Warum das deutsche Schulsystem in der Krise versagt
Es ist Freitag, der 13. März 2020.
Die Schulen müssen schließen.
Die Pandemie lässt ihnen keine andere Wahl.
Schule soll ab jetzt online stattfinden,
in Form von Homeschooling.
Und hier beginnt das Drama.
Corona trifft das Schulsystem wie Miley Cyrus' Abrissbirne.
# I came in like a Wrecking Ball.
Die Auswirkungen der Pandemie haben zwei massive Probleme entblößt,
die unsere Schulen nicht erst seit 2020 plagen
sondern seit Jahrzehnten.
Heute geht es darum,
warum das deutsche Schulsystem in der Krise versagt hat
und wie es jetzt weitergeht.
(Elektronische Geräusche)
Die Digitalisierung der Schulen hat viele Vorteile.
Smartboards oder Lernprogramme auf Tablets und Laptops
können modernen, effektiven und inklusiven Unterricht ermöglichen.
Schüler können leichter individuell Fortschritte machen
und gefördert werden.
Gleichzeitig lernen sie den Umgang mit digitalen Medien,
und der Schulalltag wird vereinfacht.
Lehrer müssen bei all dem natürlich in der Lage sein,
die Technik vernünftig zu nutzen.
(Gemächliche Musik)
Am ersten Montag nach der Schulschließung
meldet das Bayerische Kultusministerium,
Hacker hätten die Server der Lernplattform Mebis lahmgelegt.
Na ja, eigentlich waren es wohl nur die Schüler und Lehrer,
die versucht haben, das System zu nutzen.
Ups.
Auch im Rest Deutschlands crashen die Lernplattformen.
Arbeitsblätter werden per E-Mail verschickt.
Lehrer versuchen, ihre Schüler einmal die Woche per Telefon zu erreichen.
Millionen Schülerinnen und Schüler sitzen eingepfercht zu Hause,
häufig ohne Laptops oder Tablets,
und versuchen, irgendwie mitzukommen.
Die Frustration bei den Familien ist riesig.
Oft ist zu wenig Platz, es gibt zu viele Geschwister,
die Eltern müssen selber arbeiten
und können nicht bei den Aufgaben helfen.
Diese Wochen bedeuten Anschluss verlieren,
Abschluss nicht schaffen ...
Stillstand.
Der Lockdown endet irgendwann im Frühling
und die Schulen werden langsam wieder geöffnet.
Viele Schüler müssen jetzt ein klaffendes Loch überbrücken.
Vor allem diejenigen,
die auch schon vor der Pandemie nicht mitgekommen sind.
Die Bundesregierung hat bereits 2016 den DigitalPakt Schule vorgestellt.
5,5 Milliarden Euro sollten für die Digitalisierung der Schulen
bereitgestellt werden.
Für Geräte, Lernplattformen, et cetera.
Leider sind bis Mitte 2020 nur fünf Prozent des Geldes bewilligt.
Dieses Geld kann also immerhin jetzt investiert werden.
Nur 0,3 Prozent sind bis dahin
tatsächlich bei den Schulen angekommen.
Sieben Bundesländer haben zu diesem Zeitpunkt
noch keinen einzigen Euro erhalten.
Im Dezember werden die Schulen nach etwas Hin und Her wieder geschlossen.
Elf Millionen Schülerinnen und Schüler sitzen wieder zu Hause.
Dieses Mal läuft zum Glück einiges besser.
Der digitale Unterricht klappt an vielen Schulen zumindest halbwegs.
Bis Ende 2020 wurden rund 25 Prozent der Originalsumme aus dem DigitalPakt
bewilligt und knapp neun Prozent sind angekommen.
Das Gesamtpaket wurde auf 7,15 Milliarden Euro aufgestockt.
Viele Schüler haben allerdings immer noch keine Tablets oder Laptops.
Lernplattformen sollen immer noch "zurückhaltend" genutzt werden,
weil sie sonst wieder gehackt, äh, zusammenbrechen.
Für viele Schüler war 2020 im Prinzip ein verlorenes Jahr.
(Fragende Musik)
Die Pandemie hat alle überrumpelt, gar keine Frage.
Und natürlich leidet der Unterricht darunter.
Das ist unvermeidbar.
Aber das deutsche Schulsystem war so richtig schlecht vorbereitet.
2018 hat eine Studie untersucht, wie es im internationalen Vergleich
in Sachen Digitalisierung abschneidet.
Und na ja, das deutsche System
war in fast jeder Hinsicht unterdurchschnittlich entwickelt.
Der Rückstand wird besonders im Vergleich zu Dänemark deutlich.
In Deutschland gaben vier Prozent der Schüler an,
dass sie jeden Tag digitale Medien im Unterricht nutzen würden.
In Dänemark waren es 91 Prozent.
Hier hatte jede vierte Schule stabiles W-Lan.
In Dänemark jede.
In Deutschland nutzten 17 Prozent der Schüler und Lehrer
eine Lernplattform.
In Dänemark 97 Prozent.
Das erste digitale Investitionsprogramm
startete dort bereits vor 20 Jahren.
Lehrer wurden schon 2001
für den Umgang mit digitalen Medien fortgebildet.
Inzwischen wird dort seit langem alles digital geregelt.
Noten, Fehlzeiten, Hausaufgaben, Terminkalender.
Gut, Dänemark ist auch absolute Spitzenklasse in dieser Hinsicht.
Aber der Unterschied zu deutschen Schulen
ist dennoch bemerkenswert.
Bildung ist in Deutschland Ländersache.
Die 16 Schulministerinnen und -minister
stimmen ihre Schulpolitik
auf der sogenannten Kultusministerkonferenz ab.
Die Bundesländer stellen nur das Personal
und die rechtlichen Rahmenbedingungen.
Die Kommunen bezahlen den Rest,
vom Schulhaus über Lehrbücher bis hin zur Digitalausstattung.
Das heißt, je nach dem, wie reich eine Kommune ist,
desto besser oder schlechter
können die Schulen vor Ort finanziert werden.
In einzelnen reichen Gemeinden
gibt es deshalb digitale Vorzeigeschulen.
Ärmere Kommunen mit geringen Steuereinnahmen oder Personalmangel
konnten ihre Schulen über Jahre
allerdings nicht entsprechend ausstatten.
Wo du wohnst, bestimmt in Deutschland also leider häufig,
ob es an deiner Schule Smartboards gibt oder Overheadprojektoren.
Lange Zeit hat niemand die Digitalisierung der Schulen
bundesweit vernünftig koordiniert und vorangetrieben.
Erst 2016, 15 Jahre nach Dänemark,
hat die Bundesregierung den "DigitalPakt Schule"
ins Leben gerufen.
Der Bund durfte die Länder aber eigentlich gar nicht
auf diese Weise finanziell unterstützen.
Das Grundgesetz wurde 2019 deshalb extra angepasst.
Erst dann konnte das Geld endlich fließen.
Aber es fließt bisher nur sehr, sehr langsam.
Der Hauptgrund dafür sind wohl äußerst hohe bürokratische Hürden.
Jede einzelne Schule muss zum Beispiel
zunächst einen komplexen Medienentwicklungsplan
mit sehr hohen Anforderungen ausarbeiten
und bei den Kommunen einreichen.
Erst wenn diese Pläne bewilligt sind, gibt es Geld.
Dann kam der Lockdown
und der gigantische Rückstand des deutschen Schulsystems
hat sich gerächt.
Viele Schulen hatten keine Geräte, keine digitale Infrastruktur,
keine entsprechend geschulten Lehrer.
Homeschooling war häufig ein Chaos.
Dass die fünf Milliarden nicht reichen.
Da war von vornherein klar,
dass das überhaupt auf nichts kalkuliert war.
Das war bestenfalls eine Startinvestition.
Und dann haben wir mal ausgerechnet,
als eigentlich hätte diese Anschubfinanzierung für Deutschland
20 Milliarden betragen müssen.
Das sind Harald Willert und Marlis Tepe.
Er ist Vorsitzender der Schulleitungsvereinigung NRW.
Sie ist Vorsitzende
der größten Lehrer- und Lehrerinnengewerkschaft Deutschlands
GEW.
In der Pandemie wurde der DigitalPakt
ja von fünfeinhalb auf insgesamt rund sieben Milliarden Euro aufgestockt.
Auf elf Millionen Schüler gerechnet
sind das trotzdem nur 650 Euro pro Schüler.
Einmalig.
Die Schulen brauchen aber fortlaufend Geld,
um die Infrastruktur in Betrieb zu halten.
IT-Fachkräfte, Lizenzen, Gerätewartungen,
Fortbildungen für Lehrer.
Nach Ansicht von Tepe und Willert
müsste eigentlich noch deutlich mehr investiert werden,
mit geringeren Hürden.
(Nachdenkliche Musik)
In Deutschland sind Schüler aus wohlhabenden, gebildeten Familien
besser in der Schule
als Schüler aus ärmeren Familien und Familien mit Migrationshintergrund.
Diese Chancenungleichheit in unserem Schulsystem
ist im internationalen Vergleich besonders drastisch.
Der internationale Vergleich zeigt sehr klar,
dass man Chancengleichheit relativ gut herstellen kann, ne?
Also, wenn wir zum Beispiel auf Nordeuropa schauen oder Asien,
dort sind auch die Kinder aus den sozial schwachen Familien
sehr gut in der Schule.
Man kann da mehr erreichen als in Deutschland.
Das ist Andreas Schleicher.
Er ist Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der OECD
und koordiniert dort die bekannten PISA-Studien.
Schüler aus nichtakademischen Haushalten
und Familien mit Migrationshintergrund
haben es im Homeschooling am schwersten.
Ihre Eltern können ihnen häufig nicht unter die Arme greifen
oder ihnen den Raum und die Ruhe bieten, selbstständig zu lernen.
Grade diese Schüler muss unser System
eigentlich auffangen und unterstützen.
Die Schüler dieser Generation haben einen Lernverlust.
Laut Andreas Schleicher würden sie deshalb über ihr Leben hinweg
potenziell zwischen drei und vier Prozent weniger Geld verdienen.
Und das kann sich auf die Gesamtwirtschaft
jetzt über die nächsten 70, 80 Jahre
mit Tausenden, 2.000, 3.000 Milliarden
dann niederschlagen in der Bilanz. Das sind erhebliche Kosten.
Es lässt sich natürlich schwer sagen,
ob der wirtschaftliche Schaden tatsächlich so groß wird.
Eine solche Kettenreaktion gibt dennoch zu denken.
Grade wenn in der Wohnung wenig Platz ist
und die Eltern unter Druck stehen,
leiden Kinder unter seelischem Stress.
Auch das betrifft Studien zufolge vor allem die Kinder,
deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss
oder einen Migrationshintergrund haben.
Es gibt Anzeichen,
dass diese Kinder deutlich stärker durch die Pandemie belastet werden.
Sie weisen häufiger psychosomatische Beschwerden
wie Bauch- oder Kopfschmerzen auf.
Außerdem erleben sie ausgeprägtere Symptome von Angst und Depression.
Vielerorts wird versucht, ihnen zu helfen.
Der Landtag in NRW hat im Juni 2020
zum Beispiel 75 Millionen Euro bereitgestellt.
Dieses Geld sollte für spezielle Ferienangebote
für abgehängte Schüler genutzt werden.
Bis Februar 2021 sind davon
allerdings nur fünf Millionen Euro abgerufen worden.
Die Gelder sind einfach in die Kommunen gegeben worden,
teilweise am vorletzten Schultag.
Teilweise am letzten Schultag.
Mit dem Hinweis: "Macht was draus."
Letztlich hätten gute Lernplattformen,
versierte Lehrer und ein Tablet zu Hause
vielen benachteiligten Schülern helfen können.
So hat sich die mangelnde Digitalisierung
in der Pandemie umso mehr gerächt.
Wenn Sie aus einem sozial günstigen Umfeld kommen,
haben Sie immer viele Chancen im Leben,
auch ohne gute Schule, ne?
Wenn Sie aus einem schwierigen Umfeld kommen,
haben Sie eine einzige Chance in Ihrem Leben.
Und das ist eine gute Schule.
Sie versagt seit Jahren.
Und sie versagt jetzt noch einmal ganz besonders.
Simone Fleischmann,
die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands,
formuliert das so:
Es gibt Schwachstellen im Bildungssystem,
die jetzt wie mit einem Spotlight angeleuchtet werden.
Ich sag immer, es gibt Schmuddelecken,
Schmuddelecken der Schulpolitik,
wo wir dachten, da kann man den Dreck schön hinschieben
und das sieht keiner.
Genau da ist jetzt der Scheinwerfer draufgekommen.
Die Konsequenzen einer verpassten, bürokratisierten,
unterfinanzierten Digitalisierung.
Und üble nochmals befeuerte Chancenungleichheit.
Das ist der Dreck, der jetzt in aller Hässlichkeit
im Scheinwerferlicht liegt, nachdem Corona in das System gecrasht ist.
Aber in diesem System arbeiten letztlich Menschen.
Und wir ziehen unseren Hut vor all denjenigen,
die während der Pandemie alles für ihre Schüler gegeben haben.
Es ist vor allem ihrem enormen Einsatz zu verdanken,
dass trotz der bitteren Umstände
wenigstens ein bisschen Schule gemacht werden konnte.
Im Februar 2021 hat Bildungsministerin Karliczek
im Rahmen der neuen Initiative digitale Bildung gesagt:
Sie hat recht.
Die Erkenntnis kommt 20 Jahre zu spät.
Aber jetzt scheint sich etwas zu tun.
Man plant eine nationale Bildungsplattform,
die Gelder aus dem DigitalPakt fließen schneller.
Vieles läuft heute schon deutlich besser
als vor einem Jahr. Das ist gut.
Wir müssen in der Digitalisierung endlich aufholen
und weniger Schüler abhängen.
Wir brauchen jetzt große visionäre Schritte,
starke Konzepte und weniger Bürokratie.
Die Coronakrise sollte für unser Bildungssystem als Anlass dienen,
sich neu zu erfinden.
Hey, hoffentlich hat euch dieses Video gefallen.
Schreibt uns eure Meinung zur momentanen Lage an den Schulen
unbedingt in die Kommentare.
Auf der Endcard findet ihr ein Video von "MrWissen2go" darüber,
was sich jetzt an Schulen ändern muss.
Und außerdem ein weiteres Video von uns zum Schulsystem.
Ansonsten bis zum nächsten Mal.