tagesthemen 06.10.2021, 22:15 Uhr - Grüne und FDP kündigen gemeinsame Sondierungsgespräche mit der SPD an, Forderungen
Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den tagesthemen.
Diese Sendung wurde vom NDR live untertitelt (06.10.2021)
Heute im Studio: Aline Abboud
Guten Abend.
Wenn die Signale weiter richtig gestellt werden,
könnten wir demnächst auf Bundesebene eine Premiere erleben.
Ab morgen sollen die Proben dafür beginnen.
Das Stück heißt "Eine Ampel regiert die Bundesrepublik".
Geschrieben von SPD, Grünen und FDP.
Im Moment spricht nichts dagegen, dass die Aufführung klappen könnte.
Grüne und FDP haben heute getrennt voneinander erklärt,
sie wollten in Gespräche mit den Sozialdemokraten gehen.
Sie halten sich aber die Option einer Koalition mit der Union offen.
Das klang mehr nach Alibi-Satz,
um die SPD bei den Verhandlungen bei Bedarf unter Druck zu setzen.
Bevor ich gleich mit FDP-Chef Christian Lindner spreche,
berichtet Christian Feld über den Tag des Vorentscheids.
Es ist der Tag, an dem zwei Parteien eine Entscheidung treffen,
eine Vorentscheidung.
Die nächsten Sondierungsschritte gehen sie mit der SPD.
Heute Morgen, kurz vor zehn im Reichstagsgebäude:
Die Grünen haben zum Statement eingeladen.
Zuvor hatten die Gremien getagt, geräuschlos.
Nichts war herausgedrungen. Die Parteivorsitzenden geben bekannt:
Mit SPD und FDP seien die größten Schnittmengen denkbar.
Denkbar heißt aber ausdrücklich,
dass der Keks noch lange nicht gegessen ist.
Es gibt erhebliche offene Stellen und auch Differenzen.
Das wissen wir.
Das betrifft sowohl Grüne und FDP, aber auch Grüne und SPD.
Viele Dinge sind noch nicht durchdiskutiert.
Die FDP-Gremien tagen noch, als die Grünen-Spitze betont:
Wir haben den Liberalen vorgeschlagen,
in Dreier-Gespräche mit der SPD zu gehen.
Ob die FDP schon geantwortet hat, wissen wir nicht,
weil wir unsere Handys gerade nicht bei uns tragen.
Aber das ist ein Vorschlag, eine Einladung von unserer Seite.
So konstruktiv die Gespräche der letzten Tagen gelaufen sind,
glaube ich auch, dass wir gemeinsam die nächsten Schritte gehen können.
Sind die Grünen einfach vorgeprescht, um die FDP unter Druck zu setzen?
Die schlichte Antwort - wohl Nein.
Auch wenn Christian Lindner über Absprachen mit den Grünen
nichts Genaues sagen will:
Sein Statement klingt fein abgestimmt.
Die Liberalen nehmen das Grünen-Angebot an ...
..., um Gemeinsamkeiten zu prüfen, die das Land nach vorne bringen.
Ich habe Herrn Scholz in Abstimmung mit den Grünen angeboten,
dass wir morgen zu einem Gespräch zu dritt zusammenkommen.
Das wird auch passieren.
Ab morgen sitzen drei Sondierungspartner am Tisch.
Auftritt Olaf Scholz, plus SPD-Parteivorsitzende.
Der mögliche Ampel-Kanzler spricht von Modernisierung und vom Auftrag,
eine Regierung zu bilden.
Eine Regierung, die sich darum bemüht,
die wirtschaftliche und industrielle Modernisierung in Angriff zu nehmen.
Die dafür sorgt,
dass der menschengemachte Klimawandel aufgehalten wird.
Es bleibt ein kurzer Auftritt. Nachfragen nicht vorgesehen.
Und Jamaika? Wird nicht parallel sondiert.
Ist aber noch nicht ganz vom Tisch.
Wir haben gesehen, dass die Union sich wirklich bemüht hat.
Sie ist uns auch weit und sortiert entgegengekommen.
Dennoch gibt es eine größere Differenz
in einem Jamaika-Bündnis unsererseits.
Der Weg ins Kanzleramt ist kein Selbstläufer.
Doch Grüne, FDP und SPD wollen es probieren.
Ich freue mich, dass uns FDP-Chef Christian Lindner zugeschaltet ist.
Guten Abend.
Einen schönen guten Abend auch Ihnen.
Sind Sie eigentlich schon mal über eine rote Ampel gefahren?
Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen.
Aber jetzt geht es nicht um den Straßenverkehr,
sondern darum, dass wir eine stabile Regierung brauchen.
Unser Land darf nicht
in einen perspektiv- und führungslosen Drift geraten.
Da andere gegenwärtig nicht in der Lage sind
zur Stabilität beizutragen, muss die FDP Verantwortung übernehmen.
CSU-Chef Söder hat ihre Aussage heute morgen
als Absage für Jamaika gewertet.
Man wolle nicht mehr auf die FDP warten.
Ist der Zug nach Jamaika abgefahren?
Ich bedauere die Aussage von Markus Söder -
er steht übrigens im Gegensatz zu Armin Laschet.
Für die FDP ist klar,
die inhaltlichen Überschneidungen mit der Union sind die größten.
Jamaika ist für uns unverändert eine tragfähige Option.
Aber die Öffentlichkeit verfolgt die Diskussion innerhalb der Union
über Regierungswille und Geschlossenheit.
Deswegen haben wir den Vorschlag der Grünen angenommen,
zunächst mit der SPD zu schauen, ob Gemeinsamkeiten gefunden werden.
Sie haben in den letzten Tagen
sehr eng und vertrauensvoll mit den Grünen zusammengearbeitet.
Jetzt aber treffen sie auf die SPD,
mit denen die Grünen viel mehr Gemeinsamkeiten haben.
Haben Sie so viel Vertrauen, dass die Grünen Ihnen
in den Verhandlungen auch mal zur Seite springen?
Wir bilden ein fortschrittsfreundliches Zentrum.
Grüne und FDP sind gleichermaßen von den Jung- und Erstwählern
beauftragt worden, das Land zu erneuern.
Union und SPD stehen eher für den Status Quo.
Dennoch ist klar:
Inhaltliche Unterschiede zwischen SPD und Grünen auf der einen
und FDP auf der anderen Seite sind größer.
Wir haben aber bereits vor der Wahl gesagt:
Die FDP tritt nur in eine Regierung ein,
wenn es eine Politik der Mitte ist.
Darauf darf sich die bürgerliche Mitte weiter verlassen.
Welche Koalition auch zustande kommt:
Die FDP wird dafür sorgen,
dass Deutschland nicht nach links rückt.
Sondern nach vorne geht.
Sie haben immer wieder betont:
"Mit der Union sind wir uns am nächsten."
Was hat Sie so genervt,
dass Sie CDU/CSU erst mal links liegen lassen?
Die Indiskretion der CDU oder die Querelen der CSU?
Ich möchte andere Parteien nicht beurteilen.
Ich bin der Auffassung,
dass wir in einer herausfordernden Situation sind.
Alle demokratischen Parteien sollten gesprächsbereit bleiben,
das sage ich ausdrücklich der CSU, aber auch der CDU.
Wir sondieren mit SPD und Grünen, ob es Gemeinsamkeiten gibt.
Die FDP steht nicht für jede Politik zur Verfügung.
Wir wollen den Wert der Freiheit stärken.
Wir wollen, dass Deutschland eine digitalisierte, klimaneutrale
Technologie-Nation wird.
Wir wollen wirtschaftliches Vorankommen
und sozialen Aufstieg erleichtern.
Wir stehen nicht für einen Kurs zu Verfügung, aus der Mitte raus,
sondern wir wollen Fortschritt organisieren.
Sie haben auch Gemeinsamkeiten mit Grünen und SPD.
Aber Ihr Generalsekretär Wissing hat zwei rote Linien gezogen:
Mit der FDP gibt's keine Steuererhöhung
und keine Aufweichung der Schuldenbremse.
Glauben Sie, dass Sie das durchhalten werden?
Das hat nicht nur mein Generalsekretär gesagt,
das haben wir vor der Wahl den Menschen zugesagt.
Auch in unserem Wahlaufruf eine Woche vor der Wahl.
Wir haben keine Koalitionsaussage zugunsten anderer Parteien gemacht.
Im Gegenteil:
CDU und CSU haben teils gegen die FDP Wahlkampf gemacht.
Aber wir haben eine Aussage in der Sache gemacht:
Politik der Mitte, Wert der Freiheit stärken.
Keine Aufweichung der Schuldenbremse des Grundgesetzes
und keine Erhöhung der Steuerlast.
Es würde den wirtschaftlichen Erholungsprozess
nach der Pandemie belasten.
Was machen Sie denn,
wenn Rot und Grün die Steuern erhöhen wollen?
Ich werde mit Ihnen keine Sondierungsgespräche vorwegnehmen.
Ich lade Sie herzlich ein,
später eine Koalition an dem zu messen, was sie vorlegt.
Eine zukünftige Regierung muss ohnehin eins leisten:
Es wird auf jeden Fall eine Koalition sein,
die über politische Grenzen hinweggeht.
Deswegen muss sie größer sein als die Summer ihrer Teile.
Auch die Interessen und Werte derer, die die Parteien einer Koalition
nicht gewählt haben, müssen Berücksichtigung finden.
Zusammen mit den Grünen haben Sie
die meisten Stimmen bei den Jungen geholt.
Die SPD dafür eher bei den Älteren.
Wird das am Ende eher Sie gegen Rot-Grün
oder die FDP und Grün gegen die SPD: Jung gegen Alt?
Ich bin generell der Meinung ...
Auch die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen CDU und FDP in NRW,
die Koalition habe ich vor vier Jahren verhandeln dürfen ...
Ich bin der Meinung, dass Koalitionen und Regierungen nicht
dadurch geprägt sein dürfen, dass die Teile gegeneinander kämpfen.
Es geht darum, Gemeinsamkeiten zu entwickeln
und im Interesse der Bürger*innen gemeinschaftlich Politik zu machen.
Vielen Dank. Ich danke Ihnen.
Das Gespräch haben wir aufgezeichnet.
Die FDP ist mitverantwortlich,
dass vor allem die CDU weiter heruntergedimmt wurde.
Noch mehr, als sie nach dem katastrophalen Wahlergebnis
ohnehin schon im Schatten stand.
Was nun?
Stimmen werden laut, die CDU müsse sich personell erneuern,
während Laschet noch auf eine Regierung mit Grünen und FDP hofft.
Über eine Union in der Defensive:
Die Ampel zerstört seine Hoffnungen, doch noch zu regieren.
Ausgeschlossen ist nichts, doch der Weg zur Macht scheint verbaut.
Problem Nummer 1 - die kleine Schwester.
CSU-Chef Söder nutzt die Entscheidung der FDP als Steilvorlage,
Jamaika nahezu totzureden.
Wir haben eine Vorentscheidung und Klarheit durch FDP und Grüne.
Beide setzen auf die Ampel, mit dem klaren Hinweis,
dass keine Parallelgespräche stattfinden.
Damit ist es jetzt entschieden.
Das bedeutet keine Hängepartie mehr, die Ampel ist klare Nummer 1.
Mit jedem Söder-Satz schwinden Laschets Chancen,
Parteivorsitzender zu bleiben.
Jamaika rückt in weite Ferne. Das spüren auch Laschets Kritiker.
Problem Nummer 2 - die eigenen Leute.
Peter Altmaier kommt als Erster aus der Deckung:
Soeben habe der Ampel-Zug den Bahnhof verlassen, twittert er.
"CDU und CSU sind Beobachter.
Wir müssen jetzt zeigen,
dass wir die Lektion vom 26.9. verstanden haben."
Ähnlich sieht man es in Niedersachsen.
Wir müssen uns ehrlich machen.
Wir haben die Wahl deutlich verloren.
Der Druck in der Bevölkerung ist groß nach Veränderung.
Wir müssen uns überlegen, wie wir uns neu aufstellen.
Dann sind da noch die Nachrücker.
Die jüngeren in der Partei fordern einen Generationenwechsel.
Mehr Mitsprache der Basis bei Personalentscheidungen
und ein ehrliches Scherbengericht über das Wahldebakel.
Hat Laschet nicht gesehen oder nicht sehen wollen,
dass seine Macht schwindet?
Problem Nummer 3 - der CDU-Chef selbst.
Laschet verliert Rückhalt in der Partei.
Wohl auch deshalb will er weiter verhandeln.
Die Entscheidung, mit wem man in welcher Reihenfolge spricht,
liegt bei FDP und Grünen.
Deshalb unser Respekt für die Entscheidung.
Wir stehen bereit als Gesprächspartner, CDU und CSU.
Nur wenige springen ihm noch bei.
Die Kanzlerin gehört an diesem Tag nicht zu Laschets Kritikern.
Armin Laschet hat deutlich gemacht,
dass die CDU für Gespräche zur Verfügung steht.
Aber die CDU hat nicht das beste Stimmergebnis.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der CDU-Chef ist mit der Entscheidung,
die Ampel zu sondieren, weiter in die Defensive gerückt.
Laschets Verhandlungsspielräume sind kleiner geworden.
Kirsten Girschick im ARD-Hauptstadtstudio,
was bedeutet dieser Tag für Armin Laschet?
Für ihn bedeutet das, dass seine Chancen,
Kanzler einer Jamaika-Koalition zu werden, schwinden.
FDP und Grüne haben signalisiert, man könne sprechen,
wenn eine Ampel nicht zustande kommt.
Bisher schützt ihn, dass seine Gegner
sich ein Stück weit gegenseitig neutralisieren.
Sie haben nicht genug Rückhalt in der Partei,
um aus einer Revolte als Sieger vorzugehen.
Warum hat der CSU-Chef heute Jamaika so brachial abgeräumt?
Wer hat da im Moment welches Motiv?
Markus Söder sieht als CSU- Chef die Dinge
aus einer bayerischen Perspektive.
Da könnte es nützlich sein, wenn Laschet scheitert.
Er könnte aus Bayern heraus den Oppositionsführer geben.
Die CDU zerlegt sich ein Stück weit.
Sie muss sich erst in der Opposition zurechtfinden.
Eingekeilt zwischen der AfD und den Linken.
Die CDU muss in den nächsten Wahlkämpfen
Wahlkampf gegen alle potenziellen Koalitionspartner machen.
Und der CDU steht ein Richtungsstreit bevor.
Die CDU muss sich beantworten, ob sie konservativ werden will,
oder ob sie konservativ und jünger werden will,
oder links mittig-grün?
Gehen wir an die Außengrenzen der EU:
Seit Jahren versuchen Flüchtlinge über Bosnien und Herzegowina
nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen.
Es gab immer wieder Berichte über illegale Abschiebungen aus Kroatien,
sogenannte Pushbacks.
Bislang haben die Behörden alle Vorwürfe zurückgewiesen,
dass kroatische Polizisten an der Grenze Gewalt anwenden.
Nun gelang es dem ARD Studio Wien,
erstmals die Brutalität bei einer illegalen Abschiebung zu filmen.
An der äußersten Nordwestgrenze Bosnien und Herzegowinas.
Ein normaler Arbeitstag für die kroatische Polizei
an der Grenze zu Bosnien und Herzegowina.
Ein Polizeibus fährt vor.
15 Menschen müssen aussteigen,
Polizisten weisen ihnen den Weg zurück nach Bosnien.
Eine illegale Abschiebung.
Dabei gibt es oft Gewalt.
Wir wollen das dokumentieren, liegen monatelang auf der Lauer.
Dann im Juni: Schreie von kroatischer Seite.
Maskierte Männer in Uniform tauchen auf.
Mit Schlagstöcken prügeln sie Menschen
aus der Europäischen Union.
"Geh nach Bosnien!",
ruft der Maskierte den Männern hinterher.
Ist es die kroatische Polizei, wie Flüchtende seit Jahren berichten?
Die Geschlagenen laufen direkt auf uns zu.
Sie stammen aus Pakistan und Afghanistan.
Ein Team von Ärzte ohne Grenzen behandelt die Verletzten.
Einige der Verletzungen passen zu den Aussagen der Patienten,
sie seien mit einem Polizeiknüppel geschlagen worden.
Die Blutergüsse zeigen,
dass ein langes dünnes Objekt benutzt wurde.
Die maskierten Männer tragen keine Abzeichen,
aber Ausrüstung der kroatischen Interventionspolizei.
Das bestätigen unsere Recherchen
und sieben aktive und ehemalige Polizisten.
Zeljko Cvrtila spricht vor der Kamera.
Er war 22 Jahre Polizist,
zuletzt Leiter der Internen Ermittlung und Vize-Polizeichef.
Für ihn logisch: Hier prügeln Polizisten.
Ich sehe kein Motiv, warum jemand
in dieses Gebiet vordringen und Migranten abschieben.
Und dort wird alles gut überwacht - technisch und physisch.
Es ist schwer zu glauben, dass eine andere Gruppe
dort aktiv sein könnte - außer offiziellen Polizeikräften.
Dass kroatische Interventionspolizei an Pushbacks beteiligt ist,
zeigen auch unsere Aufnahmen vom Mai 2020.
Brisant: Mehrere Quellen geben an,
die Befehle für die Pushbacks kämen aus dem Innenministerium in Zagreb.
Von dort heißt es zu dem Video:
Man werde ein Expertenteam an den Ort entsenden.
Sollte nach Abschluss der Untersuchung festgestellt werden,
dass es sich um Polizeibeamte gehandelt hat:
Dann werden wir unseren Vorschriften entsprechend handeln,
um die Verantwortung beteiligter Polizeibeamter festzustellen.
Unterdessen werden Menschen weiter illegal aus Kroatien abgeschoben.
Sie werden weiter versuchen, in die EU zu gelangen.
Eine andere Perspektive sehen sie derzeit nicht.
Mehr zum Thema morgen in Monitor um 21.45 Uhr.
Vom Leiter des Politikmagazins, Georg Restle, kommt heute
die Meinung zu den Attacken der kroatischen Polizei.
Diese Bilder lassen einem den Atem stocken.
Menschen, die aus der EU geprügelt werden,
von Polizeibeamten eines EU-Mitgliedstaats.
"Schutz der EU-Außengrenze" nennt sich das.
Dafür gibt es Geld aus Brüssel und Berlin -
und Lippenbekenntnisse:
Das hohe Lied von Menschenrechten und europäischen Werten.
Ich kann es nicht mehr hören.
Europa lässt politisch Verfolgte in Afghanistan im Stich,
Menschen im Mittelmeer ertrinken.
Flüchtende in Griechenland vegetieren.
Prügelt sie mit Schlagstöcken aus der EU.
Die politisch Verantwortlichen sollten sich schämen
angesichts dieser enthemmten Inhumanität.
Der systematischen Menschenrechtsverstöße,
der Abkehr von allem, was Europa ausmachen sollte.
Aber sie tun so, als würde das alles nicht geschehen.
"Wir sind eine europäische Familie, wir teilen die gleichen Werte",
sagte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen heute.
Ausgerechnet auf dem Westbalkan-Gipfel der EU.
Welche Werte sind da gemeint?
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit,
das Rechtsstaatsprinzip, die Menschenwürde?
Die elementaren Menschenrechte:
Nicht nur in den Wäldern Kroatiens
werden sie Menschen aus dem Leib geprügelt.
Ein junger Flüchtling aus Afghanistan
sagte zu uns einen Satz, der uns alle schmerzen sollte:
"Europa predigt Menschenrechte und ist besorgt darüber,
was die Taliban den Menschen in Afghanistan antun.
Aber wo sind diese Menschenrechte hier in Europa?"
Das würde man gerne wissen.
Auch von denen, die sich in Deutschland gerade aufmachen,
eine neue Regierung zu bilden.
Die Meinung von Georg Restle.
Auf Deutschland könnten in den kommenden Monaten
mehr Corona-Fälle zukommen - verbunden mit einer Grippewelle:
Mehr dazu in den Nachrichten mit Susanne Daubner.
Angesichts eines solchen Szenarios haben Gesundheitsminister Spahn
und RKI-Chef Wieler die Menschen zur Grippe-Impfung aufgerufen.
Nach den Worten von Spahn kam die Grippe vergangene Saison
Lockdown-bedingt praktisch nicht vor.
Deshalb sei das Risiko umso höher.
Wieler warnte vor einer massiven Belastung von Kliniken,
falls diese zu viele Grippe- und Covid-Fälle behandeln müssten.
Die Wiener Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Kanzler Kurz.
Unter anderem wegen des Verdachts der Bestechung.
Kurz und Mitarbeiter sollen sich mit Steuermitteln
eine positive Berichterstattung erkauft haben.
In diesem Zusammenhang gab es Durchsuchungen.
Auch in der Zentrale der Regierungspartei ÖVP
und im Wiener Kanzleramt.
Die Westbalkan-Länder können sich keine Hoffnungen
auf einen schnellen EU-Beitritt machen.
Bei einem Treffen in Slowenien:
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder
lehnten ein konkretes Datum für eine Aufnahme ab.
Kanzlerin Merkel warnte davor,
dass ein solches Datum Europa unter Druck setzen würde.
Grundsätzlich habe die EU ein, so Merkel wörtlich:
"Immenses geostrategisches Interesse",
die betreffenden Länder aufzunehmen.
Konkret geht es um Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Kosovo
und Bosnien-Herzegowina.
Bundespräsident Steinmeier erinnerte in der Ukraine
an die NS-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg.
Er besuchte eine Gedenkstätte in Korjukiwka.
Innerhalb von zwei Tagen
waren dort rund 6700 Menschen getötet worden.
Was hier passiert sei, übersteige die Vorstellungskraft,
so Steinmeier.
Am Abend gedachte er mit den Präsidenten Israels und der Ukraine
auch der Opfer des Massakers von Babyn Jar vor 80 Jahren.
Ein mutmaßlich judenfeindlicher Vorfall in einem Leipziger Hotel
sorgt für Diskussionen.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Klein,
sprach sich dafür aus, im Alltag Solidarität zu zeigen.
Der betroffene Musiker Gil Ofarim äußerte sich enttäuscht,
dass er keine Entschuldigung des Hotels erhalten habe.
Polizei und Staatsanwaltschaft bemühen sich um Aufklärung.
Demonstration gegen Antisemitismus - vor dem Leipziger Hotel Westin.
Hier wollte der Musiker Gil Ofarim am Montag einchecken.
Erst habe man ihn lange warten lassen, berichtet er.
Dann sei er von zwei Mitarbeitern aufgefordert worden,
seine Kette mit dem Davidstern abzulegen.
Dann sagt er, wenn ich den jetzt einpacke,
darf ich einchecken.
Auf den Antisemitismus-Vorwurf reagierte das Hotel:
Der Zentralrat der Juden in Deutschland
verweist auf die Unschuldsvermutung.
Aber auch auf wachsenden Antisemitismus.
Offen antisemitische Vorgänge nehmen zu.
Gerade dieser Fall ist für mich noch unverständlicher,
da sich das Hotel in Nachbarschaft der Synagoge in Leipzig befindet.
Ein beschuldigter Hotelmitarbeiter
erstatte Anzeige gegen Ofarim wegen Verleumdung.
Wie der Vorfall genau ablief, will die Polizei
mithilfe von Zeugen und Überwachungsvideos klären.
Die deutsche Industrie hat im August
einen Auftragseinbruch zu verzeichnen.
Die Bestellungen im Monatsvergleich sind um 7,7 % zurückgegangen.
Dazu Stefan Wolff aus der Frankfurter Börse.
Der Export war bisher Motor der wirtschaftlichen Erholung
nach der Corona-Krise.
Jetzt ließen die Bestellungen vor allem aus Nicht-EU-Staaten,
deutlich nach - vermehrt aus Asien und Amerika.
Zwei Branchen sind besonders betroffen.
Ein Grund für die Flaute ist der Materialmangel,
der treibt die Preise.
Es fehlt an fast allem: Bauholz, Rohstoffen, Computerchips.
Viele Unternehmen haben die Produktion heruntergefahren
oder planen den Schritt, wenn bestehende Aufträge fertig sind.
Es ist die Woche der Nobelpreise:
Gestern für den Physiker und Klimaforscher Klaus Hasselmann.
Heute durfte sich wieder ein Deutscher,
der Chemiker Benjamin List, über die Auszeichnung freuen.
Zusammen mit seinem US-Kollegen David MacMillan.
Die beiden Preisträger entwickelten ein geniales Werkzeug
für den Aufbau von chemischen Molekülen:
Die Organokatalyse.
Sie werde für die Erforschung neuer Arzneimittel eingesetzt.
Das mache die Produktion günstiger und habe
dazu beigetragen, die Chemie umweltfreundlicher zu machen.
Und wenn Sie sich fragen: Organokatalyse - was?
Da geht's Ihnen wie vielen.
Michael Heussen hat sich den Preisträger und seine Forschung
genauer angeschaut.
Der größte Tag in einem Forscherleben.
Benjamin List genießt den Jubel
vor seinem Max-Planck-Institut in Mülheim an der Ruhr.
Heute: der Nabel der Welt in der Wissenschaft.
Erreicht hat ihn die Nachricht im Urlaub in Amsterdam.
Wir saßen beim Frühstück, dann klingelte das Telefon:
Auf dem Display steht: Schweden.
Meine Frau guckt mich an: "Das ist der Anruf."
Ich so: "Right." Das war nur ein Scherz.
Er schaffte sogar, den Moment als Selfie festzuhalten.
Fast gleichzeitig in Stockholm:
Die Königliche Akademie gibt die Namen von List
und dem Schotten David MacMilian, bekannt.
Beide haben unabhängig voneinander zur Katalyse geforscht.
Die Entdeckung initiierte eine neue Art
bei der Entwicklung von chemischen Molekülen.
Sie wird häufig bei der Entwicklung von Medikamenten eingesetzt.
Katalysatoren sind Stoffe, die chemische Reaktionen steuern,
ohne Teil des Endprodukts zu werden.
Wie etwa in Autos, wo Katalysatoren giftige Stoffe in Abgasen
in harmlose Moleküle verwandeln können.
List entdeckte, dass dies nicht nur mit metallischen,
oft schädlichen, Substanzen funktioniert.
Sondern auch mit ungefährlichen organischen Elementen.
Katalysatoren sind extrem wichtig als Technologie.
Für die Herstellung
von Medikamenten, Farbstoffen, Riechstoffen, Plastik, Benzin:
Jemand hat mal ausgerechnet:
Etwa ein Drittel unseres Weltbruttosozialprodukts
wird durch Katalysatoren erwirtschaftet.
List ist nicht der Erste aus der Familie,
der einen Nobelpreis bekommt.
Es scheint in den Genen zu liegen?
Meine Tante ist Genetikerin, die würde das wohl sagen.
Wer weiß schon, wo das herkommt.
Die Tante hat 1995 den Nobelpreis für Medizin bekommen.
Ihren Neffen, damals Doktorand,
nahm sie mit zur Verleihung nach Stockholm.
Der war begeistert.
Hat sich das angeguckt und gesagt: "Krieg ich auch mal."
Ob List sich für die Einladung der Tante nach Stockholm
revanchieren kann, weiß er nicht.
Niemand kann sagen, wie viele Gäste zugelassen sind.
In Mülheim spielt das heute keine Rolle.
Gefeiert wird mit Pizza und Champagner.
Es sind die, die im Ersten Weltkrieg verloren haben.
Nicht nur als Soldaten,
die meisten von ihnen auch gleich große Teile ihres weiteren Lebens.
Zu Hause erwartet sie wieder Hunger und Elend.
Dazu ein vom Kaiserreich zur Republik gewandeltes Land.
Genau das erzählt der ungewöhnliche Geschichts-Thriller Hinterland.
Aber auch von neuen alten Aufgaben
und von starken Frauen im Wien der Nachkriegszeit.
Der Film des österreichischen Oscar-Preisträgers Stefan Ruzowitzky
sieht aus wie eine Mischung aus Babylon Berlin und Sin City.
Klaus Lesche hat ihn gesehen.
Zwei Jahre waren sie in Kriegsgefangenschaft,
nun kehren Perg und seine Truppe nach Wien zurück.
Das Österreich, für das sie kämpften,
existiert nicht mehr.
Rot-Weiß-Rot, Republik Österreich.
Kaiser gibt's nicht mehr.
Perg war vor dem Krieg Inspektor.
Er wird in Wien bald wieder gebraucht.
Ein Serienmörder mordet dort mit System.
Eine Episode aus dem Krieg spielt dabei eine wichtige Rolle.
Und auch die Zahl 19.
Er schnitt ihm 19 Glieder ab,
Reiner wurde von 19 Holzpflöcken durchbohrt.
Ich wette, dass in dem Käfig 19 Ratten waren.
Mit fantastisch expressionistischer Optik
zeichnet Hinterland ein dunkles Wien kurz nach dem Ersten Weltkrieg.
Die Farben sind gedämpft, schräge Häuserfassaden
symbolisieren eine Gesellschaft, die aus der Balance geraten ist.
Gerichtsmedizinerin Dr. Körner sieht auch Chancen,
die die neue Zeit bietet.
Ich bin ein Kriegsprofiteur.
Unter normalen Umständen hätten sie
mich verschimmeln lassen im gerichtsmedizinischen Archiv.
Sie wollen Zeit?
Wenn Sie sich bemühen, werden Sie viel Gutes finden.
Freiheit, Gerechtigkeit, Veränderung.
Perg tut sich schwer damit.
In seinem Kopf hat er das Schlachtfeld
noch nicht verlassen.
Begriffe wie Ehre, Treue, Vaterland sind für ihn keine hohlen Formeln.
Der Krieg hält Perg in seinem Bann.
Genau da habe ich mich erstmals daheim gefühlt.
Theresa Körner aber bringt ihn zum Nachdenken.
Sie ist hier die Lichtgestalt,
erkennbar an der leuchtenden Kleidung.
Hinterland fasziniert als Reise in eine Zeit,
die jeden zum Kriegsversehrten macht.
Eine Zeit, in der die Umrisse der nächsten Katastrophe sichtbar werden.
Hinterland - ab morgen bei uns in den Kinos.
Nun ist Karsten so freundlich,
uns einen Blick aufs Wetter von morgen zu geben.
Zuerst werfe ich einen Blick auf den Zusammenhang:
Klimawandel und Extremwetter.
Ich habe ein Beispiel aus Italien.
Da gab es vor zwei Tagen Starkregen.
Diese Zahl muss man einordnen.
Diese Menge fällt in Hamburg in einem ganzen Jahr.
Und heute kam eine neue Studie
zu Naturkatastrophen und Extremwetter in den USA heraus.
Hier werden nur Naturkatastrophen betrachtet,
die einen Schaden von mehr als einer Milliarde Dollar verursacht haben.
Hier sind die Tage aufgetragen, die den mittleren Abstand
zweier aufeinanderfolgender Extremwetterereignisse zeigen.
Die Zahl von Naturkatastrophen nimmt zu.
Jetzt zu unserem Herbstwetter.
In der Nacht noch einige Wolken im Westen.
Die ziehen nach Süden weiter.
In Bayern ist morgen die stärkste Bewölkung.
Im Westen kommt häufiger die Sonne durch.
Wir bekommen ruhiges, sonniges Herbstwetter.
Danke.
Das war es von uns.
Hier geht's weiter mit Sandra Maischberger und Gästen.
Um 0.05 Uhr meldet sich Michail Paweletz im nachtmagazin.
Morgen sehen wir uns hier wieder. Bis dahin.
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