Kapitel 5. Umzug zu Professor Daumer
Kaspar kann am 18. Juli seine Wohnung auf dem Turm verlassen und zieht zu dem Gymnasialprofessor Daumer. Er hat einen guten Geist und ein gutes Herz. Er hat sich schon väterlich um die Bildung Kaspars gekümmert und nimmt ihn nun zur Erziehung und häuslichen Pflege zu sich.
Kaspar findet in der Familie dieses Mannes, dessen Mutter und Schwester den Ersatz für die Personen, die ihm die Natur gegeben hat und Menschenbosheit genommen hat.
Kaspar Hauser bekommt ein richtiges Bett, das ihm sehr gefällt. Erst seit er in einem Bett schläft, hat er Träume. Diese erkennt er aber anfangs nicht als Träume. Beim Erwachen erzählt er sie seinem Lehrer als wirkliche Ereignisse.
Eine der schwersten Aufgaben ist es, ihn an richtiges Essen zu gewöhnen. Als Erstes gewöhnt er sich an Wassersuppe, die er täglich lieber mag. Auch Mehlspeisen, Hülsenfrüchte und was sonst mit dem Brot Ähnlichkeit hat, isst er gern.
Langsam gewöhnt man ihn an Fleischspeisen. Professor Daumer schreibt in seinen Notizen: „Nachdem er zuletzt richtig Fleisch essen gelernt hat, hat sich seine geistige Wachheit vermindert.
Die Augen haben ihren Glanz und Ausdruck verloren. Seine Lust nach Tätigkeit ist schwächer und das Intensive seines Wesens ist zu Zerstreuungssucht und Gleichgültigkeit geworden. Auch die Fähigkeit seines Verstandes hat abgenommen.“
Es ist schwer zu entscheiden, ob dies die Folge der Fleischspeisen oder die Folge der schmerzhaften Überreizung ist. Das Essen warmer Speisen und einiger Fleischspeisen hat aber sicherlich großen Einfluss auf sein Wachstum. Im Daumerschen Haus wächst er nach wenigen Wochen um zwei Zoll.
Seine entzündeten Augen und die Kopfschmerzen, die er bei jeder Anstrengung des Gesichts bekommt, machen ihm das Lesen, Schreiben und Zeichnen unmöglich. Deshalb beschäftigt Herr Daumer ihn mit Papparbeiten, wobei er geschickt ist. Auch lehrt er ihn das Schachspiel, das er schnell erlernt und mit Freude übt. Außerdem beschäftigt man ihn mit leichten Gartenarbeiten und macht ihn mit der Natur bekannt.
Jeden Tag lernt er unzählig Neues und er zeigt darüber Befremden, Bewunderung und Erstaunen.
Als er zum ersten Mal das große Kruzifix an der Außenseite der Sebalduskirche sieht, ist er entsetzt und will, dass man den Menschen von dort oben herunternimmt. Er gibt sich lange nicht zufrieden, obwohl man versucht, ihm zu erklären, dass dieses kein wirklicher Mensch, sondern nur ein Bild ist und deshalb nichts empfindet.
Gegenstände hält er für belebt und ihre Bewegungen für freiwillig. Ein Blatt Papier, das der Wind herunterweht, ist vom Tisch weggelaufen. Ein Kinderwagen, der von einer Anhöhe herab rollt, macht sich den Spaß, sich selbst von der Höhe herab zu fahren.
Der Baum bewegt seine Zweige und Blätter und zeigt so Leben. Er spricht, wenn der Wind durch seine Blätter weht. Für Kaspar laufen die Kugeln einer Kegelbahn freiwillig, tun anderen Kugeln weh und sind, wenn sie endlich stillstehen, vom Laufen müde.
Professor Daumer versucht ihm vergeblich zu erklären, dass eine Kugel sich nicht freiwillig bewegen kann. Kaspar versteht dies erst, als er selbst aus seinem Brot eine Kugel formt und diese vor sich hin und her rollen lässt.
Für längere Zeit glaubt er, die Tiere haben die gleichen Eigenschaften wie die Menschen und er unterscheidet sie nur durch ihr Aussehen. Er ärgert sich darüber, dass die Katze beim Essen nur mit dem Mund isst und nicht ihre Hände gebraucht. Er versucht, sie das Essen mit den Pfoten und das aufrechte Gehen zu lehren und spricht mit ihr wie mit einem Menschen.
Als er zum ersten Mal einen Regenbogen sieht, zeigt er im ersten Augenblick Wohlgefallen, sieht dann aber kurz danach in eine andere Richtung. Die Frage, wer dieses Ding gemacht hat, liegt ihm viel mehr am Herzen als die Schönheit des Regenbogens selbst.
Ein großes, für ihn unvergessliches Ereignis seines geistigen Lebens findet im Monat August 1829 statt, als ihm an einem schönen Sommerabend sein Lehrer zum ersten Mal den Sternenhimmel zeigt. Sein Erstaunen und Entzücken sind sehr groß.
Er kann nicht auf hören, den Himmel anzusehen. Er schaut immer wieder zum Himmel, betrachtet die verschiedenen Sterngruppen und bemerkt die hellen Sterne mit ihren verschiedenen Farben. Er ruft: „Das ist aber doch das Schönste, was ich noch auf der Welt gesehen habe. Wer aber hat die vielen schönen Lichter da hinauf gestellt? Wer macht sie an? Wer macht sie wieder aus?“
Man sagt ihm, dass sie, wie auch die Sonne, immer weiter leuchten, auch wenn man sie nicht immer sehen kann. Er fragt wieder, wer sie denn da oben hinaufgesetzt hat, sodass sie immer leuchten.
Am Ende kommt er in tiefes, ernstes Nachdenken. Sein Entzücken wechselt in Schwermut. Er fragt, warum der böse Mann ihn immer eingesperrt gehalten hat und von allen diesen schönen Sachen nichts gezeigt hat. Er bricht in ein langes Weinen aus und sagt, dass man auch den Mann ein paar Tage einsperren soll. So versteht er, wie hart dies ist. Vor diesem Ereignis hat Kaspar nie Verärgerung über den Mann gezeigt, noch weniger wollte er dessen Bestrafung.
Nur die Müdigkeit kann seine Empfindungen zur Ruhe bringen. Er schläft erst spät ein.
Seit er in Daumers Familie lebt, beginnt er über sein Schicksal nachzudenken. Er versteht immer mehr, was es ihm nicht gegeben hat und was es ihm weggenommen hat. Das ist eine schmerzliche Empfindung für ihn.
Er lernt erst hier, was eine Familie, Verwandtschaft und Freundschaft ist und wie das menschliche Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern ist. Erst hier bekommen die Namen Mutter, Schwester und Bruder für ihn eine Bedeutung. Er sieht, dass sie durch gegenseitige Liebe verbunden sind und sich umeinander kümmern.
Man findet ihn, wie er mit Tränen in den Augen und sehr nachdenklich auf seinem Stuhl sitzt. Als man ihn fragt, was er denn wieder hat, antwortet er: „Ich habe darüber nachgedacht, warum ich nicht auch eine Mutter, einen Bruder und eine Schwester habe; weil dies doch so schön ist.”
Kaspar ist sehr reizbar und soll deshalb keine geistigen Anstrengungen machen. Außerdem sollen körperliche Beschäftigungen seinen schwachen Körper stärken und für seine Gesundheit förderlich sein. Er hat besondere Lust zum Reiten. Wie früher die hölzernen Rosse, ist für ihn das lebende Pferd das schönste Wesen.
Wenn er einen Reiter auf einem Ross sieht, hat er den starken Wunsch, auch einmal so ein Ross unter sich zu haben. Der Stallmeister von Nürnberg, Herr von Rumpler, nimmt ihn als seinen Schüler.
Kaspar beobachtet den Lehrer und die anderen Schüler mit großer Aufmerksamkeit und lernt die Regeln und Elemente der Reitkunst sehr schnell.
Nach wenigen Tagen ist er ein besserer Reiter als die Schüler, die schon mehrere Monate lang Unterricht hatten. Seine Haltung, sein Mut und die richtige Führung des Pferdes überraschen jeden.
Schon bald möchte er mit dem Ross ins Freie, und hier zeigt er große Geschicklichkeit, Ausdauer, Härte und Zähigkeit des Körpers. Er reitet oft viele Stunden lang ohne Unterbrechung, ohne müde zu werden, ohne sich wund zu reiten oder Schmerzen in den Beinen oder am Gesäß zu empfinden.
Professor Daumer glaubt, dass der Grund für die Unempfindlichkeit seines Hinterteils das vieljährige Sitzen auf dem harten Boden ist. Das ist möglich. Man kann aus der Pferdelust Hausers und seiner instinktmäßigen Reitergeschicklichkeit außerdem den Schluss ziehen, dass er von Geburt zu einer Reiternation gehört.
Ein aufmerksamer Polizeimann ist durch das auffallende Reitertalent Kaspars zu der Hypothese gekommen, dass Kaspar vielleicht ein englischer Kunstreiter ist, der seiner Gruppe weggelaufen ist und nun vor den gutmütigen Nürnbergern eine Komödie spielt.