Wirecard-Skandal: Die Wahrheit über den Absturz I frontal
Er ist eine der meistgesuchten Personen Europas. Jan Marsalek, 40 Jahre alt, geboren in Wien.
Letzter Job: Vorstand bei Wirecard. Seine Flucht ist der vorläufige Höhepunkt
eines Finanzwirtschafts-Krimis. Es geht um verschwundene Milliarden, Lobbyismus im Kanzleramt,
russische Geheimdienste und Bespitzelung von Journalisten.
– Sie überwachten uns, sie versuchten uns zu hacken, nicht nur mehrere meiner Kollegen
bei der 'Financial Times', sondern auch Investoren, Shortseller, Researcher.
Es ist eine Geschichte, wie ein deutsches Unternehmen Aktionäre, die Bundesfinanzaufsicht,
Wirtschaftsprüfer und die Politik jahrelang täuschte. Und obwohl es schon früh Fragen
zum Geschäftsmodell gab, keiner richtig hinschaute.
– Die BaFin war da blauäugig. Sie ist der
Wirecard AG da völlig auf den Leim gegangen.
18. Juni 2020, früher Vormittag. Jan Marsalek, Vertriebsvorstand von Wirecard, verlässt den Firmensitz. Ihm wurde soeben fristlos gekündigt.
10.43 Uhr lässt Wirecard die Bombe platzen: 1,9 Milliarden Euro fehlen in der Bilanz.
Marsalek lässt sich zum Flughafen Frankfurt fahren. Eine abenteuerliche Flucht beginnt.
Während er flieht, werden die ersten Wirecard-Manager festgenommen.
– Insgesamt sind es die Tatvorwürfe des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, der Untreue,
der unrichtigen Darstellung, der Marktmanipulation in mehreren Fällen. In Wirklichkeit war den
Beschuldigten spätestens seit Ende 2015 klar, dass der Wirecard-Konzern mit den tatsächlichen
Geschäften insgesamt Verluste erzielte.
Wahrscheinlich habt ihr bis vor kurzem noch
nie etwas von Wirecard gehört. Wirecard hat sich auf bargeldlose Zahlungssysteme
spezialisiert. Das heißt, sie wickeln das Geschäft zwischen dem Kunden, der mit Kredit-
oder EC-Karte zahlt, und dem Händler ab. Viel springt bei so einer Transaktion nicht
raus. Erst eine hohe Anzahl von Transaktionen macht das Geschäft rentabel. Und bei diesen
Zahlen soll Wirecard jahrelang manipuliert haben.
Das ständige Wachstum der Firma lockt millionenschwere Geldgeber an, die am Erfolg mitkassieren wollen.
Vorstandsvorsitzender Markus Braun und Vertriebsvorstand Jan Marsalek wissen anscheinend was diese
Investoren hören wollen und sammeln Milliarden ein.
Um sich Gehör auf höchster politischer Ebene zu verschaffen, verhilft ihnen ein umtriebiger
Ex-Bundesminister und nun Lobbyist: Karl Theodor zu Guttenberg. Er wirbt für das betrügerische
Unternehmen bei der Bundeskanzlerin.
– Da haben sich für mich auch nochmal neue
Abgründe aufgetan. Uns wurde gesagt vom Bundeskanzleramt,
dass Herr zu Guttenberg einen Termin bekommen
hat als Ex- Minister und Freund der Kanzlerin. Und dann war er aber offensichtlich komplett
als Berater, als Lobbyist tätig gegenüber der Bundeskanzlerin. Und er war ja sehr erfolgreich:
Innerhalb von 24 Stunden stand die Wirecard AG, die vorher nicht auf der Liste der Bundeskanzlerin
stand, auf der Liste, die dann die Bundeskanzlerin gegenüber China formuliert hat.
Das geschieht auf Merkels Chinareise 2019. Ein Jahr zuvor ist Wirecard in den DAX aufgestiegen
und gehört nun zu den wertvollsten deutschen Unternehmen an der Börse. Zeitweise ist Wirecard
wertvoller als die Deutsche Bank. Der Aktienkurs beträgt damals 190 Euro.
Solche Zahlen locken viele Groß- und Kleinaktionäre an. Die verlassen sich auch auf die Ergebnisse
der Wirtschaftsprüfer EY. Deren Aufgabe ist es seit 2009 die Bilanzen von Wirecard zu
überprüfen. Und die sollen immer tadellos gewesen sein.
Auch Reinhard Frisse sieht in Wirecard eine sichere Anlage. 2015 kauft der Apotheker für
5000 Euro Wirecard-Aktien.
– Zur damaligen Zeit haben wir das erste
wireless EC-Cash- Gerät bekommen, und das hat mich auf die Idee gebracht, weil eben
die Nachfrage nach diesen Geräten und nach diesen Bezahlmöglichkeiten steigt, auch hier
bei uns in der Apotheke immer mehr gestiegen ist – dass ich gesagt habe, das ist eigentlich
Zukunftstechnologie. Und wenn ich da drin investiere, dann verliere ich mein Geld eben
nicht. Das Ergebnis war: alles weg.
Einer der früh an den Zahlen zweifelt ist
Dan McCrum, Autor bei der Financial Times. 2015 äußert er in einem Artikel erste Zweifel
an der Erfolgsgeschichte Wirecard. Die Geschäfte undurchsichtig, das Unternehmen
weniger profitabel als dargestellt, womöglich alles ein gigantischer Betrug - so seine Einschätzung.
Weitere Artikel folgen und die Reaktion von Wirecard mehr als filmreif:
– Sie haben einige sehr aggressive Anwälte eingesetzt, daran sind wir gewöhnt. Aber
sie überwachten uns, sie versuchten uns zu hacken, nicht nur mehrere meiner Kollegen
bei der 'Financial Times', sondern auch Investoren, Shortseller, Researcher. Sie alle wurden überwacht.
Wir berichteten über eine große Überwachungsoperation in London im letzten Jahr, bei der Finanzfachleute
verfolgt und fotografiert wurden. Die Financial Times vermutet, dass Marsalek,
der Kontakte zu Geheimdiensten in Russland haben soll, diese Aktionen gesteuert hat.
Und der Plan hat Erfolg. Die Berichterstattung der Zeitung wird in Frage gestellt. Vor allem
in Deutschland. Anfang 2019 dann neue Vorwürfe, wieder von
der "Financial Times": Wirecard sei in Geldwäsche verwickelt und manipuliere seine Bücher.
Der Großteil der asiatischen Partner wären erfunden.
– Als wir über die Probleme in der Asien-Zentrale von Wirecard berichteten, drehte die Firma
den Spieß um: Wirecard beschuldigte uns, wir würden unsere eigene Geschichte vor der
Veröffentlichung durchstechen, damit irgendjemand von fallenden Aktienkursen profitiert. Das
war natürlich völlig haltlos. Doch es gelang Wirecard, den Ruf der 'Financial Times' zu
untergraben.
Und wieder scheinen Wirecards Methoden erfolgreich.
Unglaublicher Höhepunkt: Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz BaFIN
erstattet im April 2019 Strafanzeige gegen Dan McCrum wegen angeblicher Marktmanipulation.
Um die Vorwürfe der Bilanzfälschung zu entkräften, beauftragt Wirecard im Oktober 2019, KPMG
die Buchhaltung gesondert zu überprüfen. Im Juni 2020 platzt dann die Bombe. 1,9 Milliarden
Euro, die auf philippinischen Konten liegen sollen, existieren nur auf dem Papier. Das
Wirecard-Haus bricht zusammen und muss Insolvenz beantragen.
Aktienkurs nun: 90 Cent.
Mittlerweile hat die BaFin die Anzeige gegen die Financial Times zurückgezogen. Und im
Bundestag fordert die Opposition einen Untersuchungsausschuss zum Fall Wirecard. Vor dem sich dann auch
BaFin-Chef Felix Hufeld wohl stellen müsste.
– Bestenfalls kann man sagen, die BaFin war da blauäugig. Sie ist der Wirecard AG
da völlig auf den Leim gegangen. Aber das ist nicht die Rolle der Aufsicht. Die Rolle
der Aufsicht ist es, Marktmanipulationen festzustellen und dann in alle Richtungen zu ermitteln.
Und hier hatte die BaFin ganz offenbar einen blinden Fleck in Richtung Wirecard AG selber.
Während Wirecard-Vorstandsvorsitzender Markus Braun in Untersuchungshaft sitzt, ist sein
Partner in Crime, Jan Marsalek weiterhin auf der Flucht. Eine erste Spur auf die Philippinen
erweist sich als falsch. Die Rechercheplattform "Bellingcat" hat Marsaleks
Weg rekonstruiert: Demnach fliegt er am 18.Juni 14.35 Uhr mit
der Linienmaschine LH 882 - von Frankfurt nach Tallinn in Estland. Kurz zuvor, 13.16
Uhr, startet ein Privatjet vom Typ Embraer aus der österreichischen Stadt Klagenfurt
ebenfalls nach Tallinn. Von Tallinn aus fliegt die gecharterte Embraer um 17.10 Uhr nach
Minsk, in die Hauptstadt von Belarus. Dass er tatsächlich in Minsk ist, verrät
Marsalek Ende Juni selbst. In einem Chat mit einem Vertrauten wird er gefragt, ob es dort,
wo er gerade ist, politisch stabil sei. Marsalek antwortet am 29. Juni:
– Ja, sind immer noch dieselben Leute am Ruder wie vor 25 Jahren.
In Europa gibt es nur ein Land, in dem ein Präsident solange im Amt ist: Belarus - unter
Alexander Lukaschenko. Wer könnte Marsalek bei seiner Flucht geholfen
haben? Uns wird ein Dossier des russischen Geheimdienstes - FSB - zugespielt.
Danach ist der flüchtige Banker im Besitz von 9 verschiedenen Pässen, darunter der
Pass eines Staatenlosen und ein Diplomatenpass. Marsalek war offenbar interessant für den
FSB: Der Geheimdienst hat 60 Reisen des Österreichers nach Russland dokumentiert.
Mehrere Quellen behaupten nun, er halte sich in der Nähe von Moskau auf. Die Suche geht
also weiter - nach dem Banker auf der Flucht und der Verantwortung für die verschwundenen
Milliarden. Tragen BaFin und Bundesregierung Mitschuld
an dem Skandal? Was meint ihr? Schreibt es uns in die Kommentare.