GERMANIA | Idil Baydar
Ich bin oft sehr wütend,
dass ich ständig hier den Kanaken spielen muss.
Jetzt nicht mehr, weil jetzt ist er bezahlt,
der Kanake, jetzt macht's Spaß.
Aber davor war es wirklich schwierig, weil du immer das Gefühl hattest,
du bist nicht zugehörig.
Ich gehöre nicht dazu, obwohl ich hier geboren bin.
*Titelmelodie*
Mein Name ist Idil Nuna Baydar, ich bin 42 und geboren bin ich in Celle,
bin dann mit 15 nach Berlin gezogen, mit meiner Mutter.
Also meine Mutter mit mir, sagen wir es so. Ja.
Ja, wir sind Berlin 36 - Kreuzberg.
Als ich hierhergekommen bin, war es eigentlich der perfekte Ort,
deswegen, weil es genau meine Identität war.
Auf der einen Seite links, radikal, ich bin auch Waldorf-Schüler,
mit "Ton, Steine und Scherben" und mit Bethanien
Und auf der anderen Seite eben Kopftuch und Döner.
Und das ist genau das, was ich auch bin.
Also genau diese Mischung bin ich auch geworden.
Und deshalb habe ich mich in Kreuzberg eigentlich immer
am wohlsten gefühlt.
Kreuzberg ist ein Ort, wo du das Gefühl hast,
du gehst vor die Tür und jederzeit kann irgendein Abenteuer passieren.
Ja, meine Mutter kam Anfang der Siebziger nach Deutschland.
Als Gastarbeiterin.
Aber wenn ich sie frage: "Würdest du dich als Gastarbeiterin bezeichnen?",
sagt sie: "Nee, ich bin ein Kulturflüchtling".
Ich denke, in der Türkei hätte sie sich nicht so entwickeln können,
wie sie es hier konnte.
Hier hatte sie 'ne Art von Freiheit, die zu ihrem Bewusstsein gepasst hat.
Als Kind war das nicht so präsent,
dass ich das deutsch-türkische Kind bin.
Aber je älter ich wurde und je eher ich einen Platz
in der Gesellschaft beansprucht hatte, ne, das ist,
als ob dir ein Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird,
und dieser Platz in der Gesellschaft war eben die Türkin.
Und das war für mich total absurd.
Weil in meiner persönlichen Geschichte das türkisch sein
nicht eine so große Priorität hatte.
Ich hab später eben erfahren, wie schön es eigentlich ist...
Heute gibt es Situationen, wo ich sage:
"Ey, Gott sei Dank bin ich keine Kartoffel".
Gibt es, Tatsache.
Und dann gibt's wieder Situationen, da ist es genau umgekehrt.
Dann freue ich mich darüber... Es ist so Almanya halt.
Läuft bei mir!
Also ich hab das Glück, dass ich das eben beides leben darf.
Aber sobald ich im Kontext einer Gesellschaft stehe, ist es schwierig.
Weil ich eben nicht mehr in meiner Deutungshoheit bin.
Meine Mutter sagt oft: "Ich verstehe deine Wut nicht.
Ich bin hier nach Deutschland gekommen, ich war wie ein Vogel
mit gebrochenem Flügel.
Und ich konnte hier in diesem Land heilen.
Ich verstehe dein Problem nicht".
Und dann sage ich: "Du bist migriert, ich nicht".
Auf Jilet bin ich gekommen, Jilet ist für mich irgendwie echt Therapie.
Jilet sagt: "Okay, ihr wollt den Kanaken, ihr kriegt den Kanaken".
Weil es gibt ja eine Idil in dieser Jilet.
Und diese Idil ist nicht relevant. Relevant ist Jilet.
Womit ich nicht gerechnet habe, war,
dass dann wirklich 1,5 Mio. oder 1,3 Mio.Klicks
innerhalb von einer unglaublich kurzen Zeitspanne kamen.
Dass ich damit einen totalen Nerv getroffen hatte,
das war überhaupt nicht bewusst beabsichtigt.
Und ich hab nicht das Gefühl, dass Jilet Ayse schadet,
ganz im Gegenteil. Ich glaube, sie erfüllt eine ganz wichtige Funktion.
Und zwar die Funktion, dass wir uns näher kommen, darüber dass wir
uns ehrlich sagen, was der Standpunkt des anderen ist.
Deshalb glaube ich, dass Jilet Ayse absolut wichtig ist für Deutschland.
Weil sie diese Hoffnung in die Herzen trägt, von der Bühne aus.
Und das Tolle an der Bühne ist, ich hab das Mikro, d.h.,
ich hab die Deutungshoheit.
*Titelmusik*
Untertitel: ARD Text im Auftrag von Funk (2017)