Neuntes Kapitel - Zweiter Bericht des Doktor Watson - 02
Unser Freund Sir Henry und die Dame waren stehen geblieben und hatten augenscheinlich über ihrem Gespräch die ganze Außenwelt vergessen; plötzlich bemerkte ich, daß ich nicht der einzige Zeuge ihrer Zusammenkunft war. Es flatterte irgend etwas Grünes in der Luft und als ich näher hinsah, bemerkte ich, daß dieses Grüne an einem Stock befestigt war und daß diesen Stock ein Mann trug, der sich schnell über den Moorgrund bewegte. Es war Stapleton mit seinem Schmetterlingsnetz.
Er war viel näher bei dem Paar als ich und ging scheinbar auf sie zu. In diesem Augenblick zog Sir Henry Fräulein Stapelton an seine Seite. Sein Arm hielt sie umschlungen, aber mir schien, daß sie sich mit abgewandtem Gesicht losmachen wollte. Er bog seinen Kopf zu ihrem hinunter, aber sie hob eine Hand wie zur Abwehr. Im nächsten Augenblick lösten sie sich abrupt voneinander und wirbelten herum. Stapleton war der Störenfried. Er sprang in großen Sätzen auf sie zu, wobei sein Schmetterlingsnetz in lächerlicher Weise hinter ihm in der Luft flatterte. Er gestikulierte heftig, es sah fast so aus, als führte er einen wilden Tanz vor dem Liebespaar auf. Die Bedeutung der ganzen Szene konnte ich mir nicht erklären, aber mir kam es vor, als ob Stapleton Sir Henry heftige Vorwürfe machte. Dieser gab, wie es schien, Erklärungen ab und wurde dann auch ärgerlich, als der andere davon nichts hören wollte. Die Dame stand in stolzem Schweigen dabei.
Zuletzt drehte Stapleton sich kurz um und winkte mit gebieterischer Gebärde seiner Schwester; diese warf noch einen unentschlossenen Blick auf Sir Henry und entfernte sich dann an der Seite ihres Bruders. An den zornigen Gebärden des Naturforschers ließ sich erkennen, daß er auch mit seiner Schwester unzufrieden war. Der Baronet sah ihnen etwa eine Minute lang nach, dann ging er gesenkten Hauptes langsam den Weg zurück, den er gekommen war; ein Bild tiefer Niedergeschlagenheit.
Die Bedeutung des Vorfalls war mir, wie gesagt, unklar, aber ich schämte mich aufs tiefste, ohne Wissen meines Freundes einem nicht für Zeugen bestimmten Auftritt beigewohnt zu haben. Ich eilte daher den Hügel hinunter und traf unten mit dem Baronet zusammen. Sein Gesicht war vor Ärger gerötet und seine Augenbrauen waren in scharfem Nachdenken zusammengezogen, als wüßte er nicht, welchen Entschluß er fassen sollte.
»Hallo, Watson!« rief er, als er mich bemerkte. »Wo kommen Sie denn hergeschneit? Sie sind mir doch nicht etwa trotz alledem nachgegangen?«
Ich gab ihm eine offene Erklärung, daß es mir unmöglich gewesen wäre, zurückzubleiben, daß ich ihm deshalb gefolgt wäre und den ganzen Vorfall mit angesehen hätte. Zuerst sah er mich mit funkelnden Augen an, aber meine Freimütigkeit entwaffnete seinen Zorn, und zuletzt brach er in ein allerdings ziemlich trauriges Lachen aus und sagte:
»Man hätte doch denken sollen, daß man mitten in dieser Einöde ungestört seinen Privatangelegenheiten nachgehen könnte; aber, zum Donnerwetter, die ganze Nachbarschaft scheint sich auf die Beine gemacht zu haben, um sich meine Liebeswerbung anzusehen – freilich, eine recht klägliche Liebeswerbung. Welchen Platz hatten Sie denn, Doktor?«
»Ich war da oben auf dem Hügel.«
»Also Stehplatz ganz hinten. Dafür aber war ihr Bruder ganz vorn, sozusagen Orchesterfauteuil. Sahen Sie ihn auf uns loskommen?«
»Ja.«
»Machte er je auf Sie den Eindruck, daß er verrückt ist – ich meine ihren Bruder?«
»Das kann ich nicht von ihm sagen.«
»Ich auch nicht. Ich hielt ihn bis heute für vollkommen vernünftig, aber glauben Sie mir, entweder er oder ich gehören in eine Zwangsjacke. Nun, wie steht's denn mit mir? Sie haben jetzt mehrere Wochen in meiner Gesellschaft gelebt, Watson. Sagen Sie mir frei heraus: Ist irgend etwas an mir, das verhindern könnte, für das Weib, das ich liebe, ein guter Gatte zu sein?«
»Das kann man ganz gewiß nicht behaupten.«
»Gegen meine Stellung in der Welt kann er nichts einzuwenden haben, also muß ich selber ihm nicht recht sein. Was hat er gegen mich? Ich habe, soviel ich weiß, meiner Lebtage weder einem Mann noch einer Frau etwas zuleide getan. Und dabei will er mich nicht mal ihre Fingerspitzen anrühren lassen.«
»Sagte er das?«
»Das und noch viel mehr. Wissen Sie, Watson, ich kenne sie erst diese paar Wochen, aber vom ersten Augenblick an fühlte ich, daß sie für mich geschaffen ist, und auch sie – sie war glücklich, wenn sie mit mir zusammen war, darauf will ich schwören. In einem Frauenauge ist ein gewisser Glanz, der deutlicher spricht als Worte. Aber er ließ uns nie ungestört beisammen sein und heute, zum ersten Mal, ergab sich die Möglichkeit, ein paar Worte mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Sie freute sich ebenfalls, mit mir zusammen zukommen, aber als wir uns dann trafen, wollte sie nichts von Liebe hören, geschweige denn selbst davon sprechen. Fortwährend kam sie darauf zurück, daß die Gegend gefahrvoll wäre und daß sie nicht mehr glücklich sein könnte, bevor ich den Ort verlassen hätte. Ich sagte ihr: seit ich sie gesehen, hätte ich's mit der Abreise durchaus nicht eilig, und wenn sie wirklich wünschte, daß ich ginge, so gebe es kein anderes Mittel, als wenn sie mit mir ginge. Und ich bot ihr in beredten Worten mich als Gatten an; aber bevor sie antworten konnte, da kam ihr Bruder auf uns losgesprungen mit einem Gesicht wie ein Irrsinniger. Er war kreideweiß vor Wut, und seine hellblauen Augen schleuderten Blitze. Was machte ich da mit der Dame? Wie könnte ich's wagen, ihr Aufmerksamkeiten zu erweisen, die ihr nicht willkommen wären. Glaubte ich vielleicht, weil ich Baronet wäre, könnte ich tun was mir gefiele?
Wäre er nicht ihr Bruder gewesen, so hätte ich wohl die richtige Antwort für ihn gehabt. So begnügte ich mich damit ihm zu sagen, meine Gefühle für seine Schwester wären von der Art, daß ich mich ihrer nicht zu schämen brauchte, und ich hoffte, sie würde mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden. Diese Erklärung hatte aber anscheinend keine Wirkung; da verlor auch ich die Geduld und antwortete ihm hitziger als ich's wohl eigentlich hätte dürfen, da sie ja neben uns stand. Das Ende vom Liede war, daß er mit ihr fortging, wie Sie sahen, und hier stehe ich nun und bin ich völlig ratlos. Sagen Sie mir doch um Gottes willen, Watson, was dies alles bedeutet!«
Ich versuchte ein paar Erklärungen zu geben, aber ich war in der Tat selber vollkommen verwirrt. Unseres Freundes Adelstitel, sein Vermögen, sein Alter, sein Charakter, seine äußere Erscheinung – dies alles spricht zu seinen Gunsten, und ich weiß nicht, was man überhaupt gegen ihn anführen könnte – abgesehen vielleicht von dem düsteren Verhängnis, das seine Familie verfolgt. Daß sein Antrag so schroff zurückgewiesen wird, ohne daß die Dame überhaupt nur um ihre Meinung gefragt wurde, und daß die Dame sich ohne ein Wort des Protestes in diese Lage fügt – das ist sehr überraschend. Wir wurden indessen der Beschäftigung mit unseren Mutmaßungen bald überhoben, denn der Bruder machte noch am selben Nachmittag einen Besuch auf Baskerville Hall. Er kam, um sich wegen seines ungezogenen Benehmens zu entschuldigen, und das Endergebnis einer langen Unterredung, die er mit Sir Henry unter vier Augen in dessen Arbeitszimmer hatte, ist, daß der Bruch wieder vollkommen geheilt ist und daß wir zum Zeichen der Versöhnung am Freitag nach Merripit House zum Essen kommen sollen.
»Ich will nicht behaupten, daß er nicht verrückt ist,« sagte Sir Henry zu mir. »Ich kann den Ausdruck nicht vergessen, der in seinen Augen lag, als er heute früh auf mich losstürzte, aber ich muß zugeben, daß niemand eine bessere Entschuldigung vorbringen konnte, als er es getan hat.«
»Gab er irgend eine Erklärung für sein Benehmen?«
»Er sagt, seine Schwester sei sein ein und alles. Das ist ja auch ganz natürlich, und ich freue mich sogar darüber, daß er ihren Wert zu schätzen weiß. Sie sind immer zusammen gewesen, und er war, wie er sagt, jederzeit ein einsamer Mann, der niemals andere Gesellschaft hatte außer ihr; der Gedanke, sie verlieren zu müssen, sei für ihn daher geradezu fürchterlich gewesen. Er hätte nichts davon gemerkt, daß sich ein Verhältnis zwischen uns anbahnt, als er es dann aber mit eigenen Augen gesehen hätte und ihm zum Bewußtsein gekommen wäre, daß sie ihm vielleicht genommen würde, da hätte ihm das einen solchen Schlag versetzt, daß er eine Zeitlang nicht gewußt hätte, was er sagte oder tat. Der ganze Vorfall täte ihm außerordentlich leid, und er müßte zugeben, daß es töricht und selbstsüchtig von ihm sei sich einzubilden, daß er ein schönes Mädchen wie seine Schwester ihr ganzes Leben lang für sich behalten könne. Wenn sie ihn denn doch verlassen müßte, so wäre es ihm noch lieber, ein Nachbar wie ich bekäme sie, als sonst jemand. Aber jedenfalls wäre es ein harter Schlag für ihn, und er bedürfe einer gewissen Zeit, um sich damit abzufinden. Er wollte seinerseits auf jeden Widerstand verzichten, wenn ich dafür verspräche, drei Monate lang die Angelegenheit ruhen zu lassen, um mich damit zu begnügen, während dieser Zeit der Dame meine Freundschaft zu bezeigen und nicht um ihre Liebe zu werben. Das versprach ich ihm, und somit ist die Sache vorläufig erledigt.«
So ist also eines von unseren Rätsel gelöst. Es bedeutet schon etwas in diesem Morast, im dem wir uns bewegen, wenigstens an einer Stelle auf festen Grund gekommen zu sein. Wir wissen jetzt, warum Stapleton mit so scheelen Blicken auf seiner Schwester Freier sah, obwohl dieser Freier ein so begehrenswerter Mann ist wie Sir Henry.