Kapitel 5. Effi und Crampas
Effi war unzufrieden mit sich und freute sich, dass sie im Winter nicht mehr zusammen mit Crampas ausreiten würde. Sie würde ihn kaum noch sehen. Seine Frau war so unfreundlich, dass man sich nicht zu Hause besuchen würde. Effi hatte sich zwar nicht schuldig gemacht, doch sie hatte das Gefühl, einer Gefahr entronnen zu sein.
Innstetten würde dieses Jahr nicht nach Varzin fahren müssen, weil Bismarck nicht dort war. Er fand es einerseits schade, andererseits hatte er so viel Zeit für die Familie. Er sagte zu Effi: „Wenn du Lust hast, können wir die italienische Reise anhand meiner Notizen noch einmal durchmachen. Das ist eigentlich das Wichtigste an einer Reise, nur so lernt man die Dinge wirklich kennen. Gieshübler kennt den ganzen ‚italienischen Stiefel' und hat mich gebeten, mit dabei sein zu dürfen. Was meinst du dazu, Effi?“
Effi wäre ein ganz gewöhnlicher Plauderabend ohne den „italie-nischen Stiefel“ viel lieber gewesen, aber sie sagte nichts.
Am dritten italienischen Abend fragte Gieshübler: „Effi, willst du in einem Theaterstück mitspielen?“
Gieshübler und Crampas waren im Vergnügungskomitee der Stadt. Crampas hatte die Idee gehabt, vor Weihnachten ein Theater aufzuführen.
Effi freute sich und sagte ja. Das gefiel ihr viel besser als die italienischen Abende. Aber eine innere Stimme sagte ihr: ‚Pass auf.‘. Sie fragte: „Wird Crampas auch mitspielen?“
„Nein, das will er nicht. Ich muss sagen, leider, denn er könnte das bestimmt gut. Aber er führt die Regie.“
„Oje.“
„Warum oje?“
„Ach, das meine ich nicht ernst, eigentlich meine ich das Gegenteil. Aber es ist doch so, dass der Major gerne für andere entscheidet. Und man muss dann so spielen, wie er will, und nicht wie man selber will.“
Man hatte nur vierzehn Tage Zeit, deshalb hatte man sehr viel zu tun mit dem Theater. Alles ging gut und die Mitspielenden, vor allem Effi, wurden sehr gelobt. Crampas hatte Effi so spielen lassen, wie sie wollte. Vielleicht hatte er gemerkt, dass Effi sich von ihm zurückziehen wollte, und er war vernünftig genug, sie machen zu lassen.
Mitternacht war vorüber, als Innstetten und Effi wieder zu Hause waren. Effi war müde und ging zu Bett. Innstetten wollte noch plaudern, setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und hielt ihre Hand.
„Ja, Effi, das war ein schöner Abend. Das Stück hat mir sehr gut gefallen. Und du hast mir am besten gefallen.“
„Soll ich Johanna bitten, dass sie uns Tee bringt?“
„Nein, Effi. Nach Mitternacht kann auch der König keine Tasse Tee mehr verlangen. Ich will nichts anderes als dich ansehen und mich freuen, dass ich dich habe. Du könntest ja auch so sein wie die arme Frau Crampas. Sie ist eine schreckliche Frau, immer unfreundlich, und dich hat sie immer ganz böse angeblickt.“
„Ach, ich bitte dich, Geert, das denkst du dir so. Die arme Frau! Ich habe nichts gesehen.“
„Weil du nicht geschaut hast. Aber es war so, wie ich dir sage. Der arme Crampas hat dich kaum angesehen, was ganz unnatürlich ist: Erstens ist er ein Damenmann, und zweitens sind Damen wie du seine besondere Passion.“
Die Weihnachtstage kamen und vergingen ähnlich wie im Jahr zuvor; aus Hohen-Cremmen kamen Geschenke und Briefe. Innstetten war fröhlich und spielte viel mit dem Kind. Auch Effi lachte viel, aber sie war auch seltsam unruhig und wusste nicht, ob sie sich oder Innstetten die Schuld dafür geben sollte. Von Crampas war kein Weihnachtsgruß gekommen. Eigentlich war sie froh darüber, aber es ärgerte sie auch ein bisschen.
Am dritten Feiertag war eine große Einladung bei Oberförster Ring. Man beschloss, mit dem Schlitten zu fahren. Weil Gieshübler und Crampas den Weg nicht kannten, trafen sie sich um zwei Uhr auf dem Marktplatz mit ihnen. Vorne fuhr Innstettens Schlitten, dahinter war Crampas mit dem Pastor und zuhinterst Gieshübler mit Doktor Hannemann. Sie fuhren ein langes Waldstück entlang. Um drei Uhr war man vor der Oberförsterei. Auch die adligen Familien vom Land waren da. Zuerst trank man Kaffee, danach machte man einen Spaziergang im Wald. Draußen begann es zu schneien. Als es dunkel wurde, ging man wieder zurück und setzte sich zu Tisch.
Spätabends fuhren die Wagen vor und alle standen auf, um die Pferde nicht warten zu lassen. Alle waren fröhlich, einige mehr als das. Doch Gieshüblers Schlitten war nicht da: Eines seiner Pferde hatte den Kutscher verletzt und dieser lag nun im Stall. Doktor Hannemann sah sich die Verletzung an und sagte: „Der Kutscher kann nicht fahren, er muss hier bleiben und still liegen.“
Innstetten sagte, dass er Gieshüblers Schlitten nach Hause fahren könne. So fuhr er mit Gieshübler und dem Doktor. Hinter ihm folgten Crampas und der Pastor. Als Effi in den Schlitten einstieg, sagte Sidonie von Grasenabb, eine Landadlige: „Nun ist ja ein Platz frei bei Ihnen, darf ich mitfahren? In unserer Kutsche ist die Luft immer so schlecht. Und ich möchte so gern mit Ihnen plaudern. Aber nur bis Quappendorf, dann muss ich wieder in unsere unbequeme Kutsche.“
Effi hätte die Fahrt lieber alleine gemacht, aber sie hatte keine Wahl. Diesmal fuhren sie den Strand entlang, ganz nah am Wasser. Es schneite nicht mehr, die Luft war frisch und der Mond schien auf das dunkle Meer.
Plötzlich hielt der Schlitten. Die beiden Damen sahen, dass auch die zwei anderen Schlitten angehalten hatten.
„Was ist?“, fragte Effi.
Der Kutscher Kruse sagte: „Wir kommen hier nicht durch, wir sinken im Sand ein, gnädige Frau.“
Crampas stieg aus seinem Schlitten, um mit Innstetten zu bereden, was nun wohl zu tun sei.
„Kruse kennt sich hier aus, er soll es noch einmal versuchen“, sagte Innstetten. „Crampas, steig du bei den Damen ein, damit du helfen kannst, wenn der Schlitten umkippt.“
Crampas ging zu den Damen, setzte sich fröhlich in den Schlitten und rief Kruse zu: „Nun, vorwärts, Kruse.“
Die Pferde sanken wieder ein.
„Es geht nicht“, sagte Crampas, und Kruse nickte.
Nun waren auch die Kutschen da, und Sidonie von Grasenabb dankte Effi und verabschiedete sich. Die Kutschen konnten weiterfahren, obwohl die Pferde tief einsanken. Die Schlittenfahrer beschlossen, einen Umweg zu machen. Crampas war mit Sidonie ausgestiegen, nun kam er wieder zu Effi und sagte: „Ich kann Sie nicht allein lassen, gnädige Frau.“
Effi wusste zuerst nicht, was sie tun sollte, dann machte sie Crampas Platz, und er setzte sich. Crampas wusste, dass Effi nur tat, was sie musste. Es war für sie unmöglich, ihn wegzuschicken. Und so fuhren sie zusammen den beiden anderen Schlitten nach. Innstetten nahm einen schmalen Weg mitten durch den Wald. Effi erschrak. Bis dahin war es luftig und hell gewesen, aber jetzt war es damit vorbei. Über ihnen waren dunkle Bäume. Effi zitterte. Sie hatte Angst und zugleich war sie wie verzaubert.
„Effi“, hörte sie. Crampas Stimme zitterte. Er nahm ihre Hand und überdeckte sie mit heißen Küssen.
Als Effi die Augen wieder öffnete, war man aus dem Wald heraus. Vor sich hörte sie die anderen Schlitten. Endlich hielt der Schlitten vor dem landrätlichen Haus. Innstetten half Effi beim Aussteigen. Er blickte sie scharf an, sagte aber nichts über die seltsame Fahrt zu zweit.
Am nächsten Morgen stand er früh auf und war schlechter Laune.
„Du hast gut geschlafen?“, sagte er, als Effi zum Frühstück kam.
„Ja.“
„Schön. Ich kann dasselbe von mir nicht sagen. Ich träumte, dass du mit dem Schlitten eingesunken bist und Crampas dich retten wollte. Aber er versank mit dir.“
„Du sprichst so seltsam, Geert. Du bist wohl nicht einverstanden damit, dass Crampas kam und uns seine Hilfe anbot.“
„Uns?“
„Ja, uns. Sidonie und mir. Du musst vergessen habe, dass du Crampas zu uns geschickt hast. Hätte ich ihn wegschicken sollen, als die Fahrt weiterging? Dann hätten alle über mich gelacht, und da hast du doch so Angst davor.“
„Du hast recht, eigentlich bin ich selber schuld. Aber sei vorsichtig. Er mag junge Frauen. Ich kenne ihn von früher.“
„In Ordnung. Aber ich glaube, du schätzt ihn falsch ein.“
„Ich schätze ihn nicht falsch ein.“
„Oder mich“, sagte Effi und versuchte, ihm in die Augen zu blicken.
„Auch dich nicht, meine liebe Effi. Du bist eine wunderbare kleine Frau, aber Festigkeit ist nicht eben deine Spezialität.“
Als Innstetten ging und sie allein ließ, setzte sie sich an Annies Bettchen und weinte. Sie fühlte, dass sie nicht mehr aus der Sache herauskonnte. Sie wollte sich befreien, aber sie war nicht stark genug dafür. So ging es denn weiter, heute, weil sie es nicht ändern konnte, morgen, weil sie es nicht ändern wollte. So kam es, dass ihr Leben mehr und mehr zu einem Theaterspiel wurde. Manchmal erschrak sie, dass ihr das so leicht fiel.
Effi machte jeden Nachmittag einen langen Spaziergang. Das Wetter war schön und die Luft frisch. Sie ging meistens alleine und sagte zu Roswitha: „Hol mich beim Platz mit dem Karussell ab; da will ich auf dich warten. Und dann gehen wir zusammen zurück. Aber komme nur, wenn Annie schläft.“
Ein paar Tage ging das so. Meist aber, wenn Roswitha bei dem Karussell ankam, war niemand da, und wenn sie dann zurückkam und ins Haus trat, kam ihr Effi schon entgegen und sagte: „Wo du nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange hier.“