Teil 9: Die Kunst biblischer Poesie - YouTube
Wir haben gelernt, wie man biblische Erzählungen liest.
Und wir haben gezeigt, dass die Bibel eine einheitliche Geschichte ist.
Aber 30% der Bibel bestehen aus antiker Poesie.
Und ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich lese nicht viele Geschichten, in denen
eine von drei Seiten eine Art Gedicht ist.
Doch Poesie ist überall in der Bibel.
Einige biblische Bücher bestehen komplett aus Poesie.
Die meisten hebräischen Propheten schrieben meisterhafte Gedichte.
Und der Großteil von Gottes Reden in der Bibel wird als Poesie dargestellt.
In biblischen Erzählungen ist es auch üblich, dass die Geschichte innehält, während eine
Figur in poetischen Gesang wechselt.
Wie in der Exodus-Geschichte: Es gibt eine Erzählung über Mose, der die Israeliten
durch das Meer führt.
Danach folgt ein schönes Gedicht über genau dieselbe Sache.
Warum eine Geschichte und ein Gedicht?
Würde nicht eine Version ausreichen?
Nun, Gedichte haben einen anderen Zweck als Geschichten.
Anstatt diesen Unterschied einfach nur zu beschreiben, sollten wir ihn erleben.
Okay.
Ein Teil der Geschichte geht so: „Die Wasser wurden geteilt, und die Israeliten
gingen auf dem trockenen Land hindurch, mit einer Wasserwand zu ihrer Rechten und zu ihrer
Linken.“ (neutraler) Das scheint ziemlich eindeutig.
Ja.
Und jetzt das Gedicht, das dasselbe Ereignis erzählt:
„Beim Schnauben deiner Nase türmte sich das Wasser, Die Wasserfluten standen aufrecht
wie eine Mauer; mitten im Meer erstarrten sie.“
Wow, eine Wand aus tosendem Wasser, wie Wackelpudding, und eine göttliche Nase?
Das ist heftig.
Ja, durch das Gedicht wird deine Vorstellungskraft entfacht.
Du erlebst sprachliche Kunst.
Die biblischen Dichter nutzten dafür bestimmte Werkzeuge.
Und das ist es, was wir uns anschauen werden - die Kunst der biblischen Poesie.
(Pause) Die Grundeinheit von jedem Gedicht ist der Vers.
Und mehrere Verse werden zu einem Gedicht.
Diese Art von Gedicht kenne ich.
Es gibt ein Versmaß, eine Kadenz: da da da da – da da da da.
Und es reimt sich.
Aber Gedichte in der Bibel funktionieren so nicht.
Ja, biblische Gedichte kann man als freie Verse bezeichnen.
Hier wird kein Versmaß verwendet - wie bei vielen traditionellen Gedichten - und sie
reimen sich auch nicht in der gleichen Weise.
Biblische Gedichte haben also keine Ordnung?
Doch, sie haben nur eine andere Art von Ordnung.
Biblische Gedichte sind im Wesentlichen durch Verse strukturiert: Zwei kurze Verse, die
sorgfältig formuliert und nebeneinander gestellt werden.
Der erste Vers macht die Grundaussage und der zweite Vers entwickelt sie in irgendeiner
Weise weiter.
Durch den zweiten Vers wird der Gedanke vervollständigt; oder mit anderen Worten oder Bildern vertieft;
oder in irgendeiner Weise gegenüberstellt.
Schau dir den Anfang von Psalm 51 an.
Da siehst du das gut.
Im ersten Reimpaar bittet der Autor Gott, Gnade und Liebe zu zeigen.
Aber wie genau?
Im zweiten Vers bittet er um Vergebung für sein Versagen.
Okay, also beendet dieses Reimpaar einen vollständigen Gedanken?
Genau.
Und im nächsten Reimpaar beginnt der Autor mit der Metapher des Reinwaschens.
Und dann zeigt der zweite Vers ein anschaulicheres Bild, wie das eines Priesters im Tempel, der
die Dinge reinigt, damit sie in Gottes Gegenwart sein können.
Also man nimmt ein Bild und vertieft es?
Genau.
Und dann im dritten Reimpaar beginnt der Autor mit dem Bewusstsein für seine Sünde tief
im Inneren.
Und darauf folgt eine Beschreibung der Sünde, die außerhalb ist.
Sie ist öffentlich sichtbar; für ihn selbst und für andere Menschen.
In diesem Reimpaar wird also eine Idee genommen und etwas gegenübergestellt?
Genau.
Reimpaare sind also von Natur aus ein bisschen wiederholend.
Aber die sich wiederholende Sprache zwingt dich dazu, langsamer zu werden und über das
Gefühl und die Bedeutung des Ganzen nachzudenken.
Du musst jede Idee aus mehr als einem Blickwinkel betrachten.
Und dann können sich mehrere Reimpaare um eine Schlüsselidee drehen.
Es ist wie bei einem Diamanten mit vielen Facetten.
Jede Seite bietet einen anderen Blick auf die gleiche Gegebenheit.
In diesem Gedicht wird also erforscht, wie es ist, wenn einem vergeben wird und man eine
zweite Chance bekommt.
Und das ist die Art von Erfahrung, die einen Menschen verändern kann.
Es lohnt sich, das auszukosten und darüber nachzudenken.
Biblische Dichter verwenden die Wiederholung auch in größerem Umfang.
In vielen Gedichten findest du einen Schlüsselsatz, der mehrfach wiederholt wird.
Das nennt man einen Refrain.
Oder das Gedicht wird mit einem ähnlichen Paarreim begonnen und beendet.
Das nennt man eine Inklusion.
Biblische Dichter lieben also Design?
Oh ja.
Das ist verbale Kunst.
Diese Dichter verwenden die Wiederholung, um alle möglichen ausgeklügelten Muster
zu erschaffen.
Diese sollen den Leser dazu einladen, Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen des ganzen Gedichts
herzustellen, die noch tiefere Bedeutungsschichten eröffnen.
Cool.
Ich fühle mich in alter hebräischer Poesie langsam heimisch.
Aber denk daran: Poesie ist nichts, das man beherrscht und dann geht man seiner Wege.
Biblische Gedichte sind ein bodenloser Brunnen.
Sie sind voller Bedeutung für diejenigen, die bereit sind, inne zu halten und über
sie nachzudenken.
Und sie versuchen, meinen Geist in neue Richtungen zu lenken und neue Ideen zu entdecken.
Ganz genau.
Und es gibt sogar noch ein weiteres Werkzeug, das biblische Dichter haben, um genau das
zu tun.
Und das ist es, was wir uns im nächsten Video anschauen werden.