Kapitel 7. Das Attentat
Kaspar Hauser wurde zur gefährlichen Last für die Person, die ihn versteckt gehalten hat. Das ist meine Vermutung. Das Kind, das man lange gefüttert hat, ist zum Knaben und dann zum Jüngling herangewachsen. Er hat angefangen, unruhig zu werden. Seine Kräfte wurden wach.
Warum hat man ihn nicht getötet, warum hat man ihn nicht schon als Kind aus der Welt geschafft? Ob er nicht vielleicht seinem Wärter in mörderischer Absicht übergeben wurde? Wollte dieser passendere Zeiten abwarten oder hat er das Kind auf eigene Gefahr am Leben erhalten und gefüttert? Das bleibt der Vermutung eines jeden überlassen.
Der Versteckte konnte nicht länger verborgen gehalten werden. Man musste ihn loswerden und hat ihn im Bettlergewand nach Nürnberg gebracht. Man hat gehofft, dass er als Vagabund oder Blödsinniger in einer öffentlichen Anstalt oder als Soldat in einem Regiment verschwindet.
Der unbekannte Findling aber findet menschliche Teilnahme und wird Gegenstand öffentlicher, allgemeiner Aufmerksamkeit. Die Zeitungen füllen sich mit Nachrichten und Nachfragen über den rätselhaften jungen Mann. Er ist zuerst das Adoptivkind Nürnbergs und wird dann sogar das Kind Europas. Man spricht überall von Kaspar Hausers geistiger Entwicklung.
Und nun schreibt dieser Halbmensch seine Lebensbeschreibung!
Wer sein Leben beschreibt, kann von seinem Leben etwas erzählen. Diejenigen, die im Dunkeln bleiben wollen, haben deshalb bei der Nachricht von der Autobiografie Kaspars Angst bekommen.
Der Plan, den armen Kaspar in der fremden Welt lebendig zu begraben, war verhindert. Nun wird, wie die geheimen Verbrecher wahrscheinlich glauben, Kaspars Ermordung für sie eine Art von Notwehr.
Kaspar besucht immer vormittags von elf bis zwölf Uhr außer Haus eine Rechenstunde. Aber am Sonnabend, dem 7. Oktober, bleibt er zu Hause, weil er sich unwohl fühlt. Professor Daumer macht um diese Zeit einen Spaziergang. Außer Kaspar bleiben nur Daumers Mutter und seine Schwester im Haus zurück, die mit der Reinigung des Hauses beschäftigt sind.
Das Haus liegt in einem entfernten, wenig besuchten Teil der Stadt, auf einem sehr großen, kaum übersehbaren Platz. Das Haus ist, nach alter Nürnberger Art, sehr unregelmäßig gebaut, voller Ecken und Winkel. Das Vordergebäude bewohnt der Hausherr und im Hintergebäude hat die Daumersche Familie ihre Wohnung.
Man geht durch eine eigene Haustür und über einen Hofgang zur Treppe der Daumerschen Wohnung. Auf diesem Gang gibt es eine Holzkammer und andere ähnliche Räume. In einem Winkel dicht unter einer Wendeltreppe ist ein niedriger und enger Abtritt.
Wer sich auf dem Gang in der Nähe der Holzkammer befindet, kann sehr gut beobachten, wer von der Treppe herunterkommt und auf den Abtritt geht.
Als gegen zwölf Uhr desselben Tages die Schwester des Professors Daumer, Katharina, mit dem Fegen der Wohnung beschäftigt ist, bemerkt sie auf der Treppe mehrere Blutflecken und blutige Fußspuren. Sie wischt sie sofort auf und denkt sich dabei nichts Schlimmes.
Sie meint, Kaspar hat auf der Treppe aus der Nase geblutet. Sie geht auf sein Zimmer, doch dort findet sie Kaspar nicht. Sie bemerkt aber in seinem Zimmer, in der Nähe der Tür, ebenfalls ein paar blutige Fußtritte.
Als sie die Treppe wieder herabgeht und den Gang im Hof fegen will, sieht sie wieder einzelne Blutspuren auf dem Boden. Sie kommt bis zum Abtritt und hier ist eine ganze Menge Blut. Sie zeigt es der gerade vorbeikommenden Tochter des Hausherrn. Diese meint, es ist das Blut von einer Katze, die hier Junge geworfen hat. Daumers Schwester spült das Blut sofort weg. Sie glaubt, dass Kaspar in die Blutlache getreten ist und beim Hinaufgehen seine Füße nicht gereinigt hat.
Es ist bereits nach zwölf Uhr. Der Tisch ist gedeckt und Kaspar, der sonst immer um diese Stunde pünktlich zum Essen kommt, ist nicht da. Die Mutter von Professor Daumer geht deshalb aus ihrem Zimmer herab, um Kaspar zu suchen. Sie findet ihn nirgends. Schon will sie wieder hinauf in ihr Zimmer gehen, als sie etwas an der Kellertür sieht, das wie Blut aussieht. Sie macht die Kellertür auf und bemerkt auf allen Kellerstufen teils Blutstropfen, teils größere Blutflecken. Sie steigt bis zur untersten Stufe herab und sieht etwas Weißes.
Sie eilt zurück und sagt der Magd des Hausherrn, dass sie mit einem Licht in den Keller gehen soll und nachsehen soll, was darin liegt.
Diese leuchtet auf den Gegenstand hin und schreit: „Da liegt der Kaspar tot!“
Die Magd und der Sohn des Hausherrn, der nun auch herbeigekommen ist, heben Kaspar vom Boden auf und tragen ihn aus dem Keller. Er gibt kein Lebenszeichen von sich und sein totenbleiches Gesicht ist mit Blut bedeckt. Oben angekommen gibt er durch ein starkes Stöhnen das erste Lebenszeichen. Dann ruft er: „Mann! Mann!“ Er wird sofort ins Bett gebracht. Dort schreit er mit geschlossenen Augen von Zeit zu Zeit Worte und unvollständige Sätze und murmelt sie dann vor sich hin.
Er bekommt einen starken Fieberfrost, der bald in heftige Anfälle und schließlich in völlige Tobsucht übergeht. Einige starke Männer haben Mühe, ihn zu halten. In seinen Delirien, während der Nacht, spricht er von Zeit zu Zeit folgende unvollständige Sätze:
„Mann weg!- Mann kommt!- Nicht umbringen!- Nicht Mund zuhalten!- Nicht sterben!- Meine Notdurft verrichten!- Schon Kopfweh!- Der Mann mich umbringen!- Weg!- Ich alle Menschen lieb!- Warum du mich umbringen? Ich dir niemals was tun.- Ich bitten, dass du nicht eingesperrt wirst.- Hast mich niemals heraus getan aus meinem Gefängnis. - Du mich zuerst umgebracht, ehe ich verstanden, was Leben ist.- Du musst sagen, warum du mich eingesperrt gehabt!“
Die meisten dieser Sätze wiederholt er sehr oft zusammenhangslos.
Der Gerichtsarzt Dr. Preu untersucht Kaspar am 20. Oktober und findet die Stirn in der Mitte durch eine scharfe Wunde verletzt. Über die Größe und Beschaffenheit gibt der Arzt zu Protokoll: „Die Wunde befindet sich auf der Stirn. Die ganze Länge der in gerader Linie verlaufenden Wunde beträgt 19 1/2 Linien. Was die Entstehung der Wunde betrifft, so ist sie mit einem sehr schneidenden Instrument verursacht worden, am wahrscheinlichsten durch einen Hieb.“
Die Wunde ist, wie der Arzt erklärt, unbedeutend und kann leicht in sechs Tagen heilen. Bei seinem höchst reizbarem Nervensystem wird Kaspar aber erst nach 22 Tagen gesund.
Kaspar erzählt das Ereignis folgendermaßen: „Am 17. muss ich die Rechenstunde, die ich täglich bei Herrn E. von 11 bis 12 Uhr besuche, ausfallen lassen. Ich fühle mich höchst unwohl.
Herr Professor Daumer sagt mir, dass ich meine Stunde nicht besuchen soll, sondern zu Hause bleiben soll. Herr Professor Daumer geht aus und ich gehe auf mein Zimmer. Ich will mich etwas mit Schreiben beschäftigen, aber Bauchschmerzen hindern mich daran.
Ich muss auf den Abtritt gehen. Dort höre ich von der unteren Holzkammer ein Geräusch. Das Geräusch ist mit dem Öffnen der Tür verbunden und mir wohl bekannt. Sofort danach höre ich leise Fußtritte vom unteren Gang. Dann sehe ich, dass ein Mann den Gang entlang schleicht. Ich bemerke den schwarzen Kopf des Mannes und denke, es ist der Schornsteinfeger.
Als ich von dem Sitz des Abtritts aufstehe und meine Hose wieder hochziehen will, strecke ich meinen Kopf aus dem engen Abtritt etwas hervor. Plötzlich steht der schwarze Mann vor mir und gibt mir einen Schlag auf den Kopf. Ich falle sofort mit dem ganzen Körper auf den Boden vor dem Abtritt. Vom Gesicht und den Haaren dieses Mannes kann ich nichts sehen. Ich glaube, dass er sich ein schwarzes Tuch über den ganzen Kopf gezogen hat.
Ich bin lange bewusstlos und komme dann endlich wieder zu mir. Ich spüre etwas Warmes, das mir über das Gesicht läuft, und greife mit beiden Händen nach der Stirn. Die Hände werden blutig. Darüber erschrecke ich mich und will zur Mutter hinaufgehen. Ich komme aber in der Verwirrung und Angst nicht zur Tür der Mutter, sondern an den Kleiderschrank vor meiner Stube.
Ich fürchte, dass der Mann, der mich geschlagen hat, noch im Haus ist und mich ein zweites Mal schlägt. Ich versuche, mich mit der Hand am Schrank aufrecht zu halten. Als ich mich erholt habe, will ich wieder zur Mutter hinauf. Ich bin immer noch verwirrt und gehe aber die Treppe herab und befinde mich, zu meinem Entsetzen, wieder unten im Gang. Als ich die Kellertür sehe, habe ich den Gedanken, mich im Keller zu verstecken. Ich mache die schwere Falltür auf, gehe in den Keller hinein und setze mich auf den Boden.
Ich denke mir, nun bist du hier so ganz verlassen. Es wird dich niemand finden, und hier wirst du umkommen.
Dieser Gedanke füllt meine Augen mit Tränen und ich muss mich erbrechen. Dann verliere ich das Bewusstsein.
Als ich mein Bewusstsein wieder erlange, bin ich in meiner Stube auf dem Bett und die Mutter ist neben mir.“
Ich habe mehrere Gründe zu glauben, dass man es bei der Verwundung nicht auf die Stirn, sondern auf den Hals abgesehen hat. Aber weil Kaspar sich beim Anblick des Mannes instinktmäßig mit dem Kopf gebückt hat, leitet er den Hieb zur Stirn hinauf.
Der Täter kann, weil Kaspar sofort blutend zusammenstürzt, sein Werk für gelungen halten. Er muss jeden Augenblick befürchten, von jemandem entdeckt zu werden und darf deshalb nicht länger bei seinem Opfer bleiben. So kommt Kaspar mit einer Stirnwunde davon.
Bald gibt es mehrere Hinweise auf Spuren des Täters. Am selben Tag, zur selben Stunde der Tat wird der von Kaspar beschriebene Mann gesehen, als er sich wieder aus dem Daumerschen Haus entfernt.
Um dieselbe Zeit wird die Person gesehen, wie sie sich nicht weit vom Daumerschen Haus in dem Wasserbecken auf der Straße die wahrscheinlich blutigen Hände wäscht.
Ungefähr vier Tage nach der Tat hat sich vor den Toren der Stadt ein eleganter Herr bei einer Frau nach dem verwundeten Hauser erkundigt. Er trägt Kleider wie der von Hauser beschriebene schwarze Mann. Er liest den Anschlag über die Verwundung Hausers und entfernt sich dann auf höchst verdächtige Art wieder, ohne die Stadt zu betreten.