei denen sich alle Finger bewegen konnten.
Vorher waren wir jahrzehntelang auf dem Stand der 70er.
In den letzten zehn Jahren gab es eine Explosion
an Innovation in der Handprothetik.
Wenn das so weitergeht, kann ich von vielen Dingen träumen,
die ich noch miterleben kann.
Bertolt Meyer setzt seinen Techniktraum in die Tat um.
Er nutzt den Sockel einer 20 Jahre alten Prothese und beginnt zu löten.
Sein Ehemann Daniel ist Architekt und Künstler.
Er hilft beim Entwurf und Bau des Gehäuses.
Am Ende hält der DJ eine Prothese in den Händen,
mit der er sich direkt mit seinem Instrument verbinden kann.
Es sollte auch einen mechanischen Nutzen bieten,
dass man mit der Spitze einen Knopf drücken kann.
Und vor allem: Es musste so sein,
dass man es mit dem 3-D-Drucker zu Hause drucken kann.
Die neue Prothese zum Selberbauen will das Ehepaar
anderen kostenlos über das Internet zur Verfügung stellen.
Inzwischen arbeiten die beiden schon an einer weiteren Variante.
Sein Wunsch:
Dass wir in zehn bis 20 Jahren technologisch noch viel weiter sind.
Ich würde mir wünschen,
dass man noch viel mehr Informationen vom Körper
mit einer viel höheren Auflösung in die Prothese bekommt.
Ultimativ wünsche ich mir dann auch eine Hand,
die diese hoch auflösenden Befehle umsetzen kann.
Eigentlich will ich mit einer Hand- prothese zweihändig Klavier spielen.
Ein Leben ohne seine selbstentwickelte Hightech-Prothese
kann er sich nicht mehr vorstellen.
Dadurch entwickelst du ein anderes Selbstverständnis
im Umgang mit deiner Behinderung.
Schade, dass man so ein teures Stück Technik braucht,
um das eigene Selbstwertgefühl aufzubessern.
Ich wünschte, es wäre nicht so, aber es ist, wie es ist.
Damit verabschieden wir uns ins Wochenende
und wünschen Ihnen eine gute Zeit.
Wir sehen uns gerne bald wieder.
Untertitel im Auftrag des ZDF, 2020