Der entwendete Brief - 03
»Der beiden Nachbarhäuser?« rief ich aus; »da hatten Sie aber eine ungeheure Arbeit!«
»Das hatten wir auch; aber die angebotene Belohnung ist ungemein hoch.«
»Sie hatten auch die angrenzenden Bodenflächen mit eingeschlossen, die Höfe usw.?«
»Höfe und Wege sind mit Ziegelsteinen gepflastert. Sie machten uns verhältnismäßig geringe Mühe. Wir prüften das Moos zwischen den Steinen und fanden nichts Verdächtiges.«
»Selbstverständlich blickten Sie auch in D.s Papiere und in die Bücher seiner Bibliothek?«
»Gewiß; wir öffneten jeden Stoß und jedes Päckchen; wir öffneten nicht nur jedes Buch, um es, wie einige unserer Polizeioffiziere das tun, nur zu schütteln, sondern wir wendeten Seite um Seite um. Wir maßen auch die Dicke jedes Buchdeckels mit peinlichster Sorgfalt und arbeiteten auch hier mit dem Mikroskop. Irgendeine unlängst vorgenommene Verletzung der Einbände hätte unserm Augenmerk unmöglich entgehen können. Vier oder fünf Bände, die gerade vom Buchbinder gekommen waren, prüften wir eingehend der Länge nach mit den Nadeln.«
»Sie durchforschten den Fußboden unter den Teppichen?«
»Selbstredend. Wir entfernten alle Teppiche und untersuchten die Bretter mit dem Mikroskop.«
»Und ebenso die Wandtapeten?«
»Auch diese.«
»Sie suchten in den Kellern?«
»Ja.«
»Dann«, sagte ich, »haben Sie einen Fehlschluß getan, und der Brief ist nicht mehr, wie Sie vermuteten, im Hause selbst.«
»Ich fürchte, darin haben Sie recht«, sagte der Präfekt. »Und nun, Dupin, sagen Sie, was Sie mir raten würden!«
»Das Haus nochmals gründlich zu durchsuchen.«
»Das ist durchaus zwecklos«, erwiderte G. »Ich bin wie von meinem Leben davon überzeugt, daß der Brief nicht im Palais ist.«
»Einen besseren Rat kann ich Ihnen nicht geben«, sagte Dupin. »Sie besitzen natürlich eine genaue Beschreibung des Briefes?«
»O ja!« Und der Präfekt zog ein Notizbuch heraus und las eine genaue Beschreibung der inneren und namentlich der äußeren Beschaffenheit des vermißten Dokumentes vor. Bald nachdem er die Vorlesung beendet, verabschiedete er sich, niedergedrückter als ich ihn je vordem gesehen. Etwa einen Monat später machte er uns wiederum einen Besuch und fand uns bei ziemlich derselben Beschäftigung wie damals. Er ließ sich einen Stuhl und eine Pfeife reichen und begann ein gleichgültiges Gespräch. Endlich sagte ich:
»Nun, G., erzählen Sie doch, wie steht's mit dem entwendeten Brief? Ich glaube, Sie sind wohl doch zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Unmöglichkeit ist, den Minister zu übertölpeln?«
»Verflucht, ja! Ich habe, Dupins Rat folgend, noch einmal alles durchsucht – doch alle Arbeit war umsonst, wie ich mir schon dachte.«
»Wie groß, sagten Sie, ist die Belohnung?« fragte Dupin.
»Nun, sehr groß – wirklich sehr groß – ich möchte die genaue Summe nicht angeben; aber eins kann ich sagen: ich selbst würde demjenigen, der mir den Brief verschaffte, sofort einen Scheck über fünfzigtausend Franken ausstellen. Tatsache ist, daß der Fall von Tag zu Tag schlimmer, dringlicher wird; und die Belohnung wurde verdoppelt. Aber wenn sie auch verdreifacht würde, könnte ich doch nicht mehr tun, als ich getan habe.«
»Ja, ich meine, G.«, sagte Dupin gedehnt und tat ein paar kräftige Züge aus der Meerschaumpfeife, »Sie haben noch nicht Ihr Äußerstes getan. Sie könnten – noch etwas mehr tun, denke ich, he?«
»Wie – was meinen Sie denn?«
»Nun« – paff, paff –, »Sie könnten« – paff, paff – »Rat einholen, wie?« – Paff, paff, paff. »Kennen Sie die Geschichte, die man von Abernethy erzählt?«
»Nein, zum Henker mit Abernethy!«
»Gewiß, zum Henker mit ihm! Aber da war einmal ein reicher Geizhals, der wollte diesen Abernethy gern umsonst konsultieren. In dieser Absicht lud er ein paar Leute zu sich ein und erzählte während der Unterhaltung dem Arzt den Krankheitsfall einer gedachten Person:
›Nehmen wir an‹, sagte der Geizhals, ›die Symptome seien die und die: nun, Doktor, was würden Sie ihm wohl zu nehmen verordnet haben ?‹
›Nehmen?‹ sagte Abernethy. ›Ärztlichen Rat natürlich!‹«
»Ja«, sagte der Präfekt ein wenig betroffen, »ich bin ja ganz willig, Rat zu nehmen und dafür zu bezahlen. Ich würde wirklich demjenigen, der mir in der Sache helfen würde, fünfzigtausend Franken geben.«
»Nun, wenn es sich so verhält«, sagte Dupin aus einem Schubfach ein Scheckbuch nehmend, »können Sie mir die erwähnte Summe sofort hierherschreiben. Wenn Sie unterzeichnet haben, werde ich Ihnen den Brief aushändigen.«
Ich war aufs höchste verblüfft. Der Präfekt schien wie vom Blitz getroffen. Sprachlos, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, starrte er Dupin an; dann, als er sich ein wenig erholt hatte, nahm er eine Feder, und unter mehrfachen Pausen und fragenden Blicken füllte er das Formular auf die Summe von fünfzigtausend Franken aus, unterzeichnete es und reichte es meinem Freund über den Tisch. Dieser prüfte es sorgsam und legte es in seine Brieftasche. Dann schloß er ein Schreibpult auf, entnahm ihm einen Brief und reichte ihn dem Präfekten. Der Beamte ergriff ihn, halb berauscht vor Freude, öffnete ihn mit zitternder Hand, warf einen schnellen Blick auf die Zeilen, suchte hastend und taumelnd die Tür und eilte ohne Abschied davon; seit Dupin ihn aufgefordert, den Scheck auszufüllen, hatte er kein Wort mehr gesprochen.