Zwölftes Kapitel - Tod auf dem Moor - 02
Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung senkte sich auf das Moor herab. Die Luft war kühl geworden und daher zogen wir uns in die Hütte zurück, wo es wärmer war. Dort saßen wir im Zwielicht nebeneinander und ich berichtete Holmes von meiner Unterhaltung mit der Dame. Sie interessierte ihn in so sehr, daß ich manche Stellen wiederholen mußte, ehe er zufrieden war.
»Dies ist von höchster Wichtigkeit,« rief er, als ich fertig war. »Eine Lücke in diesem sehr verwickelten Fall, die ich nicht überbrücken konnte, ist jetzt ausgefüllt. Du weißt vielleicht, daß zwischen der Dame und diesem Stapleton eine sehr innige Beziehung besteht?«
»Von enger Vertraulichkeit war mir nichts bekannt.«
»In dieser Beziehung kann kein Zweifel bestehen. Sie kommen zusammen, sie schreiben sich, es herrscht zwischen ihnen ein vollkommenes Einverständnis. Nun, durch deine Unterredung haben wir eine sehr wirksame Waffe in unsere Hände bekommen. Wenn ich diese nur anwenden könnte, um seine Frau von ihm abzubringen …«
»Seine Frau?«
»Ja, jetzt bekommst du von mir etwas Neues zu hören als Ausgleich für all das, was ich durch dich erfahren habe. Die Dame, die hier für Fräulein Stapleton gilt, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
»Um Himmels willen, Holmes! Bist du dir auch sicher, was du da sagst? Wie hätte er Sir Henry erlauben können, sich in sie zu verlieben?«
»Wenn Sir Henry sich in sie verliebte, so konnte das keinem Menschen schaden, als nur dem Baronet selber. Er paßt mit ganz besonderer Sorgfalt darauf auf, daß Sir Henry seine Liebe zu ihr nicht in Handlungen umsetzt; das hast du ja selber bemerkt. Ich wiederhole, die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.«
»Aber wozu diese umständliche Täuschung?«
»Weil er vorausgesehen hat, daß sie ihm als Unverheiratete von viel größerem Nutzen sein würde.«
Mein vager Verdacht, alle meine unausgesprochenen Empfindungen, nahmen plötzlich feste Gestalt an, und alles sprach gegen den Naturforscher. In diesem farb- und leidenschaftslosen Mann mit seinem Strohhut und dem Schmetterlingsnetz glaubte ich jetzt etwas Furchtbares zu sehen – ein Geschöpf voll unendlicher Geduld und Geschicklichkeit, mit lächelndem Antlitz und einem Mord im Herzen.
»So ist also er unser Feind – er war es, der uns in London nachspürte?«
»Das halte ich für des Rätsels Lösung.«
»Und die Warnung – die muß dann von ihr gekommen sein.«
»Ganz gewiß.«
Ein furchtbares Schurkenwerk, halb gesehen, halb nur geahnt, trat aus der Dunkelheit hervor, die mich so lange umfangen gehalten hatte.
»Aber bist du deiner Sache auch sicher, Holmes? Woher weißt du, daß sie seine Frau ist?«
»Weil er sich so weit vergessen hat, dir beim ersten Zusammentreffen ein Stück seiner wirklichen Lebensgeschichte zu erzählen, und verlaß dich darauf, das hat ihm seither schon manches Mal leid getan. Er hatte wirklich früher eine Schule in Nordengland. Nun kann man über keinen Menschen leichter etwas erfahren als über einen Schullehrer. Es gibt Stellenvermittelungsagenten für Lehrer, durch die man die Identität eines jeden feststellen kann, der einmal diesem Beruf angehört hat. Durch eine kleine Nachforschung erfuhr ich, daß eine Schule unter entsetzlichen Umständen zu Grunde gegangen, und daß ihr Eigentümer – dessen Name anders lautete – mit seiner Frau verschwunden war. Die Personenbeschreibungen passen. Als ich erfuhr, daß der Flüchtling sich ganz besonders für Schmetterlingskunde interessiert, war kein Zweifel mehr möglich.«
Das Dunkel lichtete sich – aber noch immer lag gar vieles im Schatten.
»Wenn die Frau wirklich seine Gattin ist,« fragte ich, »wie kommt dann diese Frau Laura Lyons mit ins Spiel hinein?«
»Das ist einer von den Punkten, die durch deine Nachforschungen aufgehellt worden sind. Dein Gespräch mit der Dame hat die Situation bedeutend geklärt. Ich wußte nicht, daß eine Scheidung von ihrem Mann in Aussicht genommen war. Wenn aber dies der Fall ist, so rechnet sie ohne Zweifel damit, daß Stapleton sie heiraten wird, da sie ihn für einen Junggesellen hält.«
»Und wenn sie über ihre Täuschung aufgeklärt wird?«
»Ja, dann werden wir in der Dame vielleicht ein nützliches Werkzeug für uns finden. Das erste, was wir morgen zu tun haben, ist, sie aufzusuchen – und zwar wir beide zusammen … Glaubst du nicht, Watson, daß du schon ziemlich lange von deinem Posten fort bist? Dein Platz sollte in Baskerville Hall sein.«
Die letzten roten Streifen waren am westlichen Himmel verblichen, und nächtliches Dunkel hatte sich auf das Moor herniedergesenkt. Ein paar schwache Sternenpünktchen glommen am violetten Himmel auf.
»Noch eine letzte Frage, Holmes,« sagte ich, indem ich aufstand. »Ganz gewiß brauchen wir beide doch keine Geheimnisse voreinander zu haben. Was bedeutet dies alles? Was will er?«
Flüsternd antwortete Holmes mir: »Es ist Mord, Watson – abgefeimter, kaltblütiger, hartherziger Mord! Frage mich nicht nach Einzelheiten. Mein Netz schwebt über ihm, so wie sein Netz über Sir Henry schwebt, und dank deiner Hilfe ist er bereits sozusagen ohne Gnade in meine Hand gegeben. Nur eine Gefahr kann uns noch drohen: daß er seinen Streich ausführt, bevor wir soweit sind. Noch einen Tag, – höchstens zwei – und ich habe mein Material vollständig beisammen – aber bis dahin sei auf deinem Posten und halte so sorgsam Wacht wie eine Mutter bei ihrem kranken Kind. Deine heutige Mission war durch die Umstände berechtigt, und doch möchte ich beinahe wünschen, du wärst ihm nicht von der Seite gewichen – – horch! was ist das?«
Ein furchtbarer Schrei – ein langer gellender Schrei voll Angst und Entsetzen drang aus der Einsamkeit des schweigenden Moores zu uns herüber. So entsetzlich war der Ton, daß das Blut in meinen Adern zu Eis erstarrte.
»O, mein Gott!« stöhnte ich auf. »Was ist das? Was kann das bedeuten?«
Holmes war aufgesprungen, und ich sah die dunklen Umrisse seiner athletischen Gestalt sich in der Öffnung der Hütte abzeichnen. Die Schultern gebeugt, den Kopf vorgeneigt, mit scharfen Augen in die Finsternis hineinspähend – so stand er da.
»Psst!« zischte er. »Psst!«
Der Schrei war laut zu uns herübergedrungen, weil er mit ungeheurer Heftigkeit ausgestoßen wurde, aber als er in einem Stöhnen erstarb, da erkannten wir, daß er in weiter Ferne irgendwo auf der dunklen Ebene erschollen war. Dann drang ein neuer Schrei an unser Ohr – näher, lauter, dringender als der erste.
»Wo ist es?« flüsterte Holmes, und ich erkannte an dem Zittern seiner Stimme, daß er, der Mann von Stahl und Eisen, bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert war.
»Wo ist es, Watson?«
»Dort, glaube ich.« Und ich wies in die dunkle Landschaft hinein.
»Nein, dort!«