Neuntes Kapitel - Zweiter Bericht des Doktor Watson - 05
Wir tappten langsam in der Finsternis vorwärts, rings um uns war der schwarze Kranz der zerklüfteten Felsenhügel, vor uns brannte, immer auf demselben Fleck, der gelbe Lichtpunkt. Über nichts täuscht man sich so leicht wie über die Entfernung eines Lichtes in stockfinsterer Nacht; zuweilen sah es aus wie ein Flimmern am fernen Horizont, dann wieder schien es ein paar Ellen vor uns zu sein. Schließlich aber sahen wir, woher der Schein kam, und erkannten zugleich, daß wir ganz dicht dabei waren. Eine tropfende Kerze war in eine Felsenspalte gestellt; das Gestein schützte die Flamme auf beiden Seiten vor dem Wind und bewirkte zugleich, daß der Lichtschein nur von Baskerville Hall her gesehen werden konnte. Ein Granitblock ermöglichte uns, ungesehen näher zu kommen; wir kauerten uns hinter dieser Deckung zusammen und spähten nach dem Signallicht. Einen seltsamen Anblick bot diese einsame Kerze, die hier mitten auf dem Moor brannte. Kein Zeichen des Lebens ringsum – nur diese eine gelbe Flamme und der Widerschein des Lichtes auf dem Fels zu beiden Seiten.
»Was sollen wir jetzt tun?« flüsterte Sir Henry.
»Hier warten. Er muß in der Nähe seines Lichtes sein. Wir wollen versuchen, ihn zu Gesicht zu bekommen.«
Ich hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als wir ihn beide sahen. Über den Felsen, in der Spalte, worin das Licht brannte, streckte sich ein fahlgelbes Gesicht vor, ein scheußlich viehisches Gesicht, von niedrigen Leidenschaften verzerrt und durchfurcht. Vom Morast besudelt, von zottigem Bart und wirrem Haar umgeben, hätte man es wohl für das Gesicht eines jener vorgeschichtlichen Wilden halten können, die in den Höhlen am Hügelabhang gelebt hatten. Das unter ihm brennende Licht spiegelte sich in seinen kleinen schlauen Augen, die mit wildem Blick sich nach rechts und links durch die Finsternis bohrten, wie die Augen eines listigen Raubtiers, das den Schritt des Jägers gehört hat.
Augenscheinlich hatte irgend etwas seinen Verdacht erregt. Vielleicht hatte sonst Barrymore irgend ein anderes Zeichen gegeben, das wir nicht kannten, vielleicht hatte der Mann auch einen anderen Grund, anzunehmen, daß nicht alles in Ordnung war. Die Furcht war deutlich auf seinem Verbrechergesicht zu lesen. Jeden Augenblick konnte er sich mit einem Sprung aus dem Lichtschein entfernen und in der Dunkelheit verschwinden. Ich sprang deshalb auf ihn zu, und Sir Henry folgte meinem Beispiel. Im selben Augenblick schrie der Zuchthäusler uns einen wütenden Fluch entgegen und schleuderte einen großen Stein, der an dem uns bisher zur Deckung dienenden Granitblock in Stücke zerschellte.
Als er auf die Füße sprang und sich zur Flucht wandte, konnte ich einen kurzen Blick auf seine kurze, stämmige und kräftige Gestalt werfen. Im selben Augenblick hatten wir das Glück, daß der Mond die Wolken durchbrach. Wir sprangen eiligst auf den Gipfel des Hügels hinauf, und da sahen wir unseren Mann mit großer Schnelligkeit auf der anderen Seite herunterrennen und die Steine, die ihm im Wege waren, mit der Gewandtheit einer Bergziege überspringen. Ein glücklicher Schuß meines Revolvers hätte ihn vielleicht zum Krüppel machen können, aber ich hatte die Waffe nur zu meiner Verteidigung mitgenommen und nicht, um auf einen unbewaffneten und fliehenden Menschen zu schießen.
Wir waren beide gute Läufer und beide gesund und kräftig, aber wir fanden bald, daß wir keine Aussicht hatten, ihn einzuholen. Lange sahen wir ihn im Mondschein vor uns herrennen, bis er sich schließlich nur noch wie ein kleiner Punkt zwischen den Granitblöcken am Abhang eines entfernten Hügels in eiligem Laufe hindurchwand. Wir rannten und rannten, bis uns der Atem völlig ausging, aber der Abstand wurde nur immer größer. Schließlich gaben wir die Verfolgung auf und setzten uns keuchend auf zwei große Steine; von hier aus sahen wir ihn in der Ferne verschwinden.
Und in diesem Augenblick trat etwas ganz Seltsames und Unerwartetes ein. Wir waren von unseren Steinblöcken aufgestanden, um nach Hause zu gehen, denn die Verfolgung hatten wir als gänzlich hoffnungslos aufgegeben. Zu unserer Rechten stand der Mond niedrig am Himmel, und die zackige Spitze eines Granitfelsens hob sich von dem unteren Rand der silbernen Mondscheibe ab. Und in scharfen Umrissen, schwarz wie eine Ebenholzstatue von dem leuchtenden Hintergrund sich abhebend, sah ich die Gestalt eines Mannes auf der Felsspitze stehen.
Glaube ja nicht, Holmes, es sei eine Sinnestäuschung gewesen. Ich versichere Dir, ich habe nie in meinem Leben etwas klarer und deutlicher gesehen. Soweit ich es beurteilen konnte, war es die Gestalt eines großen, schlanken Mannes. Er stand mit etwas auseinandergespreizten Beinen, mit gefalteten Armen und gesenktem Kopf, als betrachte er grübelnd die ungeheure Einöde von Moor und Granit, die da vor ihm lag. So konnte man sich den bösen Geist denken, der diesem furchtbaren Ort gebot. Der Sträfling war es nicht. Dieser Mann stand weitab von der Stelle, wo Selden verschwunden war. Außerdem war er viel größer. Mit einem Ausruf der Überraschung streckte ich meinen Arm aus, um ihn dem Baronet zu zeigen; aber in dem Augenblick, wo ich mich zu Sir Henry umgedreht hatte, war der Mann verschwunden. Die scharfe Granitspitze hob sich noch immer vom unteren Rand der Mondscheibe ab, aber von der schweigenden und regungslosen Gestalt war kein Spur mehr zu sehen..
Ich wäre gern hingegangen und hätte die Felsspitze untersucht, aber die Entfernung bis dahin war ziemlich groß. Des Baronets Nerven waren noch von jenem Geheul angegriffen, das ihm das düstere Schicksal seiner Familie zum Bewußtsein gebracht hatte, und er war nicht in der Stimmung, neue Abenteuer zu suchen. Er hatte den einsamen Mann auf der Felsenspitze nicht gesehen und konnte den Schauer nicht fühlen, der mich beim Anblick der seltsamen, herrischen Gestalt durchrieselt hatte.
»Ohne Zweifel einer von den Zuchthausaufsehern.« bemerkte Sir Henry. »Seit der Flucht dieses Kerls wimmelt das Moor von ihnen.«
Nun, vielleicht mag er mit dieser Erklärung recht haben, aber es wäre mir doch lieb, noch weitere Beweise dafür zu bekommen. Heute gedenken wir, den Beamten von Princetown mitzuteilen, wo sie nach ihrem Flüchtling suchen müssen, aber es tut uns doch außerordentlich leid, daß wir nicht den Triumph gehabt haben, ihn als unseren eigenen Gefangenen einzuliefern.
Dies sind also die Ereignisse der letzten Nacht, mein lieber Holmes, und Du wirst zugeben, daß ich Dich mit meinem Bericht sehr gut bedient habe. Ohne Zweifel wird vieles von dem Angeführten ohne jede Bedeutung sein, ich bin aber überzeugt, es ist das beste, wenn ich Dir alle Tatsachen ohne Ausnahme übermittle und Dich selber eine Auswahl treffen lasse, um Deine Schlüsse zu ziehen. Ganz sicherlich machen wir Fortschritte. In Bezug auf die Barrymores haben wir den Beweggrund für ihr Handeln ausfindig gemacht, und das hat die Lage ganz bedeutend aufgeklärt.
Aber das Moor mit seinen Geheimnissen und seinen seltsamen Bewohnern bleibt unergründlich wie immer. Vielleicht kann ich in meinem nächsten Brief auch diese Dunkelheit ein wenig aufhellen. Am allerbesten aber wäre es, Du kämst selber zu uns herüber.