Siebentes Kapitel - Die Stapletons von Merripit House - 04
Es war nur noch ein kurzer Weg bis zu dem nüchtern aussehenden echten Moorlandhaus, das früher der Gutshof eines wohlhabenden Viehzüchters war, sich jetzt aber im Innern zu einem modernen Wohnhaus gewandelt hatte. Ein Obstgarten umgab es, aber die Bäume wären verkümmert und verkrüppelt, und das Ganze machte einen ungemütlichen und melancholischen Eindruck. Der alte verschrumpfte Diener in schlechtsitzender Livree, der uns empfing, paßte zu seiner Umgebung.
Das Haus enthielt indessen geräumige Zimmer, die mit einer Eleganz eingerichtet waren, in der ich den Geschmack einer Dame zu erkennen glaubte. Ich warf durch das Fenster einen Blick auf das unendliche, mit Granitblöcken übersäte Moor, das sich ohne Unterbrechung bis zum fernen Horizont erstreckte, und ich mußte unwillkürlich bei mir denken: was kann denn nur einen feingebildeten Mann und ein schönes Mädchen veranlaßt haben, sich eine solche Gegend als Wohnort auszusuchen?
»Nicht wahr, ein sonderbarer Wohnsitz?« fragte er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Und trotzdem fühlen wir uns hier recht glücklich – was, Beryl?«
»Sehr glücklich,« erwiderte sie; aber ihre Worte klangen nicht eben überzeugend.
»Ich hatte eine Schule,« fuhr Stapleton fort; »da oben im Norden. Die mechanische Arbeit war für einen Mann meiner Veranlagung nicht gerade interessant, aber ich empfand es doch als ein großes Glück, täglich mit dem jungen Volk zu verkehren, die Knabenseelen zu formen und sie mit meinen eigenen Idealen zu erfüllen. Leider war das Schicksal uns feindlich gesinnt. Eine gefährliche Epidemie brach in der Schule aus, und drei von den Knaben starben. Von diesem Schlag vermochte die Anstalt sich nicht wieder zu erholen, und der größte Teil meines Kapitals war unwiederbringlich verloren. Der Verlust des prächtigen Verkehrs mit meinen Jungen war mir sehr schmerzlich; aber davon abgesehen möchte ich mich über mein Mißgeschick beinahe freuen, denn ich finde hier ein unbegrenztes Arbeitsfeld für mein großes Interesse an Botanik und Zoologie, und meine Schwester liebt die Natur ebenso wie ich. Diese lange Rede, Herr Doktor Watson, hat sich nun über Ihrem Haupt entladen, weil sie mit so nachdenklicher Miene auf das Moor hinaussahen.«
»Es ging mir allerdings durch den Sinn, es möchte hier wohl ein bißchen langweilig sein – weniger vielleicht für Sie, als für Ihre Schwester.«
»O nein, ich langweile mich niemals,« rief sie schnell.
»Wir haben unsere Bücher, unsere Studien, und wir haben interessante Nachbarn. Dr. Mortimer ist in seinem Fach ein sehr gelehrter Herr. Der arme Sir Charles war ebenfalls ein prächtiger Gesellschafter. Wir kannten ihn gut und vermissen ihn mehr, als ich Ihnen sagen kann. Glauben Sie, daß ich ungelegen käme, wenn ich schon heute nachmittag nach Baskerville Hall ginge und Sir Henrys Bekanntschaft machte?«
»Gewiß nicht; im Gegenteil, er wird sich sehr freuen.«
»Dann sind Sie vielleicht so gut, ihm zu sagen, daß ich die Absicht habe. Wir können vielleicht unseren kleinen Teil dazu beitragen, ihm die Eingewöhnung in der neuen Umgebung zu erleichtern. Wollen Sie mit nach oben kommen, Herr Doktor, und sich meine Schmetterlingssammlung ansehen? Ich glaube, sie ist die vollständigste im südwestlichen England. Bis Sie damit fertig sind, wird wohl das Essen bereit sein.«
Aber es trieb mich, wieder zu Sir Henry zu kommen. Die Melancholie der Moorlandschaft, der Tod des armen Pferdes, der geisterhafte Ton, der am hellen Mittag die grausige Sage von dem Höllenhund wieder heraufbeschworen hatte – dies alles gab meinen Gedanken eine düstere Richtung. Dann war zu diesen mehr oder weniger unbestimmten Eindrücken Fräulein Stapletons deutliche und gar nicht mißzuverstehende Warnung gekommen; sie hatte mit so eindringlichem Ernst gesprochen, daß es ohne Zweifel wichtige Gründe dazugab. Ich lehnte deshalb trotz allem Drängen die Einladung zum Frühstück ab und machte mich sofort auf den Rückweg.
Ich ging den grasbewachsenen Fußweg, auf dem wir gekommen waren; es mußte aber wohl noch einen kürzeren Weg geben, der den Eingeweihten bekannt war; denn bevor ich die Landstraße wieder erreicht hatte, sah ich zu meinem Erstaunen Fräulein Stapleton auf einem großen Stein neben dem Fußweg sitzen. Ihr Gesicht war von eiligem Lauf gerötet, wodurch sie übrigens noch schöner erschien, und sie hielt ihre Hand auf das Herz gepreßt.
»Ich bin den ganzen Weg gelaufen, um Sie zu überholen, Herr Doktor,« sagte sie. »Ich hatte nicht mal so viel Zeit, um mir meinen Hut aufzusetzen. Lange darf ich mich nicht aufhalten, sonst würde mein Bruder meine Abwesenheit bemerken. Ich wollte Ihnen sagen, wie leid mir mein dummes Versehen tut, daß ich Sie für Sir Henry hielt. Bitte, vergessen Sie meine Worte, die für Sie durchaus keine Bedeutung haben.«
»Aber ich kann sie nicht vergessen, Fräulein Stapleton,« antwortete ich. »Ich bin Sir Henrys Freund, und sein Wohlergehen liegt mir sehr am Herzen. Sagen Sie mir, warum Sie so dringend auf Sir Henrys Rückkehr nach London bestehen?«
»Eine Weiberlaune, Herr Doktor. Wenn Sie mich näher kennen, so werden Sie sehen, daß ich nicht immer imstande bin, für meine Worte oder Handlungen Gründe anzugeben.«
»Nein, nein! Der Ton Ihrer Stimme klingt mir noch in den Ohren. Ihr Blick steht mir noch vor Augen. Bitte, bitte, seien Sie offen gegen mich, Fräulein Stapleton; denn seit meiner Ankunft hier fühle ich mich von seltsamen Schatten umgeben. Das Leben kommt mir vor wie das große Grimpener Moor mit seinen unzähligen grünen Morastflecken, in denen man versinken kann. Und nirgends ein Führer, um den Pfad zu weisen. Bitte, sagen Sie mir, was Ihre Worte bedeuten und ich verspreche Ihnen, Ihre Warnung an Sir Henry zu bestellen.«
Ein Ausdruck von Unentschlossenheit glitt einen Augenblick über ihr Gesicht; aber ihre Augen hatten bereits wieder ihren harten, kalten Glanz gewonnen, als sie mir antwortete:
»Sie legen meinen Worten eine zu große Bedeutung bei, Herr Doktor. Meinem Bruder und mir ging Sir Charles' Tod sehr nahe. Wir hatten sehr vertrauten Umgang mit ihm, denn sein Lieblingsweg führte ihn über das Moor zu unserem Haus. Er fühlte sehr tief den Fluch, der über seinem Geschlecht hing; als dann sein tragisches Ende kam, da hatte ich den ganz natürlichen Eindruck, seine oftmals geäußerten Befürchtungen könnten nicht ganz unbegründet gewesen sein. Es machte mir daher Angst, daß wieder ein Angehöriger seines Geschlechtes hier wohnen wollte, und ich hatte das Gefühl, ich müßte ihn vor der ihm drohenden Gefahr warnen. Weiter beabsichtigten meine Worte nichts.«
»Aber worin besteht die Gefahr?«
»Sie kennen die Geschichte von dem Hund?«
»An solchen Unsinn glaube ich nicht.«
»Aber ich! Wenn Sie irgendeinen Einfluß auf Sir Henry haben, so bringen Sie ihn weg von einem Ort, der für seine Familie stets verhängnisvoll gewesen ist. Die Welt ist groß. Warum soll er gerade an einem so gefährlichen Ort leben wollen?«
»Eben weil der Ort gefährlich ist. Das ist Sir Henrys Natur. Ich befürchte, wenn Sie mir keine bestimmtere Auskunft geben, so werde ich ihn keinesfalls zum Fortgehen bewegen können.«
»Irgend etwas Bestimmtes kann ich nicht sagen, denn ich weiß nichts.«
»Ich möchte an Sie noch eine Frage richten, Fräulein Stapleton. Wenn Sie mit Ihren ersten Worten, die Sie zu mir sagten, nur eine so unbestimmte Warnung beabsichtigten, warum waren Sie denn so ängstlich und besorgt, Ihren Bruder nichts davon hören zu lassen? Daran ist doch nichts, wogegen er oder sonst ein Mensch etwas einwenden könnte.«
»Meinem Bruder liegt viel daran, daß Baskerville Hall bewohnt ist; er glaubt, das sei zum Vorteil unserer armen Moorleute. Er würde sehr ärgerlich sein, wenn er wüßte, daß ich irgend etwas sagte, was Sir Henry zum Fortgehen veranlassen könnte … Aber ich habe jetzt meine Pflicht getan und will nichts mehr sagen. Ich muß jetzt nach Hause; sonst merkt er, daß ich fort war und wird mich im Verdacht haben, daß ich mit Ihnen gesprochen habe. Leben Sie wohl!«
Sie drehte sich um und war in wenigen Minuten hinter den Granitblöcken verschwunden. Ich dagegen setzte meinen Weg nach Baskerville Hall fort, das Herz von unbestimmten Befürchtungen erfüllt.