Faszination Erde: Kanada | Ganze Folge Terra X mit Dirk Steffens | Terra X
Grizzlys, Lachse, die Rocky Mountains. Das kennen Sie natürlich schon alles. Aber das ist nur ein ganz kleiner Teil von dem, was es hier in Kanada zu entdecken gibt. Und ich meine, ein ganz, ganz, ganz kleiner Teil. * Musik *
Kanada ist voller Naturwunder.
Und das, obwohl es eines der kältesten Länder der Welt ist. Es ist gerade die Kälte, die Kanada so reich macht. * Musik *
Bis zu 2400 Kilometer Weg liegen vor ihnen. Im Frühjahr brechen die Karibus auf Richtung Norden. Kein anderes Landtier legt so weite Strecken zurück. Sie wandern der Kälte entgegen in noch tieferen Schnee. Die kräftezehrende Wanderung scheint widersinnig. Und doch hat sie einen tieferen Sinn.
An der Spitze des Trecks laufen erfahrene Weibchen. Wie sie es schaffen, den richtigen Weg zu finden, ist bis heute ein Rätsel.
Und ausgerechnet jetzt sind die Weibchen schwanger. Trotz der trächtigen Tiere
sind wandernde Karibus keine leichte Beute. Die Herde ist ständig in Bewegung.
Ein einzelnes Tier schwer zu erfassen. Die Wölfe können den Karibus nicht hinterherziehen. Von ihren Bauten, in denen sie ihre Jungen aufziehen, können sie sich nicht weit entfernen.
Außerhalb des Jagdreviers der Wölfe sind die Karibus in Sicherheit. Im Osten Kanadas gibt es eine der größten Karibu-Herden: Die George River Herde, benannt nach dem Fluss, an dem sie entlangzieht. Bis zu ihrem Ziel hoch oben im Norden dauert es zwei Monate. Die Kälbchen kommen hier in der Arktis zur Welt. In einer Region, in der selbst im Juni noch Schnee liegt. Und doch ist dies der ideale Ort für die Karibus, um ihre Jungen großzuziehen.
Es gibt kaum Fressfeinde.
Und sobald der Schnee geschmolzen ist, bietet die Tundra ideale Weideflächen. * Musik *
Der Sommer ist kurz im Norden Kanadas. Im Herbst, wenn die ersten Stürme aufziehen, müssen sich die Karibus auf den Rückweg machen. Ganz Kanada wird nun zum "Karibu-Land". Riesige Herden, über das gesamte Land verteilt, sind auf Wanderschaft. Und die Herden bleiben den einmal gelernten Wegen treu. Forscher wollen die Wanderrouten erkunden. Sie sind heute unterwegs auf Neufundland. * Schuss *
Die Tiere reagieren sensibel auf Störungen ihrer Routen. Deshalb möchten die Forscher die Wanderwege kartieren. Ja.
John und Wayne von der kanadischen Wildlife Division sind hier auf Neufundland dafür zuständig, die Karibu-Herden zu überwachen.
Dafür werden den Tieren auch in regelmäßigen Abständen solche GPS-Halsbänder umgehängt.
Die ich grade versuche,
mit meinen klammen Fingern in der Kälte festzuschrauben. It's not so easy to do it with these cold fingers. No. Okay, thank you so much.
Das Tier zittert jetzt ein bisschen, ist aber nicht schlimm. Das liegt nur am Betäubungsmittel.
Okay, jetzt gibt es noch eine kleine Ohrmarke. Kleiner Piekser.
Alles gut.
Guck mal, der Doktor sagt, du bist in guter Verfassung. Gleich kannst du weiterlaufen.
So, jetzt gibt es noch ein Gegenmittel. Dann ist sie in zwei Minuten wieder fit. All done? - Yeah. Danke schön.
Wackelt noch ein bisschen, aber steht wieder. Die Forscher hoffen, dass ihre Daten dabei helfen, die Wanderwege der Karibus unberührt zu lassen. Im Herbst wandern die Herden zurück in den Süden. Auf Neufundland liegen die Sommer- und Winterquartiere nah beieinander. Die George River Herde im Nordosten aber muss den ganzen weiten Weg wieder zurückwandern. Die Karibus versammeln sich im Schutz des Waldes. Mit ihren breiten Hufen können sie den Schnee wegschieben und darunter Flechten freilegen.
So gelingt es ihnen, die eiskalten Monate zu überstehen. Doch jetzt sind die Karibus wieder im Revier ihrer Feinde. * Musik *
Im Wald sind Wölfe ausgezeichnete Jäger. Für sie ist jetzt die beste Jagdsaison. Und die Karibus sind ihre wichtigste Beute. In Kanada entscheidet der Winter über Leben und Tod. Er ist eisig kalt und dauert ein halbes Jahr lang. Der Grund dafür ist die besondere Geografie. Die Rocky Mountains im Westen bilden eine Barriere. Sie verhindern, dass warme Luftmassen vom Pazifik in das Land strömen. Kalte Luftmassen aus der Arktis aber
können ungehindert tief ins Inland vordringen. So wird Kanadas Klima primär von kalten Winden bestimmt. Um in dieser Kälte zu überleben,
haben Tiere und Pflanzen spezifische Strategien entwickelt. Viele Tiere ziehen sich in ein Winterquartier zurück. Bären fahren ihren Stoffwechsel monatelang herunter. Im Schutz des Baus bringen sie ihre Jungen zur Welt. Ende April erwachen auch noch Tiere, die man im Schnee nicht erwartet: Schlangen.
Wie alle Reptilien nehmen sie die Temperatur ihrer Umgebung an. Und doch gibt es im kanadischen Manitoba die größte Ansammlung von Schlangen auf der Welt. Zehntausende Strumpfbandnattern haben gemeinsam in Höhlen überwintert und versammeln sich nun am Eingang.
Die Versammlung dient nur einem Zweck: Die Schlangen veranstalten eine Sex-Orgie. Dabei gibt es allerdings ein Problem.
In dem Knäuel ist es für die Männchen nicht einfach, die Weibchen überhaupt auszumachen.
Komm her. Hab ich dich.
Diese Strumpfbandnatter von Nova Scotia hat das gleiche Problem wie alle ihre Artgenossen: Wie finden sich in dem Gewimmel Männchen und Weibchen? Die Antwort ist der Duft der Frauen.
Die Weibchen sondern ständig Pheromone ab, Duftstoffe, die die Männchen riechen können.
Und weil jede anständige Schlange eine gespaltene Zunge hat, transportieren sie die Duftmoleküle nach links und rechts oben in den Gaumen, wo das Jacobsonsche Organ sitzt. Weil die Zunge gespalten ist,
riecht es links immer ein klein bisschen anders als rechts. Deshalb riecht die Schlange nicht nur das Was, sondern auch das Woher. Und die Pheromone der Weibchen erzählen den Männchen noch mehr. Zum Beispiel wie groß das Weibchen ist, wo es herkommt. Und ob es überhaupt Lust hat, sich zu paaren. So läuft das bei den Schlangen.
Aussehen ist egal, Hauptsache, sie riecht gut. So, jetzt darfst du wieder weg. Tschüs. Die Konkurrenz unter den Männchen ist groß. Manchen hilft da nur ein Trick, um zum Zuge zu kommen. Dieses Männchen ist erst spät aus der Winterruhe aufgewacht. Und noch zu kalt, um an der Paarung teilzunehmen. Doch dann passiert etwas seltsames.
Die anderen Männchen verlassen das Paarungs-Knäuel und kriechen zu dem Männchen im Schnee. Um Konkurrenten zu täuschen
hat der "Spätzünder" weibliche Pheromone ausgesendet. Und lockt damit die Männchen zu sich.
Die Infrarot-Aufnahmen zeigen:
Das kalte Männchen nimmt allmählich die Temperatur der Artgenossen an. Schließlich ist es warm genug,
um sich an der Sex-Orgie zu beteiligen. Die Vielzahl an Schlangen ausgerechnet hier auf engem Raum hat einen Grund:
Unter dem Boden liegt ein Kalkstein-Plateau mit vielen kleinen Hohlräumen.
Die liegen unter der winterlichen Frostlinie und bieten Schutz vor der Kälte.
Die Schlangenhöhlen sind ein Resultat der letzten Kaltzeit. Damals staute sich hier, mitten in Kanada, das Schmelzwasser von mehreren Gletschern in einem riesigen See, dem Lake Agassiz. Im Laufe der Zeit lagerten sich Muscheln am Boden ab. Es entstand eine dicke Kalksteinschicht. Das Gestein, aus dem heute die Schlangenhöhlen aufgebaut sind, lag einmal auf dem Grund des riesigen Eiszeitsees. Das Eis ist Kanadas Schicksal.
Im Laufe seiner langen Geschichte
wurde das Land von mehreren Kaltzeiten geprägt. Gletscher haben das Gestein geschliffen, Schmelzwasserflüsse die Landschaft geformt. Als sich das Eis vor rund 12.000 Jahren zurückzog, gab es ein Land reich an Flüssen und Seen frei. * Musik *
Kanada ist 28 mal so groß wie Deutschland. 40 Prozent des riesigen Landes sind von Wald bedeckt, fast 350 Millionen Hektar.
Der Wald ist relativ jung.
Er konnte sich erst nach der letzten Eiszeit über das gesamte Land ausbreiten.
Und er wäre nicht das, was er ist ohne ein kleines und besonderes Tier. Es ist nachtaktiv, scheu und lässt sich nur mit viel Glück und einer speziellen Falle einfangen. Das ist Jeff vom Ministerium für Natur und Wald. Der hat mich mit hergenommen,
weil wir ein ganz außergewöhnliches Tier fangen wollen. Mit dieser Falle.
So I have to bait it now? - Yes. Okay, da muss noch ein Köder rein.
Und unser Köder ist Erdnussbutter.
Okay, so, jetzt muss Jeff nur noch die Falle da oben festmachen. Dann verschwinden wir und hoffen,
dass wir so ein bisschen Jagdglück haben. Okay, it's good.
Ein Gleithörnchen.
Es kann sich von Baum zu Baum bewegen, ohne den Boden zu berühren. So geht es seinen Feinden aus dem Weg. Einfach fantastisch.
So ein Tier einmal mit eigenen Augen zu sehen, das ist ein Glücksfall. * Musik *
Um die flinken Hörnchen zu fangen, sind Fallen die einzige Möglichkeit. Am nächsten Morgen checken wir, ob wir eins erwischt haben. Hallo, mein Kleiner. Ein kleines, süßes Flughörnchen. Flughörnchen können natürlich nicht wirklich fliegen, aber sie können gleiten, wenn sie oben irgendwo runterspringen. Dann breiten sie ihre Flügel aus, wenn man das so sagen darf. Die haben keine Flügel, sondern diese Hautlappen hier. Wenn sie die spannen,
funktioniert das als Tragfläche ziemlich gut. Jeff studiert die Tierchen bis ins Kleinste. Er untersucht sogar das, was hinten rauskommt. Diese Tiere sind richtige Feinschmecker. Sie essen am liebsten Pilze und am allerliebsten Trüffel. Und weil ihr Verdauungssystem die Sporen der Pilze am Leben lässt, die sie nachher wieder ausscheiden,
haben die eine total wichtige Rolle hier im Ökosystem Wald. Denn nur Hilfe dieser Hörnchen schaffen es die Pilze, sich über den ganzen Wald zu verteilen. Und dass die Pilze das schaffen, das wiederum ist gut für die Bäume. Na, du spielst 'ne ganz wichtige Rolle hier im Wald. Jetzt lassen wir dich mal wieder frei. Ja, lauf.
Die Kothäufchen der Gleithörnchen sind für den Wald eine Wunderpille. Im Herbst zeigen sich die Fruchtkörper der Pilze. Was unter der Erde geschieht, bleibt im Verborgenen. Mit ihrem weitläufigen Geflecht helfen viele Pilze Bäumen dabei, Mineralstoffe und Wasser aufzunehmen.
Im Gegenzug bekommen sie von den Bäumen Zucker als Energiequelle. Diese Symbiose ist für einen intakten Wald essentiell. Indem sie Pilze essen und die Sporen verbreiten, übernehmen die Gleithörnchen eine wichtige Rolle. Sie gelten als Schlüssel-Spezies für einen intakten Wald. * Musik *
Im Herbst, wenn die Tage kürzer werden und der erste Frost kommt, bereitet sich der Wald auf den Winter vor. Die Blätter der Laubbäume beginnen, sich allmählich zu verfärben. Besonders der Osten Kanadas
ist bekannt für seine spektakulär gefärbten Herbstwälder. Die für das Land so typischen Zucker-Ahornbäume erstrahlen in den schönsten Farben.
Wahnsinn, dieser Indian Summer.
Sieht aus, als hätte jemand über den Wäldern Farbe ausgekippt. Aber natürlich entziehen die Laubbäume im Herbst ihren Blättern nur das Chlorophyll und damit auch die grüne Farbe. Dann werden die Töne sichtbar,
die schon die ganze Zeit darunter gelegen haben. Vor allem Gelbtöne.
Das ist hier in Nordamerika nicht anders als bei uns in Europa. Trotzdem sind die Wälder hier im Herbst bunter als bei uns. Vor allem roter. Auch dafür gibt es einen guten Grund. In Kanada gedeihen andere Arten von Ahornbäumen als in Europa. Im Herbst produzieren sie rote Blattpigmente: Anthocyane. Die roten Pigmente erfüllen jetzt einen wichtigen Zweck. Im Herbst sind die Blätter sehr empfindlich. Weil nicht mehr so viel Lichtenergie in Zucker umgewandelt werden kann wie im Sommer, drohen sie, zu verbrennen. Die roten Blattpigmente wirken wie ein Sonnenschutz-Faktor. Sie schirmen das Blatt vor zu viel Lichtenergie ab. Im Indian Summer herrscht in Kanada eine außergewöhnliche Wetterlage. "Antizyklone", die kalte Luft aus der Arktis bringen, stagnieren jetzt über Kanadas Osten.
Und ziehen Luftmassen an, die sich über den USA aufgeheizt haben. Im Zentrum des Antizyklons lösen sich die Wolken auf. Die Folge: Der Himmel ist klar.
So leuchten jetzt
die wohl eindrucksvollsten Herbstwälder der Welt. Schön sind Kanadas Wälder, aber sie haben ein Problem. So, mein Messquadrat ist fertig vorbereitet. Jetzt kippe ich da Senflösung drauf.
Die ist nicht giftig, die tut nichts, aber: Die macht das Problem sichtbar.
So, schön gleichmäßig bis in die Ecke. Und dann kurz warten.
Da kommt schon einer.
In diesem Wald ist nämlich der Wurm drin. Zu Hause freu ich mich über jeden einzelnen in meinem Garten. Denn da, wo Regenwürmer leben, da ist alles gut. Diese Tiere sind Indikatoren für eine intakte Bodenökologie. Da, wo sie leben, ist die Erde gesund. Aber hier in Kanada ist das anders, ganz anders. So, und du kommst ins Glas.
Ach, da kommen ja noch mehr.
Jetzt kommen sie.
Ausgerechnet das, was wir zu Hause so an ihnen schätzen, wird hier zum Problem.
Regenwürmer sind in Kanada nicht heimisch. Sie wurden von Menschen eingeschleppt. Weil sie mit fast schon deutscher Gründlichkeit alles fressen, was ihnen vors Wurmloch kommt,
verändern sie den Waldboden von Grund auf: Die Laubschicht, die normalerweise in kanadischen Wäldern liegen bleiben würde, verschwindet.
Damit verändern sich der Feuchtigkeits- und Nährstoffgehalt im Boden entscheidend.
Auch die Pilzgeflechte in der Erde werden von den Regenwürmern einfach mitverdaut. Die Würmer verändern so den gesamten Nährboden für den Wald. Da ist so ein richtig dicker. Ich glaub, das war der Letzte. Die Wissenschaftler machen das übrigens ganz ähnlich. Die zählen, wie viele Regenwürmer
leben in einem Quadratmeter Waldboden. Übrigens, die Universität von Alberta hat sogar 'ne App entwickelt. Den "Worm Tracker".
Damit kann jeder Bürger, der Würmer zählt, und jeder Bürger ist aufgerufen, das zu tun, das direkt über diese Maske hier eintragen. Ich drück da mal drauf, wann er wo wie viele Würmer gefunden hat. Und das läuft dann online direkt in die Datenbank von der Uni. Da wird es dann wissenschaftlich ausgewertet. Ich mach das auch gleich.
Ich kann aber nur 28 Würmer melden, das sind nicht besonders viele. Die Wissenschaftler haben andernorts schon mal 600 Regenwürmer auf einem einzigen Quadratmeter gezählt. Und das ist nicht weniger als eine biologische Katastrophe. Die Bäume kommen mit der Bodenveränderung durch die Regenwürmer nicht gut klar. Nach einer schlimmen Regenwurm-Invasion verschwindet die Unterschicht an kleinen Setzlingen. Die Vielfalt an Pflanzen sinkt dramatisch. Die Plage breitet sich schneller aus, als Regenwürmer überhaupt kriechen können. Die schaffen ja nur fünf bis zehn Meter pro Jahr. Aber sie reisen als blinde Passagiere bei uns Menschen mit. In Blumenerde oder landwirtschaftlichen Produkten z.B. Außerdem ist die Regenwurmplage rund um Ferienhaussiedlungen besonders schlimm.
Das liegt daran, dass viele Angler
ungebrauchte Köder einfach wegwerfen. Die meisten Kanadier wissen ja gar nicht, dass Regenwürmer Bio-Invasoren sind. Dass sie in Kanada nichts zu suchen haben. Im Moment können die Behörden nicht viel mehr machen als solche Plakate aufzuhängen.
"Wrangle your worms" — halt deine Würmer zusammen. Dass es in Kanada von Natur aus keine Regenwürmer gibt, liegt wie so vieles an der eisigen Vergangenheit. Unter den kilometerdicken Eismassen, die das Land über Jahrtausende bedeckten, konnte kein einziger Wurm überleben. Und noch etwas Ungewöhnliches ist ein Ergebnis der letzten Kaltzeit: Etwas, das so gar nicht nach Kanada zu passen scheint. Riesige Sanddünen, bis zu 30 Meter hoch. Entstanden sind sie, als zum Ende der letzten Eiszeit Schmelzwasser das Gestein abschmirgelte. Die Athabasca-Sanddünen liegen mitten im Inland. Es sind die nördlichsten Sanddünen der Welt. Wie alle Dünen bewegen sie sich mit dem Wind. Und der trägt sie unaufhörlich weiter in die Wälder ringsum. Eine Sandwüste mitten in Kanada. Wer hätte das gedacht? Das Land steckt voller Überraschungen. Von hier kommen ja nicht nur Lachse und Grizzlys, sondern auch Kamele. Ja genau, Kamele.
Die sind hier entstanden, in der Kälte. Und wenn Sie jetzt denken:
Glaub ich nicht, eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass es in Schneelandschaften lebt. Doch, die Kamele können das.
Es gibt eine Region, in der Kamele auch heute noch im Schnee leben: Die Wüste Gobi, fernab in der Mongolei. Im Winter sind hier Temperaturen
von minus 30 Grad Celsius keine Besonderheit. Die Kamele hier sind gut für das Leben in der Kälte ausgestattet: Die Fettdepots in ihren Höckern dienen als Energiespeicher. Und mit den breiten Hufen sinken sie im Schnee nicht ein. Und so verrückt das klingt:
Forscher vermuten sogar, dass die typischen Merkmale der Kamele einmal als Anpassung an das Leben in der Kälte entstanden sind. Ein ungewöhnlicher Fund brachte den Beweis. Tatsächlich wurden in der kanadischen Arktis Kamelknochen entdeckt.
Dreieinhalb Millionen Jahre alt.
Es gab damals sogar mehr Kamel-Arten als heute. Das reichte von katzenkleinen Exemplaren bis hin zu 900 Kilo-Giganten.
Noch ist ungeklärt, warum die Kamele in Nordamerika ausstarben. Ihre Nachkommen jedoch haben die Welt erobert. Über die Beringstraße gelangten sie
schon vor Millionen Jahren nach Asien. Die zweihöckrigen Kamele der Mongolei stammen von ihnen ab, die Dromedare Afrikas.
Ebenso die Lamas und Alpakas in Südamerika. Zwischen Nordamerika und Asien gab es im Laufe der Geschichte immer wieder eine begehbare Landbrücke. Auf diesem Weg wanderten auch andere Tiere zwischen den Kontinenten. Und irgendwann zum ersten Mal auch Menschen. Die Beringstraße war immer dann begehbar, wenn genügend Meerwasser als Eis gefroren war. So dass der Meeresspiegel niedriger lag. Vor rund 15.000 Jahren erreichten so die ersten Ureinwohner Amerika. Hoch oben im Nordosten Kanadas an der Hudsonstraße. Die Inuit siedeln hier seit Jahrtausenden. Im Winter, wenn das Eis besonders dick ist, beobachten sie ein seltsames Phänomen: Alle zwölf Stunden scheint das Eis
wie eine Mauer in die Höhe zu wachsen. Für die Inuit ist das die perfekte Zeit für eine Schatzsuche. Dort, wo sich im Eis nun ein Spalt auftut, klettern sie darunter auf den Grund des Meeres. Für wenige Stunden nur können sie jetzt an einen Schatz gelangen: Muscheln.
Die Meerestiere sind für die Inuit eine so wertvolle Speise, dass sie dafür ihr Leben riskieren.
Die Höhle kann jederzeit einstürzen. Und der Meeresboden ist auch nur für kurze Zeit zugänglich. Wenn das Wasser steigt, flutet es die Höhle. Zeit zum Rückzug.
Ursache sind die Gezeiten.
Das Meer unter dem Eis hebt und senkt sich in ihrem Rhythmus. Wenn die Flut kommt, hebt das Wasser die Eisdecke wieder an. Der Spalt schließt sich.
An der Hudsonstraße kann der Unterschied zwischen Ebbe und Flut 17 Meter betragen. Die Meerenge wird vom strömungsreichen Atlantik gespeist. Alle zwölf Stunden fließen hier
rekordverdächtige Mengen an Wasser in die Bucht. Wenn der Wasserspiegel bei Ebbe wieder sinkt. Und damit die Eischicht auf dem Meer, sieht es so aus, als würde das Eis an Land wachsen.
Von den starken Gezeitenströmungen profitieren viele Tiere. Auch Weißwale.
Belugas.
Was der Grund für ihre auffallend helle Farbe ist, ist Forschern bis heute ein Rätsel.
Durch Ebbe und Flut werden in der Hudsonstraße mit dem Wasser auch große Fischschwärme hinein- und wieder herausgespült. Das machen sich die Belugas zunutze.
Sie ziehen in die Meerenge, dorthin,
wo die Gezeitenströmungen ihnen einen üppig gedeckten Tisch bereiten. * Musik *
Belugas sind wahre Eis-Spezialisten.
Weil sie keine Rückenflosse haben,
können sie unter den Schollen tauchen. Ihre Haut ist etwa 100 Mal dicker als die eines Menschen. Geschützt werden die Säugetiere
zusätzlich von einer dicken Fettschicht. Die Kälte kann ihnen nichts anhaben.
Noch hat die Kälte die Landschaften in der arktischen Region im Griff. Aber die weiße Welt schwindet allmählich dauerhaft. Und das hat Folgen.
Die Eisbedeckung in der Arktis verzeichnet im Sommer seit Jahren immer wieder neue Minusrekorde.
Damit werden auch die Winter in Kanada allmählich wärmer. Klimaforscher haben herausgefunden,
dass die Arktis das "Epizentrum" der globalen Erwärmung ist. Die Polarregion erwärmt sich schneller als der Rest der Welt. Die Arktis gibt ihre über Millionen Jahre verwahrten Schätze Stück für Stück frei.
Dort, wo der Abbau von Bodenschätzen möglich ist, ist er bereits in vollem Gange.
Geowissenschaftler haben die Lagerstätten längst lokalisiert. Und entdeckt, dass die Region zu den rohstoffreichsten Gebieten der Erde gehört.
Und das weckt Begehrlichkeiten.
Immer weiter dringen Erkundungsschiffe vor. Die Anrainerstaaten vermessen den Meeresboden, um Gebietsansprüche zu erheben.
* Musik *
Jedes Land darf die Rohstoffe ausbeuten, die auf seinem eigenen Gebiet liegen. Und das reicht 200 Seemeilen weit raus aufs Meer. Das ist eine sehr einfache und klare Regel. Aber weil es jetzt um so viele Milliarden Euro geht, versucht jede Nation, die Regeln zu ihren Gunsten auszulegen. Und tatsächlich erlaubt
die internationale Seerechtskonvention Ausnahmen. Um die zu verstehen, muss man ein bisschen tiefer blicken. Alles dreht sich nämlich um die Schelfkante des jeweiligen Kontinents.
Staaten können den Meeresboden entlang solcher Sockel beanspruchen, wenn diese geologisch direkt mit ihrem Territorium verbunden sind. Der Lomonossov-Rücken
im Nordpolarmeer ist so ein Streitpunkt. Die Russen behaupten seit Jahren, er gehöre zu ihrer Landmasse. Unter Wissenschaftlern ist diese Aussage recht umstritten. Dennoch beansprucht Russland
einen größeren Teil der Rohstoffrechte für sich. Und weil derzeit das Eis schmilzt,
versuchen die Anrainerstaaten, noch schnell ihre Claims abzustecken, bevor die große Rohstoff-Rallye beginnt. Im Norden Kanadas hat das Rennen bereits begonnen. Doch hier hofft man nicht auf Erwärmung, man fürchtet sie eher. Denn nur der Kälte ist es zu verdanken, dass ein Schatz, der Menschen auf der ganzen Welt fasziniert, geborgen werden kann. Bei minus 20 Grad Celsius
entsteht eine der längsten Eisstraßen der Welt. Der Bau kostet viele Millionen Dollar jedes Jahr. Die Straße besteht nur 60 Tage lang.
Dann trägt das Eis die tonnenschweren Versorgungstrucks nicht mehr. Ein Großteil der 500 Kilometer langen Strecke führt über zugefrorene Seenlandschaften. Und mittendrin liegt das Ziel:
Eine Mine.
* Explosionen *
Immer tiefer dringen die Sprengmeister vor. Es ist wie eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Es ist die Suche nach Diamanten.
Genauer gesagt Eisdiamanten. Sie gelten als besonders rein. Kanada zählt inzwischen zu den weltweiten Marktführern in der Diamantenproduktion.
1,6 Tonnen dieser Edelsteine werden allein in dieser Mine jedes Jahr gefördert.
Der Abbau lohnt sich, auch wenn der Aufwand unglaublich ist. Ab dem Frühjahr ist die Diamanten-Mine für neun Monate wieder von Wasser umgeben. Und alle warten sehnsüchtig auf den Winter und die Kälte. Natürlich brauchen wir Menschen Rohstoffe, das ist völlig klar. Aber wir brauchen auch eine intakte Natur. Und die reagiert sehr empfindlich auf industrielle Eingriffe. Die Karibus zum Beispiel.
Wenn die Rohstoffgiganten hier oben im Norden erst mal so richtig loslegen mit der Förderung von Rohstoffen, dann wird es diesen Tieren wahrscheinlich schlechter gehen. Denn einige dieser Minen liegen direkt auf den Wanderrouten der Karibus.
Wandernde Karibus lassen sich leicht stören. Um jegliche Art von menschlicher Infrastruktur wie Straßen oder auch Minenbauten machen sie einen Bogen. Von bis zu 20 Kilometern.
Und viele Herden sind etwa durch die Jagd schon jetzt stark dezimiert. Ausgerechnet die George River Herde, die für ihre weiten Wanderungen bekannt ist, schrumpft besorgniserregend. Heute zählt sie rund 5500 Tiere.
Das klingt viel.
Aber in den 1990er-Jahren waren es noch 800.000 Tiere. Gewisse Schwankungen der Populationszahlen sind bei den Karibus von Natur aus normal. So können in Jahren mit geringem Nahrungsangebot oder mit einer großen Zahl an Räubern viele Tiere sterben. Eine gesunde Karibu-Population mit ausreichend vielen Tieren kann diese Schwankungen normalerweise problemlos kompensieren. Eine zu stark dezimierte Population dagegen ist in Gefahr. Ab welcher Zahl genau eine Population existenzgefährdet ist, können die Forscher unmöglich vorhersagen. Aber sie können zumindest
eine Prognose für das nächste Jahr erstellen. Mit einer einfachen Methode:
Wayne zählt grade Kälber. Und das ist Wissenschaft. This is science, what you are doing?
It does not look like science, but it is science what you are doing. Was Wayne da grade macht, ist die jährliche Kälberzählung. So finden die Forscher raus, ob es der George River Herde oder auch diesen Karibu-Populationen hier gut geht. Natürlich sollten pro Jahr so viele Kälber neu geboren werden wie Alttiere sterben.
Als Faustregel gilt dabei:
Leben in einer Herde mindestens 15 Prozent Jungtiere, dann ist der Bestand gesichert, die Population gesund. Ist diese Zahl dauerhaft kleiner, dann ist die Population gefährdet. Er macht das den ganzen Tag.
Hoffentlich sind ihm jetzt nicht meinetwegen welche durchgegangen. Manchen Herden wie der hier auf Neufundland geht es noch recht gut. Natürlich werden die Karibus als Tierart nicht so schnell aussterben. Dafür gibt es zu viele von ihnen.
Einige Herden könnten aber "funktionell aussterben". Sie können sich dann nicht mehr aus eigener Kraft erholen. Und wie sich das dann auf das Gleichgewicht des Ökosystems auswirken wird, kann niemand absehen. Der wahre Schatz, den es in Kanada zu entdecken gibt, ist in Gefahr: die großartige Natur.
Karibus können in der Wildnis nur überleben, wenn es sie in ausreichend großer Zahl gibt. Nur dann können sie ihr typisches Herdenverhalten und ihre Herden-Intelligenz entwickeln. Das einzelne Tier ist vergleichsweise dämlich. Es läuft bei ihnen genau andersrum als bei uns: Der einzelne Mensch ist meist ganz in Ordnung. Aber in großer Zahl sind wir auch zu großen Dummheiten fähig. Das war's aus Kanada. Tschüs, bis zum nächsten Mal. Und bleiben Sie fasziniert.
Untertitel im Auftrag des ZDF, 2019