Siebtes Kapitel - Der Fall des Hauses Desprez - 02
Die Flüchtlinge trafen sich, wie durch gemeinsamen Instinkt geleitet, in der Laube. Eine Sekunde lang brach sich der Mond durch die Wolken Bahn und enthüllte vier aneinandergedrängte Gestalten in bunt durcheinandergewürfelten, flatternden und stark mangelhaften Verkleidungen. Bei diesem demütigenden Schauspiel raffte Anastasie ihr Nachthemd verzweifelt zusammen und brach in geräuschvolles Weinen aus. Der Doktor flog, sie zu trösten, aber sie schob ihn weg. In jedem einzelnen vermutete sie Zuschauer von draußen und glaubte die Dunkelheit voll von spähenden Augen.
Ein zweiter Strahl und ein weiterer heftiger Windstoß; man sah das Haus in allen Fugen schwanken, und gerade als das Licht erlosch, verkündete ein Krachen, das das Brüllen des Windes übertönte, seinen Fall. Im nächsten Augenblick schwirrte der ganze Garten von fliegenden Dachpfannen und Mauerziegeln. Ein derartiges Wurfgeschoß berührte im Vorbeisausen des Doktors Ohr; ein zweites fiel Aline auf den Fuß, die sogleich die Nacht mit dem Grausen ihrer Schreie erfüllte.
Inzwischen war das Dorf munter geworden, Lichter blitzten in den Fenstern auf, Zurufe drangen zu den vieren vor, und der Doktor versuchte sie, heldenmütig gegen Aline und das Unwetter ankämpfend, zu beantworten. Allein die Aussicht, Hilfe zu bekommen, rüttelte Anastasie zu aktiverem Schrecken wach.
»Henri, es werden Leute kommen,« schrie sie ihrem Gatten ins Ohr.
»Ich hoffe es,« war die Antwort.
»Das geht nicht. Lieber sterbe ich,« jammerte sie.
»Liebes Kind,« sagte der Doktor tadelnd, »du bist aufgeregt. Ich habe dir doch Kleider gegeben. Was hast du denn mit ihnen gemacht?«
»Ach, ich weiß es doch nicht, – ich muß sie weggeworfen haben. Wo sind sie nur?« schluchzte sie.
Desprez tappte in der Dunkelheit herum. »Ausgezeichnet!« bemerkte er; »meine grauen Manchesterhosen! Gerade das, was du brauchst.«
»Gib sie her,« schrie sie krampfhaft; aber sobald sie sie in der Hand hielt, schien sie wie umgewechselt – einen Augenblick stand sie stumm da, und dann drängte sie dem Doktor das Kleidungsstück wieder auf. »Gib sie Aline,« sagte sie, – »armes Mädchen.«
»Unsinn,« sagte der Doktor. »Aline weiß ja gar nicht, wie ihr geschieht. Sie hat vor Schrecken den Verstand verloren. Außerdem ist sie nur ein Bauernmädel. Nebenbei bin ich ernstlich besorgt über eine der artige Exponierung einer Person mit so haushockerischen Angewohnheiten, wie du es bist. Meine Besorgnis und deine phantastische Schamhaftigkeit deuten beide auf das gleiche Gegenmittel – die Pantalons.« Und er hielt sie ihr hin.
»Es ist unmöglich. Du verstehst mich nicht,« sagte sie würdevoll.
Mittlerweile war Hilfe herangenaht. Es hatte sich als unmöglich herausgestellt, von der Straße her einzudringen, da das Tor mit Mauerwerk verschüttet war, und die Regenhuschen drohten, weitere Lawinen loszulösen. Aber zwischen dem Garten des Doktors und dem Nachbarsgarten zur Rechten gab es jene überaus malerische Vorrichtung – einen Gemeindebrunnen. Die Tür nach der Desprezschen Seite hin war zufällig unverriegelt gewesen und jetzt tauchten in der gewölbten Öffnung das bärtige Gesicht eines Mannes und ein Arm auf, der mit einer Laterne in die stürmische Welt der Dunkelheit hineinleuchtete, in der Anastasie ihre Leiden verbarg. Das Licht fiel hier und dort auf die unruhigen Apfelbaumzweige und schimmerte auf dem Grase; allein die Laterne wurde Anastasie zum Mittelpunkt der Welt. Sie fuhr vor dem Eindringling zurück. »Hierher,« schrie der Mann. »Seid ihr alle in Sicherheit?«
Aline rannte noch immer schreiend auf den Neuankömmling zu und wurde mit dem Kopfe voran durch die Maueröffnung gezerrt.
»Jetzt ist die Reihe an dir, vorwärts, Anastasie,« sagte deren Gatte.
»Ich kann nicht,« erwiderte sie.
»Sollen wir hier vielleicht alle an Erkältung sterben, Madame?« donnerte sie Doktor Desprez an.
»Du kannst ja gehen!« rief sie. »So geh doch, geh doch! Ich kann hier bleiben; mir ist ganz warm.«
Mit einem Fluch packte sie der Doktor bei den Schultern. »Halt!« schrie sie. »Ich werde sie anziehen.«
Sie nahm die verhaßten Dinger zum zweitenmal in die Hand, aber ihr Widerwillen war stärker als ihre Scham. »Niemals!« rief sie schaudernd und warf sie im weiten Bogen in die Nacht hinaus.
Im nächsten Moment hatte der Doktor sie dem Brunnen zugeschleudert. Der Mann mit der Laterne stand immer noch da. Anastasie schloß die Augen, und es war ihr, als ob sie sterben müsse. Wie sie durch den Bogen hindurchgehoben wurde, wußte sie nicht; sowie sie jedoch auf der anderen Seite angekommen war, wurde sie von der Nachbarsfrau in Empfang genommen und in freundliche Tücher gehüllt.
Betten wurden für die beiden Frauen zurechtgemacht, Kleidungsstücke jeder Größe für den Doktor und Jean-Marie, und den Rest der Nacht, während Madame halb wachend, halb schlafend in den Regionen hart an der Grenze der Hysterie weilte, saß ihr Gatte neben dem Feuer und hielt den bewundernden Nachbarn Vorträge. Er zeigte ihnen des langen und breiten die Ursachen des Unglücks. Seit Jahren, erklärte er, sei der Zusammensturz zu befürchten gewesen. Ein Zeichen wäre dem anderen gefolgt. Die Fugen hätten sich erweitert, der Wandbewurf wäre abgeblättert, die alten Mauern hatten sich nach innen gebogen. Schließlich, vor noch nicht drei Wochen, wäre die Kellertür kaum noch auf- und zugegangen. »Der Keller!« meinte er, bedenklich über einem Glase angewärmten Weines den Kopf schüttelnd. »Das erinnert mich an meine armen Weine. Dank einer freundlichen Vorsehung war der Hermitage beinahe zu Ende. Eine Flasche – eine einzige Flasche dieses unvergleichlichen Weines ist mir verloren gegangen. Ich hatte sie für Jean-Maries Hochzeit aufgehoben. Nun, ich werde mir neuen hinlegen müssen; das wird meinem Leben noch Interesse verleihen. Ich bin jedoch in den Jahren schon etwas vorgerückt. Mein großes Werk liegt nun unter den Trümmern meines schlichten Heims begraben; es wird niemals vollendet werden – mein Name wird in den Sand geschrieben sein. Dennoch sehen Sie mich ruhig – ja fast heiter. Können Ihre Priester mehr?«