Fünftes Kapitel - Drei zerrissene Fäden - 03
Eine neue Zutat zu der sich fortwährend vergrößernden Reihe von kleinen Geheimnissen, die uns in dem kurzen Zeitraum von zwei Tagen entgegengetreten waren: der Empfang des Briefes mit den Druckbuchstaben, der schwarzbärtige Spion in der Droschke, das Abhandenkommen des alten schwarzen, und jetzt das Wiederauffinden des neuen braunen Schuhs. Holmes saß schweigend in der Droschke, als wir nach der Bakerstraße zurückfuhren, und ich sah an seinen gerunzelten Brauen und den scharf zusammengezogenen Gesichtszügen, daß sein Geist ebenso wie der meinige eifrig an der Arbeit war, eine Theorie auszudenken, in deren Rahmen alle diese seltsamen und anscheinend zusammenhanglosen Ereignisse sich einfügen ließen. Als wir zu Hause waren, saß er den ganzen Nachmittag und noch einen guten Teil des Abends in dicken Tabaksqualm eingehüllt und tief in Gedanken versunken.
Unmittelbar bevor wir zu Tisch gingen, wurden zwei Telegramme zugestellt. Das erste lautete:
»Soeben erfahren, daß Barrymore in Baskerville Hall ist. Baskerville.«
Das zweite meldete uns:
»Weisungsgemäß dreiundzwanzig Hotels aufgesucht, ausgeschnittenes Timesblatt leider nicht auffindbar. – Cartwright.«
»Da reißen zwei von meinen Fäden, Watson. Nichts macht aber den Geist schärfer als ein Fall, wo alles schief geht. Wir müssen uns nach einer anderen Spur umsehen.«
»Wir haben noch den Droschkenkutscher, der den Spion fuhr.«
»Allerdings. Ich habe an die Zentralstelle für das Fuhrwesen telegraphiert, sie möchten mir Namen und Wohnung des Mannes mitteilen … Ich sollte mich nicht wundern, wenn wir hier die Antwort auf meine Frage bekämen.«
Es hatte in diesem Augenblick geläutet, und dieses Zeichen bedeutete sogar noch Besseres als eine bloße Antwort, denn die Tür ging auf und herein kam ein vierschrötiger Mann, offenbar der Kutscher selber.
»Ich kriegte Bescheid vom Amt,« sagte er, »ein Herr, der hier in der Bakerstraße wohnt, hätte nach mir gefragt. Ich habe meine Droschke nun schon sieben Jahre lang gefahren und nie eine Klage gehabt. Darum komme ich vom Stall und frage Sie gerade ins Gesicht, was Sie gegen mich haben.«
»Ich habe ganz und gar nichts gegen Sie, mein guter Mann,« sagte Holmes. »Im Gegenteil, ich habe einen halben Sovereign für Sie, wenn Sie mir klare und deutliche Antworten auf meine Fragen geben wollen.«
»Nu, ich hab' 'n guten Tag gehabt und 's war alles sauber,« sagte der Kutscher grinsend. »Was möchten Sie wissen, Herr?«
»Zu allererst Ihren Namen und Ihre Adresse, für den Fall, daß ich Sie später noch einmal brauchen sollte.«
»John Clayton, Turpay Street Nummer 3, im Borough. Meine Droschke gehört zu Shipleys Fuhrgeschäft, dicht beim Waterloo-Bahnhof.«
Sherlock Holmes schrieb sich die Adresse auf und fuhr fort:
»Nun, Clayton, sagen Sie mir alles, was Sie von dem Mann wissen, der heute morgen um zehn in Ihrer Droschke hier nahe bei meinem Haus wartete und Sie nachher die Regent Street hinunter hinter den beiden Herren herfahren ließ.«
Der Mann war verdutzt und wurde ein bißchen verlegen.
»Na,« sagte er nach einigem Besinnen, »da hat's wohl nicht viel Zweck, daß ich Ihnen Geschichten erzähle. Denn Sie wissen ja wohl schon so viel davon wie ich selber. Die Sache ist die: Der Herr sagte mir, er wäre Detektiv, und ich dürfte keinem Menschen was über ihn sagen.«
»Mein lieber Mann, es handelt sich um eine sehr ernste Sache, und Sie könnten in eine recht häßliche Klemme kommen, wenn Sie versuchen sollten, mir irgend etwas zu verheimlichen. Sie sagen, Ihr Fahrgast erzählte Ihnen, er wäre Detektiv?«
»Jawohl, das tat er.«
»Wann sagte er das?«
»Als er fortging.«
»Sagte er sonst noch was?«
»Ja, er nannte seinen Namen.«
Holmes warf einen schnellen Blick voller Triumph auf mich und sagte:
»O, er nannte seinen Namen – wirklich? Das war unvorsichtig. Was war das denn für ein Name?«
»Sein Name,« antwortete der Droschkenkutscher, »war Sherlock Holmes.«
Niemals sah ich bei meinen Freund einen derart verblüfften Gesichtsausdruck wie bei diesen Worten des Droschkenkutschers. Einen Augenblick lang saß er sprachlos da. Dann brach er in ein herzliches Lachen aus und rief:
»Eine Abfuhr, Watson – eine unleugbare Abfuhr. Ich bin da an eine Klinge geraten, die ebenso schnell und gewandt ist wie die meinige. Der Mann hat mir diesmal wirklich gut heimgeleuchtet. Also sein Name war Sherlock Holmes, sagten Sie?«
»Jawohl, Herr, so hieß der Herr!«
»Ausgezeichnet. Sagen Sie mir, wie Sie mit ihm zusammenkamen, und alles, was sich sonst noch zutrug.«
»Um halb zehn sprach er mich auf dem Trafalgar Square an. Er sagte, er wäre Detektiv, und bot mir zwei Guineen, wenn ich den ganzen Tag genau täte, was er verlangt, und keine Fragen stellen würde. Natürlich griff ich mit beiden Händen zu. Zuerst fuhren wir zum Northumberland-Hotel und warteten da, bis zwei Herren herauskamen und in eine von den Droschken am Halteplatz stiegen. Wir fuhren ihrem Wagen nach, bis er irgendwo hier in der Nähe anhielt.«
»Hier vor meiner Tür,« fiel Holmes ein.
»Nu, das kann ich nicht so genau sagen, aber mein Fahrgast wußte jedenfalls über alles Bescheid. Ein Stück weiter die Straße hinunter hielten wir ebenfalls, und da warteten wir anderthalb Stunden. Dann kamen die beiden Herren bei uns vorbei; sie gingen zu Fuß, und wir fuhren hinter ihnen her die Bakerstraße hindurch, und dann …«
»Weiß schon,« sagte Holmes.
»… bis wir schließlich ungefähr drei viertel von der Regent Street entlang gefahren waren. Da stieß plötzlich der Herr in meiner Droschke die Klappe auf und rief mir zu, ich sollte so schnell wie möglich direkt zum Waterloo-Bahnhof fahren. Ich schlug auf meinen Gaul ein, und in weniger als zehn Minuten waren wir da. Er bezahlte mir meine zwei Guineen in blankem Gold in die Hand und ging in den Bahnhof hinein. Im Augenblick, als er wegging, drehte er sich um und sagte: ›Vielleicht interessiert es Sie, zu hören, daß Sie Sherlock Holmes gefahren haben?‹ – Auf die Art erfuhr ich seinen Namen.«
»Ich verstehe. Und weiter sahen und hörten Sie nichts von ihm?«
»Nachdem er in das Bahnhofsgebäude hineingegangen war, nicht mehr.«
»Und könnten Sie mir wohl Herrn Sherlock Holmes ein bißchen beschreiben?«
Der Kutscher kratzte sich hinterm Ohr.
»Hm, ja, es war eigentlich nicht so'n Herr, den man so ganz leicht beschreiben kann. Ich möchte ihn auf etwa vierzig Jahre schätzen; er war mittelgroß, so zwei bis drei Zoll kleiner als Sie. Angezogen war er mächtig fein, und er hatte einen schwarzen Bart, der unten breit abgeschnitten war, und ein blasses Gesicht. Weiter wüßte ich nichts über ihn zu sagen.«
»Die Farbe seiner Augen?«
»Nein, davon kann ich nichts sagen.«
»Und sonst können Sie sich wirklich auf nichts mehr besinnen?«
»Nein, Herr, das ist alles.«
»Na, hier ist Ihr halber Sovereign, und ein anderer halber wartet auf Sie, wenn Sie mir eine neue Auskunft bringen können. Guten Abend.«
»Guten Abend Herr, und schönen Dank.«
John Clayton ging, von innerer Heiterkeit erfüllt, aus der Tür, und Holmes wandte sich mit einem Achselzucken und mit einem etwas kümmerlichen Lächeln zu mir und sagte:
»Schnapp! Da geht der dritte Faden entzwei, und wir stehen wieder am Anfang. Der schlaue Schuft. Er kannte unsere Hausnummer, wußte, daß Sir Henry Baskerville mich um Rat gefragt hatte, und erriet in der Regent Street, wer ich war. Dann dachte er sich, daß ich mir wahrscheinlich die Nummer seiner Droschke gemerkt hatte und daher leicht an den Kutscher herankommen könnte, deshalb schickte er mir diese freche Nachricht. Ich sage dir, Watson, diesmal haben wir's mit einem Gegner zu tun, der unserer Klinge würdig ist. Ich bin in London matt gesetzt. Ich kann nur hoffen, daß du in Devonshire mehr Glück hast. Aber es macht mir schwere Sorgen.«
»Was denn?«
»Daß ich dich hinschicke. Es ist eine eklige Geschichte, Watson, eine eklige, gefährliche Geschichte, und je mehr ich davon zu sehen bekomme, desto weniger gefällt sie mir. Ja, mein lieber Freund, du magst darüber lachen, aber auf mein Wort, ich werde froh sein, wenn ich dich wieder heil und gesund hier in der Bakerstraße habe.«