11. Ein Spion schleicht ins Hotel
Elftes Kapitel - Ein Spion schleicht ins Hotel
Die Zeit verging langsam. Emil besuchte die drei Vorposten und wollte einen von ihnen ablösen. Aber Krummbiegel und die beiden Mittenzwey sagten, sie blieben. Dann wagte sich Emil, sehr vorsichtig, bis ans Hotel Kreid, informierte sich und kehrte, ziemlich aufgeregt, in den Hof zurück. "Ich habe das Gefühl", sagte er, "es müßte was geschehen. Wir können doch nicht die ganze Nacht das Hotel ohne Spion lassen! Krummbiegel steht zwar an der Ecke Kleiststraße. Aber er braucht nur den Kopf wegzudrehen, und schon kann Grundeis flöten gehn." "Du hast gut reden, Mensch", entgegnete Gustav. "Wir können doch nicht einfach zu dem Portier laufen und sagen: "Hörnse mal, wir sind so frei und setzen uns auf die Treppe." Und du selber kannst schon gar nicht in das Haus. Wenn der Halunke aus seiner Tür guckt und dich erkennt, war der ganze Zauber bis jetzt umsonst." "So meine ich's auch nicht", antwortete Emil. "Sondern?" fragte der Professor. "In dem Hotel gibt's doch einen Jungen. Der den Fahrstuhl bedient und derartige Sachen. Wenn nun wer von uns zu ihm ginge und erzählte, was los ist, na, der kennt doch das Hotel wie seine Westentasche und weiß bestimmt einen guten Rat." "Gut", sagte der Professor, "sehr gut, sogar!" Er hatte eine komische Angewohnheit. Es war stets, als verteile er an die andern Zensuren. Deshalb hieß er ja auch der Professor. "Dieser Emil! Noch so einen Tip, und wir machen dich zum Ehrendoktor. Schlau wie ein Berliner!" rief Gustav. "Bilde dir bloß nicht ein, nur ihr seid schlau!" Emil wurde empfindlich. Er fühlte sich in seinem Neustädter Patriotismus verwundet. "Wir müssen überhaupt noch miteinander boxen." "Warum denn?" fragte der Professor. "Ach, er hat meinen guten Anzug schwer beleidigt." "Der Boxkampf findet morgen statt", entschied der Professor, "morgen oder überhaupt nicht." "Er ist gar nicht so doof, der Anzug. Ich hab mich schon dran gewöhnt, Mensch", erklärte Gustav gutmütig. "Boxen können wir aber trotzdem. Ich mache dich aber darauf aufmerksam, daß ich der Champion der Landhausbande bin. Sieh dich vor!" "Und ich bin in der Schule der Meister fast aller Gewichtsklassen", behauptete Emil. "Schrecklich, ihr Muskelpietsche!" sagte der Professor. "Eigentlich wollte ich selber hinüber ins Hotel. Aber euch beide kann man ja keine Minute allein lassen. Sonst fangt ihr euch sofort zu hauen an." "Dann geh eben ich!" schlug Gustav vor. "Richtig!" sagte der Professor, "da gehst eben du! Und sprich mit dem Boy. Sei aber vorsichtig! Vielleicht läßt sich was machen. Stelle fest, in welchem Zimmer der Kerl wohnt. In einer Stunde kommst du wieder und erstattest Bericht." Gustav verschwand. Der Professor und Emil traten vors Tor und erzählten sich von ihren Lehrern. Dann erklärte der Professor dem ändern die verschiedenen in- und ausländischen Automarken, die vorbeifuhren, bis Emil ein bißchen Bescheid wußte. Und dann aßen sie gemeinsam eine Stulle. Es war schon dunkel geworden. Überall flammten Lichtreklamen auf. Die Hochbahn donnerte vorüber. Die Untergrundbahn dröhnte. Straßenbahnen und Autobusse, Autos und Fahrräder vollführten ein tolles Konzert. Im Cafe Woerz wurde Tanzmusik gespielt. Die Kinos, die am Nollendorfplatz liegen, begannen mit der letzten Vorstellung. Und viele Menschen drängten hinein. "So ein großer Baum, wie der da drüben am Bahnhof", meinte Emil, "kommt einem hier ganz ulkig vor. Nicht? Er sieht aus, als hätte er sich verlaufen." Der Junge war bezaubert und gerührt. Und er vergaß beinahe, wozu er hier stand und daß ihm hundertvierzig Mark fehlten. "Berlin ist natürlich großartig. Man denkt, man sitzt im Kino. Aber ich weiß nicht recht, ob ich immer hier leben möchte. In Neustadt haben wir den Obermarkt und den Niedermarkt und den Bahnhofsplatz. Und die Spielplätze am Fluß und im Amselpark. Das ist alles. Trotzdem, Professor, ich glaube, mir genügt's. Immer solcher Fastnachtsrummel, immer hunderttausend Straßen und Plätze? Da würde ich mich dauernd verlaufen. Überleg dir mal, wenn ich euch nicht hätte und stünde ganz alleine hier! Da krieg ich gleich 'ne Gänsehaut." "Man gewöhnt sich dran", sagte der Professor. "Ich hielte es wahrscheinlich wieder nicht in Neustadt aus, mit drei Plätzen und dem Amselpark." "Man gewöhnt sich dran", sagte Emil, "aber schön ist Berlin. Keine Frage, Professor. Wunderschön." "Ist deine Mutter eigentlich sehr streng?" fragte der Berliner Junge. "Meine Mutter?" fragte Emil, "aber keine Spur. Sie erlaubt mir alles. Aber ich tu's nicht. Verstehst du?" "Nein", erklärte der Professor offen, "das versteh ich nicht." "So? Also paß mal auf. Habt ihr viel Geld?" "Das weiß ich nicht. Wir sprechen zu Hause wenig drüber." "Ich glaube, wenn man zu Hause wenig über Geld spricht, hat man viel von der Sorte." Der Professor dachte einen Moment nach und sagte: "Das ist schon möglich." "Siehst du. Wir sprechen oft darüber, meine Mutter und ich. Wir haben eben wenig. Und sie muß fortwährend verdienen, und trotzdem reicht es an keiner Ecke. Aber wenn wir einen Klassenausflug machen, gibt mir meine Mutter genau so viel Geld mit, wie die anderen Jungen kriegen. Manchmal sogar noch mehr." "Wie kann sie das denn?" "Das weiß ich nicht. Aber sie kann's. Und da bring ich dann eben die Hälfte wieder mit." "Will sie das?" "Unsinn! Aber ich will's." "Aha!" sagte der Professor, "so ist das bei euch." "Jawohl. So ist das. Und wenn sie mir erlaubt, mit Prötzsch aus der ersten Etage bis neun Uhr abends in die Heide zu gehen, bin ich gegen sieben wieder zurück. Weil ich nicht will, daß sie allein in der Küche sitzt und Abendbrot ißt. Dabei verlangt sie unbedingt, daß ich mit den andern bleiben soll. Ich hab's ja auch versucht. Aber da macht mir das Vergnügen gar kein Vergnügen mehr. Und im Grunde freut sie sich ja doch, daß ich früh heimkomme." "Nee", sagte der Professor. "Das ist bei uns allerdings anders. Wenn ich wirklich zeitig nach Hause komme, kann ich wetten, sie sind im Theater oder eingeladen. Wir haben uns ja auch ganz gerne. Muß man schon sagen. Aber wir machen wenig Gebrauch davon." "Es ist eben das einzige, was wir uns leisten können! Deswegen bin ich noch lange kein Muttersöhnchen. Und wer das nicht glaubt, den schmeiße ich an die Wand. Es ist eigentlich ganz einfach zu verstehen." "Ich versteh es schon." Die zwei Knaben standen eine Zeitlang im Torbogen, ohne zu sprechen. Es wurde Nacht. Sterne glitzerten. Und der Mond schielte mit einem Auge über die Hochbahn weg. Der Professor räusperte sich und fragte, ohne den andern anzusehn: "Da habt ihr euch wohl sehr lieb?" "Kolossal", antwortete Emil.