Als Mutti in den Westen ging: Die verlassenen Kinder (3)
"Ich will dich nicht sehen in Erfurt.
Du brauchst mich nicht besuchen."
Es war ein großes Problem mit Andreas.
Das fing schon an, als er im Kindergarten war.
Da wurde mir schon gesagt, dass er bockig ist.
In der Schule wurde es viel schlimmer.
Da hat er seine Hausaufgaben nicht gemacht.
Ich sagte: "Andreas, du musst Hausaufgaben machen."
"Du hast mir nichts zu sagen."
Eine Begründung, die sprachlos macht.
Abschiebung ins Heim als Bestrafung für nicht erledigte Hausaufgaben.
* Video läuft. *
Plötzlich Tränen bei der Mutter.
Reue oder Selbstmitleid?
Die Flucht in den Westen: offenbar die passende Gelegenheit,
sich der Verantwortung als Erziehungsberechtigte zu entziehen.
Andreas jedenfalls
wird nie wieder bei der Mutter und dem kleinen Bruder leben.
Dieses Erlebnis steckt Filmemacher Eberhard Weißbarth
auch 30 Jahre später noch in den Knochen.
Es fällt schwer, das Schicksal von Andreas und der Mutter zu vergessen.
Ich hätte der beinahe eine reingehauen.
Konnte man nicht machen.
Ich hätte sie angeschrien, aber steht mir nicht zu.
Das war für mich dieser eiskalte Brocken von einer Mutter.
Wir waren sprachlos.
Ich weiß noch, mein Kameramann und mein Tonmann sagten:
"Um Gottes Willen, wie ist diese Frau drauf?"
Dann kamen ihr plötzlich die Tränen.
Aber sie war im Grunde: "Er hat seine Hausaufgaben nicht gemacht."
Zehn Jahre später.
Andreas ist inzwischen 22.
Er lebt in Celle, ist der Frau, die ihn verstoßen hat, hinterher.
Doch Kontakt zur Mutter hat er nicht mehr.
"Er hat seine Hausaufgaben nicht gemacht."
Immer wieder versucht er, eine Antwort zu bekommen.
Doch die bleibt die Mutter ihm über die Jahre schuldig.
Damals im Heim,
das war eine ganz beschissene Zeit.
Ich wurde nur gehänselt.
Ich habe versucht, mit meiner Mutter Kontakt aufzunehmen.
Ich habe ihr Briefe geschrieben, Karten.
Aber es kam nie eine Antwort zurück.
Nachdem sie sich nicht gemeldet hat,
habe ich gedacht, sie will mich nicht mehr.
Im Heim habe ich oft geweint.
Weil ich die erste Zeit keine Freunde hatte.
Ich musste mich erst mal mit allem konfrontieren.
Damit ich ...
da überhaupt erst mal ins Heimleben einsteigen konnte.
Meinen Bruder vermisse ich sehr.
Ich verstehe nicht, dass meine Mutter nicht zulässt,
dass ich meinen Bruder besuchen kann.
Dass ich auch auf Karten eine Antwort kriege.
Ein Jugendheim in Hermannsburg in der Nähe von Celle.
Mit 16 kommt Andreas hierher.
Er beginnt eine Lehre und will Tischler werden.
Auch für seinen damaligen Erzieher sind die Folgeschäden dessen,
was Andreas als Kind angetan wurde, offensichtlich.
Als Andreas zu uns kam, hatten wir einen recht verstockten,
verschlossenen jungen Mann vor uns.
Es war harte Arbeit,
eine Beziehung zu ihm aufbauen zu können.
Wir haben ihn so weit gekriegt, mit ihm gemeinsam,
dass er tragfähige Beziehungen aufbauen und halten kann.
Ich denke, da haben wir zusammen gute Arbeit geleistet.
Auch drei Jahre nachdem er die Ausbildung abgeschlossen hat,
findet Andreas keine Arbeit.
Sein Leben kommt in keine geregelte Bahn.
* Glockenton *
Seelisch fühle ich mich nicht gut, weil ich keine Arbeit habe.
Beim Arbeitsamt kriege ich immer nur ein und dieselbe Antwort:
"Wir haben nichts.
Wir schicken was, wenn wir was haben."
Das reicht mir nicht.
Die Spur zu Andreas verliert sich in jener Zeit.
Ob es eine Wende in seinem Leben zum Besseren gab,
ist ungewiss.
* getragene Musik *
Auch Katharina, die als 2-jährige mit ihrem Bruder
von der Mutter verlassen wurde, leidet unter den Spätfolgen.
Die Beweggründe, die Kinder einfach auszusetzen,
kann sie sich bis heute nicht erklären.
Man kann es nicht sagen, wie man sein muss,
um so zu sein.
Einfach nur kalt, abgeklärt.
Und egoistisch.
Was anderes kann ich mir nicht vorstellen, wie man sein kann,
um so was zu tun.
Kinder einfach zurückzulassen.
Und dann auch damit abzuschließen, komplett.
Und zu sagen: "Interessiert mich nicht mehr, gehört mir nicht mehr."
Anders kann man es wohl nicht sagen.
Psch.
Zumindest Thomas Metz erlebt ein Happy End.
Er konnte mit der schrecklichen Vergangenheit abschließen.
Das Fotoalbum seiner Kindheit beginnt, als er 5 Jahre alt ist.
Es zeigt eine glückliche Kindheit,
voller Liebe und Geborgenheit.
Seine Pflegemutter hat alles dafür getan.
Und Thomas hat diese Chance genutzt.
* gefühlvolle Musik *
Letztendlich war meine Mutter die goldene Karte in meinem Leben.
Wäre meine Mutter nicht da gewesen
und hätte mir Gott diese Karte nicht geschenkt,
dann wäre ich heute nicht so, wie ich bin.
Ja.
Gell?
Ist so.
* gefühlvolle Musik *
* Copyright: MDR 2020 UT: AUDIO2 im Auftrag des MDR *