Eine kurze Geschichte der Menschheit
Kapitel 1 Ein ziemlich unauffälliges Tier. Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis namens Urknall. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik. Etwa 300000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie. Vor 3,8 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namens Erde bestimmte Moleküle, sich zu besonders großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Die Geschichte dieser Organismen nennen wir Biologie. Und vor gut 70000 Jahren begannen Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen. Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte. Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt. Die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang. Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren beschleunigte sie. Und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Dieses Buch erzählt, welche Konsequenzen diese drei Revolutionen für den Menschen und seine Mitlebewesen hatten und haben. Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte. Die ersten menschenähnlichen Tiere betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne. Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und einen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen könnten, würden wir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen, die äußerlich gewisse Ähnlichkeit mit uns haben. Besorgte Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Kinder spielen im Matsch. Von irgendwoher dringt das Geräusch von Steinen, die aufeinandergeschlagen werden, und wir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Die Technik hat er sich bei zwei Männern abgeschaut, die sich gerade um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein streiten; knurrend und mit gefletschten Zähnen tragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe aus. Währenddessen zieht sich ein älterer Herr mit weißen Haaren aus dem Trubel zurück und streift allein durch ein nahe gelegenes Waldstück, wo er von einer Horde Schimpansen überrascht wird. Diese Menschen liebten, stritten, zogen ihren Nachwuchs auf und erfanden Werkzeuge – genau wie die Schimpansen. Niemand, schon gar nicht die Menschen selbst, konnte ahnen, dass ihre Nachfahren eines Tages über den Mond spazieren, Atome spalten, das Genom entschlüsseln oder Geschichtsbücher schreiben würden. Die prähistorischen Menschen waren unauffällige Tiere, die genauso viel oder so wenig Einfluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas, Libellen oder Quallen. Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein. Tiere gehören derselben Art an, wenn sie sich miteinander paaren und fortpflanzungsfähige Nachkommen zeugen. Pferde und Esel haben einen gemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaften, doch was die Fortpflanzung angeht, haben sie kein Interesse aneinander. Man kann sie zwar dazu bringen, sich zu paaren, doch die Maultiere, die aus dieser Verbindung hervorgehen, sind unfruchtbar. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie unterschiedlichen Arten angehören. Anders Bulldoggen und Cockerspaniel: Sie unterscheiden sich zwar äußerlich ganz erheblich, doch sie paaren sich sehr bereitwillig, und ihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugen. Bulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehörige derselben Art, nämlich der Hunde. Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden oft zu Gattungen zusammengefasst. Löwen, Tiger, Leoparden und Jaguare sind beispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera. Biologen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen: der erste Teil bezeichnet die Gattung, der zweite die Art. Der Löwe heißt zum Beispiel Panthera leo: die Art Leo aus der Gattung der Panthera. Als Leser dieses Buchs gehören Sie vermutlich den Homo sapiens an – der Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch). Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasst, zum Beispiel den Katzen (Löwen, Geparden, Hauskatzen), Hunden (Wölfe, Füchse, Schakale) oder Elefanten (Elefanten, Mammuts, Mastodonten). Alle Angehörigen einer Familie lassen sich auf einen gemeinsamen Urahn zurückführen. Alle Katzen, vom zahmsten Hauskätzchen zum wildesten Löwen, gehen auf einen gemeinsamen Katzenvorfahren zurück, der vor rund 25 Millionen Jahren lebte.
Natürlich gehört auch der Homo sapiens einer Familie an. Diese scheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Geschichte. Der Homo sapiens tat nämlich lange so, als habe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisenkind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern. Das ist natürlich nicht der Fall. Ob es uns gefällt oder nicht, wir gehören der großen und krawalligen Familie der Menschenaffen an. Unsere nächsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans. Am allernächsten stehen uns jedoch die Schimpansen. Vor gerade einmal sechs Millionen Jahren brachte eine Äffin zwei Töchter zur Welt: Eine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen, die andere ist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Großmutter. Leichen im Keller
Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehütet. Wir haben nämlich nicht nur eine Horde von unzivilisierten Vettern. Es gab eine Zeit, in der wir auch eine Menge Brüder und Schwestern hatten. Wir nehmen zwar den Namen »Mensch« für uns allein in Anspruch, doch früher gab es auch eine ganze Reihe anderer Menschenarten. Menschen waren sie deshalb, weil sie der Gattung Homo angehörten, die vor rund 2,5 Millionen Jahren aus einer älteren Affengattung namens Australopithecus, dem »südlichen Affen«, hervorging. Vor rund 2 Millionen Jahren verließen diese Urmenschen ihre ursprüngliche Heimat in Ostafrika und machten sich auf den langen Marsch nach Nordafrika, Europa und Asien. Und da das Überleben in den verschneiten Wäldern Nordeuropas andere Fähigkeiten erfordert als im schwülen Dschungel Indonesiens, entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedliche Richtungen. Das Ergebnis waren verschiedene Arten, die von Wissenschaftlern mit jeweils eigenen, hochtrabend klingenden lateinischen Namen getauft wurden. In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homo neanderthalensis, dem »Mensch aus dem Neandertal« oder kurz Neandertaler. Dieser Neandertaler war kräftiger gebaut und muskulöser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima in Eurasien eingestellt. Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegen der Homo soloensis, der »Solo-Mensch«, der besser an das Leben in den Tropen angepasst war. Ebenfalls im indonesischen Archipel, auf der kleinen Insel Flores, lebten Menschen, die in der Presse gern salopp als »Hobbits« bezeichnet werden, die in der Wissenschaft jedoch als Homo floresiensis bekannt sind. Diese speerschwingenden Zwerge wurden nur einen Meter groß und wogen gerade einmal 25 Kilogramm. Feige waren sie trotzdem nicht: Sie machten sogar Jagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte, dass es sich um Zwergelefanten handelte). Die Weiten Asiens wurden schließlich vom Homo erectus bevölkert, dem »aufrecht gehenden Menschen«, der hier anderthalb Millionen Jahre lang überlebte und damit die langlebigste Menschenart aller Zeiten war. Als Wissenschaftler im Jahr 2010 bei Ausgrabungen in der Denissowa-Höhle in Sibirien auf einen versteinerten Fingerknochen stießen, wurde ein weiteres Geschwisterchen entdeckt und damit vor dem Vergessen bewahrt. Genanalysen ergaben, dass es sich um eine bis dahin unbekannte Menschenart handelte, die den Namen Homo denisova erhielt. Wer weiß, wie viele Verwandte noch darauf warten, in anderen Höhlen, Klimaten und Inselreichen entdeckt zu werden. Während sich diese Menschen in Europa und Asien entwickelten, blieb die Evolution in Afrika natürlich nicht stehen. Die Wiege der Menschheit brachte zahlreiche neue Arten hervor, darunter den Homo rudolfensis, den »Menschen vom Rudolfsee«, den Homo ergaster, den »werkenden Menschen«, und schließlich unsere eigene Art, die wir in der für uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens, den »weisen Menschen« getauft haben. Einige dieser Menschenarten waren Riesen, andere Zwerge. Einige waren gefürchtete Jäger, andere friedliebende Vegetarier. Einige lebten auf einer einzigen Insel, andere durchstreiften ganze Kontinente. Aber sie alle gehörten der Gattung Homo an: Sie waren Menschen. Lange glaubte man, dass diese Arten in einem langen Stammbaum aufeinanderfolgten: Aus dem ergaster ging der erectus hervor, aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertaler schließlich wir. Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt den irrigen Eindruck, dass immer nur eine Menschenart den Planeten bevölkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren als Vorläufermodelle des modernen Menschen. In Wirklichkeit lebten zwei Millionen Jahre lang, bis vor rund 10000 Jahren, gleichzeitig mehrere Menschenarten auf unserem Planeten. Warum auch nicht? Heute existieren ja auch viele Arten von Füchsen, Bären oder Schweinen nebeneinander. Noch vor hunderttausend Jahren gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten. Diese Vielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache, dass wir heute allein sind. Im Gegenteil, wenn wir heute die einzige verbliebene Menschenart sind, dann wirft das einige Fragen auf. Wie wir gleich noch sehen werden, könnte der Homo sapiens gute Gründe gehabt haben, die Erinnerung an seine Geschwister zu verdrängen. Der Preis des Gehirns
Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarten einige entscheidende Gemeinsamkeiten, die sie überhaupt erst zu Menschen machen. Vor allem verfügen sie im Vergleich zu anderen Tieren über ungewöhnlich große Gehirne. Säugetiere mit einem Körpergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirn mit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern. Das Gehirn eines Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400 Kubikzentimeter. Die ersten Menschen, die vor 2,5 Millionen Jahren lebten, hatten zwar noch ein kleineres Gehirn, doch im Vergleich zu dem eines Leoparden, der etwa genauso viel wog, war es sehr groß. Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immer größer werden. Rückblickend scheint es uns vollkommen logisch, dass die Evolution immer größere Gehirne hervorbrachte. Weil wir derart in unsere Intelligenz verliebt sind, gehen wir davon aus, dass mehr Hirnpower automatisch besser ist. Aber wenn dem so wäre, dann hätte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht, die Differenzialgleichungen lösen können. Warum hat also im gesamten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfähigen Denkapparat entwickelt? Tatsache ist, dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kraft kostet. Schon rein körperlich ist es eine Last, zumal es in einem schweren Schädel herumgeschleppt werden muss. Vor allem aber frisst es Unmengen an Energie. Beim Homo sapiens macht das Gehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Körpergewichts aus, doch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozent der Körperenergie. Zum Vergleich: Bei anderen Affen sind es nur rund 8 Prozent. Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis für ihr großes Gehirn: Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssuche zubringen, und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zurück. Wie ein Staat, der den Militärhaushalt kürzt und in die Bildung investiert, lenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalz um. Dabei war keineswegs klar, dass dies in der Savanne eine kluge Überlebensstrategie war. Ein Homo sapiens kann einen Schimpansen zwar an die Wand diskutieren, doch der Affe kann den Menschen auseinandernehmen wie ein Stoffpüppchen. Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben, denn sonst hätten die Menschen mit ihren überdimensionierten Gehirnen schließlich nicht überlebt. Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust an Muckis wett? Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Frage albern klingen, aber wir sollten nicht vergessen, dass Einstein noch ein recht junges Phänomen ist. Zwei Millionen Jahre lang wuchs das menschliche Gehirn zwar munter weiter, aber abgesehen von einigen Steinmessern und angespitzten Stöcken brachte es den Menschen recht wenig. Aus evolutionärer Sicht ist die Entwicklung des menschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Entwicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirschgeweihen. Wozu der ganze Aufwand? Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang. Auf zwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne besser nach Futter oder Feinden Ausschau halten. Und die Arme, die nun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden, ließen sich zu anderen Zwecken nutzen, etwa um Steine zu werfen oder Zeichen zu geben. Nachdem die Hände durch den zweibeinigen Gang frei geworden waren, ließen sie sich zu allen möglichen Tätigkeiten verwenden. Je mehr sie bewerkstelligen konnten, umso erfolgreicher wurden ihre Besitzer, weshalb die Evolution eine zunehmende Konzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmten Muskeln in Händen und Fingern förderte. So kommt es, dass wir mit unseren Händen filigranste Tätigkeiten ausführen können. Vor allem können wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benutzen. Die ältesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugen reichen 2,5 Millionen Jahre zurück, und wenn Archäologen einen neuen Fund machen, sind Spuren ihrer Herstellung und Verwendung ein entscheidender Hinweis, dass es sich tatsächlich um frühe Menschen handelt. Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten. Unsere äffischen Vorfahren hatten über Jahrmillionen hinweg ein Skelett entwickelt, das für den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nur einen relativ leichten Kopf zu tragen hatte. Die Umstellung zum aufrechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar, zumal das Gestell einen immer schwereren Schädel tragen musste. Der Preis für die bessere Sicht und fleißige Hände waren Rückenschmerzen und steife Hälse. Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu stehen. Der aufrechte Gang verlangte schmalere Hüften und damit einen engeren Geburtskanal – und das obwohl gleichzeitig die Köpfe der Säuglinge immer größer wurden. Daher liefen sie zunehmend Gefahr, die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu überleben. Die Weibchen, die ihre Jungen zu einem früheren Zeitpunkt zur Welt brachten, als der Kopf noch verhältnismäßig klein und formbar war, überlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs. Auf diese Weise sorgte ein Prozess der natürlichen Auslese dafür, dass die Kinder immer früher geboren wurden. Im Vergleich zu anderen Tieren sind menschliche Säuglinge Frühgeburten: Sie kommen halbfertig zur Welt, wenn überlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sind. Ein Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen, und ein Katzenjunges fängt im Alter von wenigen Wochen an, seine Umwelt zu erkunden.
Menschenjunge sind dagegen bei Geburt völlig hilflos und müssen von ihren Eltern über Jahre hinweg ernährt, beschützt und aufgezogen werden. Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten, aber auch viele der für sie typischen Schwierigkeiten. Alleinerziehende Mütter sind kaum in der Lage, die Nahrung für sich und ihren Nachwuchs heranzuschaffen, während sie ihre quäkenden Kinder im Schlepptau haben. [:] Die Aufzucht der Sprösslinge erfordert konstante Unterstützung von Verwandten und Nachbarn. Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stamm erforderlich. Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt, die in der Lage waren, starke soziale Beziehungen einzugehen. Da Menschen in einem frühen Entwicklungsstadium geboren werden, sind sie außerdem formbarer als alle anderen Lebewesen. Die meisten anderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib, wie gebrannte Töpfe aus einem Ofen. Jeder Versuch, sie zu verändern, würde sie zerbrechen. Menschliche Säuglinge kommen dagegen eher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen; sie lassen sich noch erstaunlich gut ziehen, drehen und formen. [:] Deshalb können wir unsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten, Kapitalisten oder Sozialisten, Kriegern oder Pazifisten erziehen. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass ein großes Gehirn, der Gebrauch von Werkzeugen, verbesserte Lernfähigkeit und komplexe gesellschaftliche Strukturen automatisch einen gewaltigen Überlebensvorteil darstellen. Aus heutiger Sicht scheint es uns vollkommen offensichtlich, dass der Mensch seinen Aufstieg zum mächtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaften verdankt. Doch trotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahre lang schwache und unauffällige Geschöpfe. Zwischen Indonesien und der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine Million Menschen, und das mehr schlecht als recht. Sie lebten in dauernder Angst vor Raubtieren, erlegten selten große Beute und ernährten sich vor allem von Pflanzen, Insekten, Kleintieren und dem Aas, das größere Fleischfresser zurückgelassen hatten. Die Steinwerkzeuge verwendeten sie übrigens hauptsächlich, um Knochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelangen.an> Einige Wissenschaftler meinen, dies sei unsere ökologische Nische gewesen: Genau wie sich die Spechte darauf spezialisiert haben, Insekten aus der Baumrinde herauszupicken, verlegten sich die Menschen darauf, das Mark aus den Knochen zu pulen. Aber warum ausgerechnet Knochenmark? [:] Ganz einfach: Stellen Sie sich vor, Sie beobachten, wie ein Löwenrudel eine Giraffe zur Strecke bringt und sich daran gütlich tut. [:] Sie warten geduldig ab, bis sich die Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben, und dann sehen sie zu, wie sich die Hyänen und Schakale (mit denen Sie sich auf keinen Fall anlegen wollen) über die Reste hermachen. [:] Erst dann wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung, schleichen sich an die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letzten Fetzchen von essbarem Gewebe. [:] Dies ist auch ein Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Geschichte und Psyche. Bis vor Kurzem befand sich die Gattung Homo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette.] Jahrmillionen lang jagten Menschen kleinere Tiere und aßen, was sie eben bekommen konnten, während sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von größeren Räubern standen. [:] Erst vor 400000 Jahren begannen einige Menschenarten damit, regelmäßig auch größeren Beutetieren nachzustellen. Erst in den vergangenen 100000 Jahren, mit dem Aufstieg des Homo sapiens, schaffte die Gattung Mensch den Sprung an die Spitze der Nahrungskette.an> Dieser spektakuläre Aufstieg hatte weitreichende Auswirkungen. Die Menschen waren es nicht gewöhnt, an der Spitze der Nahrungskette zu stehen, und konnten nicht sonderlich gut mit dieser neuen Rolle umgehen. Andere Raubtiere wie Löwen oder Haie hatten sich über Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasst. Die Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf den anderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit, sich darauf einzustellen. Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichte lassen sich mit dieser überhasteten Entwicklung erklären, angefangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstörung unserer Ökosysteme. Die Menschheit ist kein Wolfsrudel, das durch einen unglücklichen Zufall Panzer und Atombomben in die Finger bekam. Die Menschheit ist vielmehr eine Schafherde, die dank einer Laune der Evolution lernte, Panzer und Atombomben zu bauen. Aber bewaffnete Schafe sind ungleich gefährlicher als bewaffnete Wölfe.
von Yuval Noah Harari