Noam Chomsky · Platons Problem, Spracherwerb - Kinder lernen wie beiläufig, mit welchen Wörtern ein Gegenstand
In diesem Beitrag geht es um einen ehemaligen Professor für Linguistik (Sprachwissenschaft),
der seit bald zwei Jahrzehnten im Ruhestand ist, aber einfach keine Ruhe gibt. Das liegt daran,
dass er seit jeher weit mehr als nur Linguist ist, sondern auch ein kritischer Denker und
rastloser Redner, der sich mit nunmehr über 90 Jahren immer noch darum bemüht, den Blick auf
die großen Zusammenhänge und Probleme unserer Zeit zu lenken. Es geht um Mr. Noam Chomsky.
Avram Noam Chomsky ist der Autor von über 100 Büchern und der Träger
von mehr als 30 Ehrendoktorwürden, worauf in jeder Auseinandersetzung
mit ihm hingewiesen wird. Hinzu kommen unzählige Artikel in Fachzeitschriften,
Interviews in zumeist unabhängigen News-Sendern wie »Democracy Now!«, sehr empfehlenswert,
und locker zwei Dutzend Auftritte in Filmen – bis hin zu Streifen, die sich komplett um ihn drehen,
wie die sauber nach Themen sortierte und sehr treffend betitelte Polit-Doku »Noam Chomsky:
Rebel Without a Pause«. Er gehört, kurz gesagt, zu den bekanntesten Intellektuellen der Gegenwart,
wenn er nicht gar der weltweit bekannteste ist. Seine Werke landeten sowohl in der
Bestsellerliste der New York Times als auch im Bücherregal von Osama bin Laden.
Vor diesem Hintergrund ist es mir ein bisschen peinlich zuzugeben,
dass ich den Namen Chomsky bis vor fünf Jahren noch gar nicht kannte.
Chomsky? Don't Noam.
...und dann auch erstmals im Kino begegnet bin – und es war keine Polit-Doku.
Der Film »Captain Fantastic« aus dem Jahr 2016 erzählt von einer kinderreichen Familie,
die in der Wildnis lebt, am Lagerfeuer hohe Literatur liest und statt Heiligabend lieber den
Noam-Chomsky-Tag feiert. Nach dem Kinobesuch kam es mir vor, als habe auch ich im Wald gelebt,
nur deutlich weniger belesen als die Kids in dem Film. Immerhin war ich
Mitte 20 geworden, ohne je zuvor über ein Werk dieses Herrn Chomsky zu stolpern.
Und dann stellt sich die berechtigte Frage: Okay, über 100 Bücher, Beiträge
und Stunden an Interview-Material, wo fange ich an? Darauf komme ich zurück.
Der Zugang zu seinem Gesamtwerk mutet auch deshalb so schwierig an,
weil es so breit gefächert ist. Chomsky spielt nicht nur in wissenschaftlichen
Kreisen eine gewichtige Rolle, sondern ist auch eine zentrale Figur des politischen
Aktivismus. Chomskys Sicht auf die Dinge lässt sich am besten anhand zweier Probleme darlegen,
die er sich zur Lebensaufgabe gemacht hat. Dieser Beitrag behandelt das erste dieser Probleme,
das Chomsky, den Akademiker, beschäftigt. Um Chomsky, den Aktivisten, geht's dann ein andermal.
Das erste ist das Problem, zu erklären, wie wir so viel wissen können,
obwohl wir doch so begrenzte Beweise haben. Das zweite ist das Problem zu erklären,
wie wir so wenig wissen können, obwohl wir doch so viele Beweise haben.
Das erste Problem könnten wir »Platons Problem« nennen, das zweite »Orwells Problem« [...]
Platons Problem ist der Ausgangspunkt für Chomsky als Sprachwissenschaftler. Orwells Problem ist
die Baustelle von Chomsky, dem Aktivisten und Kritiker der Mainstream-Medien und vor allem
der US-amerikanischen Außenpolitik. Wenn wir diese Probleme ins Eisenhower-Quadrat einordnen,
dann ist Orwells Problem so wichtig und dringend, wie kein anderes,
während Platons Problem sicher wichtig, aber nicht so dringend ist. Immerhin beschäftigt es
uns auch schon ein paar Jahrtausende. Trotzdem will ich es hier zuerst behandeln, weil Chomskys
Auseinandersetzung damit die Grundlagen zu seiner Weltsicht liefert – und auch dann relevant wird,
wenn es im Kontext von Orwells Problem um Dinge wie moralischen Relativismus geht.
Platons Problem, oder: Chomsky, der Akademiker
Platon beschrieb als den Anfang aller Philosophie bekanntlich das Staunen, das Vermögen der
Menschen, sich übers Leben zu wundern. Eine Sache, die Chomsky erstaunt, ist etwas ganz Alltägliches,
das uns im Umgang mit Kindern begegnet: Da sind diese kleinen Menschen, die scheinbar wie
unbeschriebene Blätter Papier auf die Welt kommen. Was im Bauch als dumpfes Gemurmel zu ihnen drang,
umgibt sie von Tag 1 plötzlich in all seiner wuseligen Wucht: Die menschliche Sprache,
konkreter: irgendwelche menschliche Sprachen. Auch wenn viele vom Aussterben bedroht sind,
gibt's doch noch über 6000 Sprachen unter Menschen, jede eine Wissenschaft für
sich und reich an Regeln, Vokabeln und Möglichkeiten, sich damit auszudrücken.
Das Erstaunliche ist nun, dass Kinder nur einen Bruchteil des Reichtums ihrer jeweiligen Sprache
hören, und sich damit den Tresor zum ganzen Reichtum ihrer Sprache erschließen.
Kinder lernen wie beiläufig, mit welchen Wörtern ein Gegenstand, eine Handlung, ein Ort gemeint ist.
Sie erkennen Ermahnungen, Fragen, Komplimente und Namen, hören die unterschiedlichsten Sätze
und bauen sich eigenen daraus zusammen – noch bevor sie zur Schule gehen und in ihrer Sprache richtig
unterrichtet werden. Wie gelingt Kindern dieser Spracherwerb, wie es in der Linguistik heißt?
Im Unterschied zum Sprachursprung, der nach dem Aufkommen menschlicher Sprachen überhaupt fragt.
Nach dem zweiten Weltkrieg, da war in der Linguistik noch das behavioristische
Sprachmodell vorherrschend. Der Behaviorismus (vom amerikanisch-englischen behavior – Verhalten)
geht von einem Reiz-Reaktions-Schema aus: Jede Veränderung in unserer Umwelt stellt
einen Reiz dar, und unser beobachtbares Verhalten auf diesen Reiz eine Reaktion.
Was dazwischen passiert, etwaige geistige oder psychische, nicht-beobachtbare Vorgänge,
werden ausgeklammert. Einfühlung, Introspektion, also die Selbst-Beobachtung von Willensregungen
und all sowas sind nicht von Interesse. Damit ist der Behaviorismus eine extreme Variante des
Empirismus. Das ist der Sammelbegriff für Theorien und Überzeugungen, die davon ausgehen,
dass wir maßgeblich vermittels unserer Sinne zu Erkenntnissen und Wissen gelangen.
In den 1950er Jahren wurde der Behaviorismus v. a. von dem Psychologen Burrhus Frederic Skinner, oder
B. F. Skinner bekannt gemacht und radikalisiert. Sein Hauptwerk, »Verbal Behavior«, erschien nach
20 Jahren andauernder Arbeit daran, schließlich 1957.
Zwei Jahre später kam eine Kritik zu dem Buch heraus,
in der Skinners These von menschlichem Sprachverhalten als grundlegend
vergleichbar mit jedem anderen Verhalten ausführlich besprochen und Punkt für Punkt
widerlegt wurde. Verfasst hatte diese Kritik ein junger Newcomer namens Noam Chomsky. der
Und der bekam kurz darauf die Gelegenheit, mit Skinner direkt zu debattieren. Ein Augenzeuge berichtet:
Ich erinnere mich lebhaft an zwei Dinge bei dieser Konfrontation:
Skinner nannte Chomsky ständig »Mr. Xomsky«, und Chomsky, mit nur 30 Jahren,
machte aus dem berühmten 65-jährigen Dekan der Psychologie intellektuelles Hackfleisch.
Skinner hat auf Chomskys Kritik, die bald weit bekannter war als Skinners Buch, übrigens nie
ordentlich geantwortet – aus dem einfachen Grund, dass er sie nicht lesen wollte... tja, da kann man nix machen.
Das nur als fun fact vor dem Hintergrund,
dass sich Chomsky viele Jahre später selbst auf ein bestimmtes Gespräch nicht
einlassen wollte – mehr dazu im Beitrag über Noam Chomsky, Sam Harris und die Grenzen des Diskurses.
Zurück zur Linguistik und Platons Problem: Chomsky hatte sein Studium der Philosophie,
Logik und Sprachen wie Arabisch zum Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen, 1945,
im Alter von nur 16 Jahren – und keine 10 Jahre später hatte er schon mit fast der gesamten
vorherrschenden Lehrmeinung gebrochen und einen anderen Weg eingeschlagen,
um den kreativen Aspekt des Sprachgebrauchs zu erforschen, dem auf den Grund zu gehen,
wie es Robert Barsky in seiner Biografie über Chomsky formuliert.
Seine maßgebliche Kritik an der behavioristischen Theorie der Sprache à la Skinner bestand darin,
dass sie nicht das immense Sprachwissen erklären könne, das Kinder schon in frühen Jahren erwerben.
Angewandt auf diesen Aspekt des menschlichen Geistes, lautet Platons Problem: Wie können wir
uns so kreativ und vielseitig ausdrücken, obwohl wir doch vergleichsweise wenigen sprachlichen
Einflüssen ausgesetzt sind. Dieser Einwand wurde als das Poverty-of-the-Stimulus-Argument
(oder: POSA) bekannt, zu deutsch etwa: das Argument von der Armut der Reize. Gemeint ist damit,
dass in der Umwelt gar nicht genug sprachliche Informationen vorkämen,
um die Komplexität einer Sprache zu erklären, erst recht nicht die eines rund 8-jährigen Kindes,
das eine Sprache fließend spricht und weit vielfältiger damit umgehen kann,
als es je an Umgangsformen in der eigenen Umgebung erlebt hat.
Stattdessen geht Chomsky davon aus, dass es ein angeborenes System im Gehirn gibt, das die
relativ spärlichen sprachlichen Reize, denen Kinder ausgesetzt sind, ordnet und erweitert.
Chomsky verweist oft auf Wilhelm von Humboldt, der in seinen Schriften zur Sprachphilosophie die
Wendung formulierte, dass Sprache »von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch mache«.
Sprache lässt sich nicht als ein System der Verhaltensorganisation beschreiben. Um zu
verstehen, wie sie gebraucht wird, müssen wir vielmehr die Humboldt'sche abstrakte Form der
Sprache aufdecken – ihre generative Grammatik, um es in moderner Terminologie zu sagen.
Chomsky nannte dieses angeborene System auch die Universalgrammatik und wurde damit zum
prominentesten Vertreter des Nativismus, den er seit den 1960er Jahren stark gemacht hat.
Seine Vorlesungen zur Spracherwerbstheorie im Allgemeinen und Universalgrammatik im Speziellen
sind in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen: »Reflexionen über die Sprache« (1977)
und »Regeln und Repräsentationen« (1981), um zwei lesenswerte Ausgaben zu nennen, die vom Niveau
her jedoch schon ziemlich anspruchsvoll und voraussetzungsreich sind, also nichts für den Einstieg.
Chomskys Spracherwerbstheorie näher zu erläutern, das würde hier zu weit führen – falls
daran Interesse besteht, gib' dem Beitrag einen Daumen hoch, dann liefere ich nach;
und abonniere den Kanal, damit du dann über weitere Chomsky-Beiträge auf dem Laufenden bleibst!
Inzwischen, also ein gutes halbes Jahrhundert später, gilt Chomskys Ansatz übrigens selbst als überholt.
Mehr dazu im Beitrag: Ein neues Bild der Sprache, von Paul Ibbotson und Michael Tomasello.
Chomsky nimmt dennoch nach wie vor am wissenschaftlichen Diskurs teil
und wirkt bis heute regelmäßig an linguistischen Fachartikeln mit.
Trotzdem hat er sich nie ausschließlich der Sprachwissenschaft verschrieben. Warum nicht?
Ich will gern glauben, dass die intensive Erforschung […] der menschlichen Sprache […] zu
einer humanistischen Sozialwissenschaft beizutragen vermag, die auch als Mittel
zu gesellschaftlichem Handeln dienen könnte. Allerdings […] kann das gesellschaftliche Handeln
nicht warten, bis eine gesicherte Theorie des Menschen und der Gesellschaft da ist […]. Beide,
Denken und Handeln, müssen voranschreiten, so gut sie können, und in Erwartung jenes Tages,
an dem die theoretische Forschung eine feste Anleitung für den unendlichen,
oftmals harten, aber nie hoffnungslosen Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit bieten wird.
Chomskys Beteiligung an diesem Kampf, sein Handeln, äußert sich vor allem
– wen wundert's? – im Gebrauch seiner Sprache, im öffentlichen Sprechen über unbequeme Wahrheiten,
die so klar und deutlich einsehbar sind, und doch im medialen Rauschen oft untergehen.
Und damit kämen wir zu Orwells Problem – doch das wäre, wie gesagt, einen weiteren Beitrag wert.
Wer sich näher mit Chomskys Werk befassen möchte, findet unter diesem Beitrag ein paar Empfehlungen,
mit welchen deutschsprachigen Büchern und Beiträgen sich gut einsteigen lässt.
Wie immer, Feedback und Fragen gerne in die Kommentare. Ich sag' danke für die Aufmerksamkeit
– und bis zum nächsten Mal!