Kapitel 9. Effis Rückkehr
Am übernächsten Tag kam wie versprochen ein Brief. Effi las: „Es freut mich, liebe gnädige Frau, dass ich Ihnen gute Nachricht geben kann. Alles ging gut. Ihr Herr Ehemann kann nicht nein sagen, wenn eine Dame ihn um etwas bittet. Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass er zwar ja sagte, aber dass man gut sah, dass er es eigentlich keine gute Idee findet. Aber freuen wir uns einfach. Ihre Annie wird über Mittag kommen. Alles Gute!“
In zwei Stunden würde also Annie kommen! Eine kurze Zeit, aber immer noch zu lang. Effi ging unruhig durch die beiden Zimmer und in die Küche, wo sie mit Roswitha von allem möglichen sprach. Nur von Annie sprach sie nicht, weil sie ein bisschen Angst davor hatte, an das Treffen zu denken. Endlich wurde geklingelt. Roswitha öffnete die Tür. Richtig, es war Annie. Roswitha gab dem Kind einen Kuss und führte sie zum Zimmer.
„Da geh hinein, Annie“, sagte sie und ging in die Küche zurück, um nicht zu stören.
Effi stand am anderen Ende des Zimmers, als das Kind eintrat. „Annie!“
Aber Annie blieb verlegen an der Tür stehen. So eilte Effi auf das Kind zu, hob es hoch und küsste es.
„Annie, mein süßes Kind, wie freue ich mich. Komm, erzähl mir“, sagte sie dann und nahm Annie bei der Hand. „Weißt du wohl, Annie, dass ich dich einmal gesehen habe?“
„Ja, mir war es auch so.“
„Und nun erzähle mir. Wie groß du geworden bist! Wie geht es in der Schule? Ich denke mir, du bist immer die beste, du siehst mir so aus. Worin bist du denn am besten?“
„In der Religion.“
„Das ist sehr schön; ich war nicht so gut darin, aber daran war wohl auch der Lehrer schuld. Und was macht Johanna?“
„Johanna hat mich bis vor das Haus begleitet …“
„Und warum hast du sie nicht mit heraufgebracht?“
„Sie sagte, sie wolle lieber unten bleiben. Ich möchte sie aber nicht gerne warten lassen.“
„Ach, ich sehe, du bist sehr rücksichtsvoll, und darüber werde ich mich wohl freuen müssen. Und nun sage mir noch, was macht Rollo?“
„Rollo geht es sehr gut. Aber er ist so faul und liegt immer in der Sonne.“
„Das glaube ich. So war er schon, als du noch ganz klein warst … Annie, wirst du mich wieder besuchen?“
„O gewiss, wenn ich darf.“
„Wir könnten dann im Park spazieren gehen.“
„O gewiss, wenn ich darf.“
„Oder wir gehen Eis essen.“
„O gewiss, wenn ich darf.“
Und bei diesem dritten „wenn ich darf“ hatte Effi genug. Sie sprang auf und sah Annie böse an. „Ich glaube, es ist Zeit Annie, Johanna wird sonst ungeduldig.“
Sie rief Roswitha uns sagte: „Begleite Annie nach unten. Johanna wartet da. Grüße Johanna.“
Und nun gingen beide.
Kaum waren sie draußen, öffnete Effi ihr Kleid, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie begann krampf haft zu lachen. „So also sieht ein Wiedersehen aus. O, du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan habe; ich war ein Kind … Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich habe es auch gewusst, ich will meine Schuld nicht kleiner machen, aber das ist zu viel. Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, dass er ein gutes Herz hat, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. ‚O gewiss, wenn ich darf.' Das hat das Kind von ihm gelernt, er war ja schon immer ein Erzieher. Du brauchst nicht zu dürfen, ich will euch nicht mehr. Was zu viel ist, ist zu viel. Ehre, Ehre, Ehre … und dann hat er den armen Crampas totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Und nun schickt er mir das Kind, weil ihn die Ministerin darum gebeten hat, und vorher bringt er ihm wie einem Papagei bei ‚Wenn ich darf ‘.“
Als Roswitha zurückkam, lag Effi am Boden. Rummschüttel wurde gerufen. Er war besorgt, als er Effi sah und schrieb einen Brief nach Hohen-Cremmen: „Gnädigste Frau! Verzeihen Sie mir diesen Brief. Ihre Frau Tochter wird immer kränker. Sie ist zu einsam, sie braucht andere Luft und andere Menschen. Aber wohin? Es darf nur Hohen-Cremmen sein. Verzeihen Sie einem alten Mann, dass er sich in fremde Dinge einmischt … Ich habe so viel vom Leben gesehen … Ergebenst, Ihr Doktor Rummschüttel.“
Frau von Briest las den Brief ihrem Mann vor. Sie saßen draußen im Garten. „Was meinst du?“
„Ach, Luise. Du weißt, wie ich darüber denke. Damals, als Innstettens Brief kam, war ich deiner Meinung. Aber das ist schon so lange her … Soll ich hier bis an mein Lebensende den Großinquisitor spielen? Ich kann dir sagen, darauf habe ich seit langem keine Lust mehr …“
„Mach mir keine Vorwürfe, Briest; ich liebe sie so wie du, vielleicht noch mehr, jeder hat seine Art. Aber man kann doch nicht immer schwach und lieb sein und alles verzeihen, wenn sich jemand schuldig macht.“
„Ach was. Eins ist wichtiger. Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn man bloß ein Kind hat … Ich werde ganz einfach telegrafieren: ‚Effi, komm.' Bist du einverstanden?“
Sie stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Natürlich bin ich's. Aber unser Leben wird sich ändern.“
„Das macht nichts. Der Rotwein wird mir noch schmecken. Und wenn ich das Kind erst wieder im Haus habe, dann schmeckt er mir noch besser …“
Effi war nun schon über ein halbes Jahr wieder in Hohen-Cremmen. Wie Rummschüttel vorausgesagt hatte, ging es ihr dort besser. Es kamen Tage, wo sie wieder lachen konnte. Von Kessin und allem, was passiert war, wurde wenig gesprochen. Aber so schön und friedlich das alles war, Effis Krankheit ging weiter.
Lesen und vor allem das Malen hatte Effi ganz aufgegeben. Sie verbrachte oft den ganzen Tag draußen an der frischen Luft. Während der kalten Tage im Mai erkältete sie sich aber heftig: Sie bekam Fieber und Husten. Der Doktor, der sonst jeden dritten Tag kam, kam jetzt täglich.
„Doktor“, sagte der alte Briest, „was wird aus der Geschichte? Sie kennen sie ja von klein auf. Mir gefällt das alles nicht; die roten Flecken und der Glanz in den Augen, wenn sie mich so fragend ansieht. Was meinen Sie? Muss sie sterben?“
Der Arzt sagte: „Das will ich nicht sagen, Herr von Briest. Dass sie Fieber hat, gefällt mir nicht. Aber es wird schon wieder besser werden.“
Das war wirklich so. Als sich Effi endlich erholt hatte, machte sie wieder ihre langen, einsamen Spaziergänge.
„Du gehst immer so allein“, sagte Frau von Briest. „Unter unseren Leuten bist du sicher, aber es kommen auch so viele Fremde vorbei.“
Effi hatte nie an Gefahr gedacht, und als sie mit Roswitha allein war, sagte sie: „Dich kann ich nicht gut mitnehmen, Roswitha; du bist zu dick und nicht mehr fest auf den Füßen.“
„Nun, gnädige Frau, so schlimm ist es doch noch nicht. Ich könnte ja doch noch heiraten.“
„Natürlich“, lachte Effi. „Das kann man immer noch. Aber weißt du, Roswitha, wenn ich einen Hund hätte … Ich muss jetzt oft an Rollo denken.“
Es war drei, vier Tage nach diesem Gespräch, als Innstetten eine Stunde früher in sein Arbeitszimmer trat als sonst. Johanna brachte ihm die Zeitungen und zwei Briefe. Einer war vom Minister. Aber der andere? Weil Innstetten ein guter Beamte war, öffnete er zuerst den Brief des Ministers. „Mein lieber Innstetten! Ich freue mich, Ihnen schreiben zu können, dass Sie zum Ministerialdirektor ernannt worden sind, und gratuliere Ihnen dazu.“ Innstetten freute sich über den freundlichen Brief des Ministers, fast mehr als über die Ernennung selbst. Denn seit dem Morgen in Kessin, als Crampas mit einem Blick, den er immer vor Augen hatte, Abschied von ihm genommen hatte, war ihm seine Karriere nicht mehr so wichtig.
Er nahm nun den zweiten Brief und las: „Gnädiger Herr! Sie sind wohl überrascht, dass ich Ihnen schreibe, aber es ist wegen Rollo. Annie hat uns schon letztes Jahr gesagt, Rollo sei jetzt so faul. Aber das macht nichts, er kann hier so faul sein, wie er will, je fauler, desto besser. Und die gnädige Frau möchte ihn doch so gern. Sie sagt immer, wenn sie spazieren geht: ‚Ich habe eigentlich Angst, Roswitha, weil ich da so allein bin, aber wer soll mich begleiten? Schade, dass Rollo nicht da ist.' Das sind die Worte der gnädigen Frau, und weiter will ich nichts sagen, grüßen sie meine Annie und Johanna. Roswitha Gellenhagen.“
Diese einfachen Worte mit dem gewollten oder vielleicht auch nicht gewollten Vorwurf erinnerten Innstetten wieder an die ganze Geschichte. ,Wenn ich nur aus dieser Geschichte heraus könnte … Nichts gefällt mir mehr, je mehr man mich lobt, desto mehr fühle ich, dass dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht. Es gibt ein Glück und ich habe es gehabt, aber jetzt habe ich es nicht mehr und kann es nicht mehr haben. Ich müsste meine Karriere vergessen und besser Lehrer werden, das würde ja zu mir passen. Aber es geht auch nicht. Wie soll man andere erziehen, wenn man selber jemanden getötet hat?‘
Der Mai war schön, der Juni noch schöner. Effi war voller Freude, Rollo wieder bei sich zu haben. Rollo war den ganzen Tag bei Effi, und nachts schlief er vor ihrer Tür.
„Wie schön dieser Sommer! Dass ich noch so glücklich sein könnte, liebe Mama, vor einem Jahr hätte ich es nicht gedacht“, sagte Effi jeden Tag.
„Werde nur erst wieder gesund, Effi, ganz gesund. Das Glück kommt dann wieder. Nicht das alte, aber ein neues. Du wirst sehen.“
So verging der Sommer. Effi saß abends bis nach Mitternacht am Fenster und sah in den Himmel. Von der kühlen Nachtluft wurde sie wieder krank. Als der Arzt sie gesehen hatte, sagte er zu Briest: „Das wird nicht mehr gut.“
Wenige Tage später kam Roswitha abends nach unten und sagte zu Frau von Briest: „Gnädigste Frau, Effi geht es sehr schlecht. Sie spricht immer so still vor sich hin. Vielleicht stirbt sie bald.“
„Will sie mit mir sprechen?“
„Sie hat es nicht gesagt. Aber ich glaube, sie möchte es.“
Frau von Briest trat bei Effi ein. Sie lag auf einem Sofa neben dem Fenster. Frau von Briest setzte sich daneben und nahm Effis Hand. „Wie geht es dir, Effi ? Roswitha sagt, du seist so fiebrig.“
„Ach, Roswitha glaubt, dass ich sterbe. Nun, ich weiß es nicht. Aber man muss ja davor nicht so große Angst haben wie sie.“
„Bist du so ruhig?“
„Ganz ruhig, Mama.“
„Bist du sicher? Alle lieben das Leben, und du bist noch so jung, liebe Effi.“
„Ja, ich bin noch jung, aber das macht nichts. Ich sterbe mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm.“
„Warst du denn böse auf ihn? Verzeihe mir, meine liebe Effi, dass ich das jetzt noch sage, aber eigentlich warst du doch schuld an allem?“
Effi nickte. „Ja, Mama. Und traurig, dass es so ist. Aber als dann all das Schreckliche kam, und zuletzt das mit Annie, da wurde ich böse auf ihn. Aber jetzt ist mir klar geworden, dass er alles richtig gemacht hat. Lass ihn das wissen.“
Frau von Briest sah, dass Effi schlief oder schlafen wollte. Sie stand leise auf und ging. Doch kaum war sie fort, stand auch Effi auf und setzte sich an das offene Fenster. Im Park war alles still. Plötzlich fühlte sie sich befreit. „Ruhe, Ruhe.“
Es war einen Monat später, der September war fast zu Ende. Das Wetter war schön, aber die Bäume wurden schon rot und gelb. Im Garten lag seit gestern eine weiße Marmorplatte. Darauf stand „Effi Briest“ und darunter war ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen: „Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wieder haben.“ Und es war ihr versprochen worden.
Ja, gestern war die Marmorplatte gekommen. Nun saßen Briest und seine Frau im Garten.
„Sieh, Briest, Rollo liegt wieder vor dem Stein. Er ist ja trauriger als wir. Er frisst auch nicht mehr.“ Nach einer Weile sagte sie: „Ich kann dir sagen, es vergeht kein Tag, seit das arme Kind da liegt, wo ich mir nicht Fragen stelle …“
„Was für Fragen?“
„Ob nicht wir vielleicht schuld sind?“
„Unsinn, Luise. Wie meinst du das?“
„Ob wir sie nicht anders hätten erziehen müssen. Und ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?“
Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin und her, und Briest sagte ruhig: „Ach, Luise, lass … das ist eine zu schwierige Frage.“