Kapitel 8. Kaspar heute
Würde Kaspar heute, der jetzt zu den gesitteten Menschen gerechnet werden kann, unerkannt in eine gemischte Gesellschaft treten, so würde er bald jedem als eine fremde Erscheinung auffallen. In seinem Gesicht vermischen sich die weichen Züge eines Kindes mit den eckigen Formen des Mannes und einigen leichten Falten. Es vermischen sich liebenswerte Freundlichkeit mit Ernst und leichter Melancholie.
Er besitzt Naivität, zutrauliche Offenheit und kindliche Unerfahrenheit. Diese sind verbunden mit einer bestimmten Art von Altklugheit und vornehmer, aber natürlicher Gravität im Reden und Benehmen. Er spricht langsam, sucht manchmal nach Worten und seine Sprache klingt fremd und hart. Seine Haltung und seine Bewegungen sind steif. Deshalb scheint er ein Gemisch von Kind, Jüngling und Mann zu sein.
Er hat nichts von Genialität, nicht einmal von einem besonderen Talent. Was er lernt, verdankt er seinem Fleiß. Sein anfänglicher Feuereifer ist schwächer geworden, fast verschwunden. Bei allem, was er macht, bleibt er am Anfang oder bei der Mittelmäßigkeit stehen. Er hat einen gesunden Menschenverstand, aber kein bisschen Fantasie, keinen Humor und er kann keine bildliche Redensart verstehen.
Sein Reden und Benehmen zeigt oft eine kontrastierende Mischung von Männlichkeit und kindischem Wesen.
Mit ernster Miene und wichtigem Ton macht er Äußerungen, die bei jedem anderen seines Alters als dumm und kindisch erscheinen würden.
Er ist mild, ohne lasterhafte Neigungen und Leidenschaften.
Er ist unfähig, einem Tier wehzutun, aber seit dem Attentat ist er furchtsam und er wird rücksichtslos, wenn es darum geht, Recht durchzusetzen.
Er ist gehorsam, willig und nachgebend. Wenn ihm aber jemand mit Unrecht an etwas Schuld gibt oder etwas behauptet, was er für unwahr hält, besteht er auf seinem Recht.
Er ist ein reifer Jüngling, der seine Kindheit und Jugend verschlafen hat; zu alt, um noch als Kind zu gelten und zu kindlich unwissend, um als Jüngling zu gelten; ohne Altersgenossen, ohne Vaterland, ohne Eltern und Verwandte.
Jeder Augenblick erinnert ihn an seine Einsamkeit mitten in der umgebenden Welt, an seine Ohnmacht und Schwäche gegenüber der Macht seines Schicksals und besonders an seine Abhängigkeit von der Gunst oder Ungunst der Menschen.
Deshalb ist er fähig, die Menschen zu beobachten und mit seinem scharfen Blick ihre Besonderheiten und Schwächen zu verstehen. Seine Klugheit hilft ihm, seinen Freunden und Gönnern zu gefallen und seine Wünsche zu äußern. So kann er deren guten Willen zu seinem Vorteil nutzen.
Einer der größten Fehler in der Erziehung dieses Menschen ist sicherlich, dass man ihn seit einigen Jahren auf das Gymnasium schickt. Dort hat er außerdem sogar in einer höheren Klasse den Anfang gemacht.
Der arme Jüngling hat erst vor Kurzem den ersten Blick in die Welt getan und muss noch nachholen, was unsere Kinder schon an der Mutterbrust lernen.
Er muss auf einmal seinen Kopf mit der lateinischen Grammatik, Übungen und Texten quälen.
Sein Geist erlebt so eine zweite Gefangenschaft. Wie früher die Gefängnismauern sperren ihn jetzt die Wände der Schulstube von der Natur und dem Leben aus. Statt nützlicher Dinge gibt man ihm Worte und Phrasen, die er nicht versteht und verlängert so auf unnatürliche Art seine Kindheit. Er vergeudet seine Zeit und seine geringen Kräfte mit dem Schulstoff.
Es fehlt ihm aber an Wissen über Dinge, die seine Seele nähren und erfreuen, etwas Ersatz für die verlorene Jugend geben und ihm für einen Beruf nutzen können.
Er hat das drückende Gefühl von Unwissenheit und Abhängigkeit. Er weiß, dass er die verlorene Jugend nicht nachholen kann, nicht wie seine Altersgenossen sein kann und in der Welt kein brauchbarer Mensch werden kann. Er weiß, dass man mit seiner Jugend nicht nur den schönsten Teil des Menschenlebens genommen hat, sondern auch sein ganzes restliches Leben im Wert herabgesetzt hat.
Außerdem hat er den grauenhaften Gedanken, dass ihm jeden Augenblick ein unsichtbares Mordbeil, ein Banditenmesser droht. Dies alles ist der schwere Inhalt der Trauerwolken, die ihn umgeben. Wenn äußere Anlässe zunehmen, werden sie nicht selten zu Tränen oder Klagen.
Zur Zeit seines Aufenthalts bei mir nehme ich ihn oft mit auf meine Spaziergänge. An einem schönen Morgen führe ich ihn einmal auf einen unserer Berge. Von dort aus hat man eine gute Aussicht auf die hübsche Stadt und das Tal.
Kaspar ist anfangs von diesem Anblick sehr erfreut, wird aber dann bald still und traurig. Auf meine Frage nach der Ursache seiner veränderten Stimmung antwortet er:
„Ich denke, wie viel Schönes es auf der Welt gibt. Wie hart es für mich ist, dass ich schon so lange gelebt habe und nichts davon gesehen habe. Wie glücklich die Kinder sind, die dies alles von ihren ersten Jahren an sehen konnten und noch immer sehen können. Ich bin schon so alt und muss immer noch lernen, was die Kinder schon lange wissen.
Ich wünsche mir, ich wäre nie aus meinem Käfig gekommen. Wer mich dort hineingetan hat, hätte mich darin lassen sollen. Dann hätte ich von all dem nichts gewusst und hätte nichts vermisst. Ich hätte kein Leid darüber gehabt, dass ich kein Kind gewesen bin und so spät auf die Welt gekommen bin.“
Ich versuche ihn zu beruhigen und sage, dass er keinen Grund hat, sich zu beklagen. Die meisten Menschen, die mit den Schönheiten der Natur aufgewachsen sind, sehen sie als etwas Gewöhnliches, Alltägliches, mit gleichgültigen Augen. Er aber ist als Jüngling in die für ihn neue Welt gekommen und kann sie in ihrer Frische und Reinheit genießen.
Das ist ein guter Ersatz für den Verlust der früheren Jahre und ein bedeutender Vorteil gegenüber anderen Menschen.
Er antwortet nichts. Er scheint nicht überzeugt zu sein, aber etwas getröstet. Er wird zu keiner Zeit über sein Schicksal ganz zu trösten sein.
Bei diesen Stimmungen, bei diesem Gefühl findet die Religion, der Glaube an Gott und gläubiges Hoffen an die Vorsehung, Eingang in seine Seele. Er ist jetzt wirklich ein frommer Mensch. Er ist frei von jedem Aberglauben. Er spottet sehr über den Glauben an Gespenster und fürchtet nur den Unsichtbaren mit dem Mordwerkzeug.
Seine Lebensweise ist jetzt fast wie die anderer Menschen. Er isst, bis auf Schweinefleisch, alle Arten von Speisen, aber ohne starke Gewürze. Sein Getränk ist immer noch Wasser. Nur morgens trinkt er eine Tasse Gesundheitsschokolade. Vor Getränken wie Bier, Wein, Tee und Kaffee hat er immer noch Abscheu und ein Tropfen davon würde ihn sicher krank machen.
Die besondere, fast übernatürliche Erhöhung seiner Sinne ist fast auf die normale Stärke zurückgegangen. Er sieht zwar immer noch im Dunkeln, sodass es für ihn keine wirkliche Nacht gibt. Er kann aber nicht mehr im Dunkeln lesen oder, wie früher, in weiterer Entfernung die kleinsten Gegenstände erkennen. Wie andere Menschen liebt er nun das Sonnenlicht, das nicht mehr wie früher seine Augen verletzt.
Von der Größe seines Gedächtnisses und anderen erstaunlichen Eigenschaften ist nichts mehr zu finden. Nichts Außerordentliches ist mehr an ihm als das Außerordentliche seines Schicksals und seiner unbeschreiblichen Güte und Liebenswürdigkeit.