6. Kapitel - 02
»Teure, geliebte Elisabeth,« rief ich aus, nachdem ich den Brief zu Ende gelesen, »ich werde sofort schreiben und dich von der Angst befreien, die du um mich hast.« Ich schrieb – allerdings nicht ohne bedeutende Anstrengung; aber meine Genesung hatte begonnen und machte rasche Fortschritte. Nach weiteren vierzehn Tagen durfte ich das erste Mal wieder mein Zimmer verlassen.
Das erste, was ich nach meiner Genesung tat, war, daß ich Clerval bei verschiedenen Professoren der Universität einführte. Daß dabei mehrere Wunden meiner Seele wieder aufbrachen, ist nicht zu verwundern. Seit jener Unglücksnacht, die das Ende meiner Mühen, aber auch den Anfang meines Elends bildete, hatte ich einen gewissen Widerwillen schon gegen das Wort Naturphilosophie. Wenn ich auch gesundheitlich vollkommen wiederhergestellt war, so war doch schon der Anblick eines der Chemie dienenden Instrumentes geeignet, von neuem nervöse Erschütterungen hervorzurufen. Henry hatte das gemerkt und deshalb alle Apparate wegräumen lassen. Er hatte auch dafür Sorge getragen, daß ich ein anderes Zimmer bezog, denn er empfand, daß ich ein Grauen vor dem Raume hatte, der mir bisher als Laboratorium gedient. Aber all die Vorsichtsmaßregeln halfen nicht, als wir unsere Besuche bei den Professoren machen mußten. Herr Waldmann verursachte mir Qualen, als er gütig und ehrlich die erstaunlichen Fortschritte pries, die ich in den Wissenschaften gemacht hatte. Er fühlte bald heraus, daß mir dieses Thema unangenehm war; da er aber meine inneren Beweggründe nicht wissen konnte, schrieb er meine Verlegenheit meiner Bescheidenheit zu und wechselte das Thema insofern, als er auf die Wissenschaft im allgemeinen überging, allerdings in der Absicht, mich herauszustreichen. Was sollte ich tun? Er meinte es gut, tat mir aber weh. Mir war es wie einem, dem man nach und nach all die Instrumente vorzeigt, mit denen er dann geschunden und hingerichtet werden soll. Ich erschauerte bei seinen Worten, konnte aber meine Pein nicht zeigen. Clerval, der sehr rasch die Gedanken und Gefühle anderer zu erraten verstand, lenkte dann das Gespräch ab, in dem er seine vollständige Unkenntnis dieser Dinge entschuldigend erwähnte. Ich dankte meinem treuen Freunde innerlich, durfte aber doch nicht diesem Gefühle mit Worten Ausdruck geben. Er war offenbar überrascht, versuchte aber niemals, mein Geheimnis zu erforschen. Und obschon ich ihn grenzenlos liebte und verehrte, brachte ich es doch nicht übers Herz, ihm das Ereignis anzuvertrauen, das immer in meiner Seele gegenwärtig war und das vielleicht auf einen andern einen noch tieferen Eindruck machen konnte als auf mich selbst.
Herr Krempe sprach in wesentlich anderer Weise, und in meiner empfindlichen, seelischen Verfassung taten mir seine rauhen, ungelenken Lobsprüche noch weher als die feinen, anerkennenden Worte Waldmanns. »Hol der Teufel den Jungen!« schrie er. »Ich versichere Ihnen, Herr Clerval, er hat uns alle ausgestochen. Ja, ja, schauen Sie nur; deswegen ist es doch wahr. Ein junger Dachs, der noch ein paar Jahre vorher an Cornelius Agrippa glaubte, wie an das Evangelium, ist nun uns allen an der ganzen Universität voran. Nun, nun,« fuhr er fort, als er den leidenden Ausdruck in meinem Gesichte bemerkt hatte, »ich weiß, Herr Frankenstein ist bescheiden, wie es sich für junge Leute besonders gut ziemt. Junge Leute dürfen sich noch nicht allzuviel zutrauen, wissen Sie, Herr Clerval. Auch ich war bescheiden, wie ich noch jung war; aber das wird ja dann später alles anders.«
Herr Krempe war damit auf ein Thema übergegangen, das mir nicht so unangenehm war, nämlich auf einen Lobhymnus seiner selbst.
Clerval hatte meine Neigung zu den Naturwissenschaften nie geteilt und auch seine Lektüre hatte sich immer wesentlich von der meinen unterschieden. Er hatte die Universität bezogen mit der festen Absicht, orientalische Philologie zu studieren und sich damit einen Lebensberuf zu schaffen. Das Persische, Arabische und Sanskrit waren seine Lieblingssprachen, und es war ihm ein Leichtes, mich zu veranlassen, daß auch ich diese Fächer belegte. Müßiggang war mir von jeher ein Greuel gewesen, und gerade jetzt, wo ich meine früheren Studien wieder zu hassen begann und alles zu vergessen wünschte, war es mir lieb, in meinem Freunde einen Arbeitsgenossen zu haben und in den geistigen Schätzen des Orients nicht nur Belehrung, sondern auch Ablenkung zu finden. Es war mir nicht, wie ihm, darum zu tun, mir genaue, detaillierte Kenntnisse zu erwerben, sondern ich wollte mich nur der Zerstreuung halber damit beschäftigen. Ich las nur um des Inhalts willen und meine Mühe machte sich reichlich belohnt; ihr Ernst ist sanft und ihre Freude erhebend, wie ich es in keiner anderen Literatur kennen lernte. Wo man diese orientalischen Schriften liest, meint man, das Leben fließe nur im linden Sonnenlichte und in berauschendem Rosenduft dahin. Wie verschieden sind dagegen die herben, heroischen Dichtungen der Griechen und Römer!
Der Sommer floß dahin und meine Rückkehr nach Genf wurde auf Ende Herbst festgesetzt. Durch verschiedene Zufälligkeiten kam es aber nicht dazu, und unterdessen brach der Winter herein, der mit Schnee und Eis die Straßen unbenutzbar machte, so daß ich meine Abreise auf den folgenden Frühling verschieben mußte. Dieser neue Aufschub fiel mir sehr schwer, denn ich sehnte mich danach, meine Heimat und meine Lieben zu sehen. Ich hatte meine Abreise auch deswegen verzögert, weil ich Henry nicht ganz allein in der fremden Stadt lassen, sondern ihn erst noch mit einigen Einwohnern derselben bekannt machen wollte. Wir verbrachten den Winter ganz vergnügt, und der Frühling, der ungewöhnlich spät einsetzte, entschädigte uns mit allen Mitteln für sein Säumen.
Schon war es Mai geworden und ich erwartete Tag für Tag den Brief aus der Heimat, der meine endgültige Abreise festlegen sollte. Henry schlug mir vor, mit ihm eine Fußtour in die Umgebung von Ingolstadt zu machen, damit ich mich von dem Landstriche, in dem ich einige Zeit gelebt, verabschieden könne. Ohne Zögern stimmte ich zu, denn ich war ein großer Freund körperlicher Übungen, außerdem war ja Clerval mein Genosse auf meinen Streifereien in der prächtigen Bergwelt meiner Heimat gewesen.
Vierzehn Tage blieben wir fort. An Geist und Körper hatte ich mich schon erholt und sog neue Kraft aus der reinen, heilsamen Luft, dem abwechselungsreichen Anblick der Natur und den Gesprächen meines Freundes. Das Studium hatte mich vordem vollkommen von meinen Mitgeschöpfen getrennt und mich einsam gemacht. Aber Clerval gelang es, wieder die besseren Gefühle meines Herzens die Oberhand gewinnen zu lassen; ich hatte wieder Freude an der Natur und an den unschuldigen Kindergesichtern. Ein edler Freund! Wie aufrichtig er mich liebte und sich bemühte, mich auf seine Höhe zu erheben! Selbstsucht hatte mich kleinlich und engherzig gemacht, aber sein Edelmut und seine Liebe öffneten mir das Herz. Ich wurde wieder dasselbe glückliche Geschöpf, das ich vorher gewesen, sorglos und froh. Da ich glücklich war, hatte auch die Natur die Macht, freudige Gefühle in mir zu erwecken. Heiterer Himmel und grünende Wiesen erfüllten mich mit Entzücken. Es war eine herrliche Zeit; die Frühlingsblüten zierten noch Baum und Strauch und die Blumen des Sommers brachen schon überall hervor. Die Gedanken, die mich im vergangenen Jahre so schwer bedrückt hatten, trotzdem ich mir alle Mühe gab, sie von mir zu werfen, waren von mir gewichen.
Henry war glücklich, als er mich so froh sah. Er war unerschöpflich an gedankenreicher Konversation, und oftmals erfand er nach Art der persischen und arabischen Märchendichter Geschichten von wunderbarer Schönheit und Glut. Zuweilen wiederholte er mir meine Lieblingsdichter oder begann mit mir Diskussionen, die er mit großer Beharrlichkeit durchfocht.
Sonntag Nachmittag kehrten wir in unsere Universitätsstadt zurück. Die Bauern tanzten und alle Welt schien glücklich und sorglos. Ich selbst war in köstlicher Laune, und voll unbändiger Heiterkeit und Fröhlichkeit wäre ich selbst am liebsten gesprungen.