Neuntes Kapitel - Zweiter Bericht des Doktor Watson - 04
Das also war die Erklärung des heimlichen nächtlichen Herumschleichens und des an das Fenster gehaltenen Lichtes. Sir Henry und ich starrten die Frau ganz verdutzt an. War es möglich, konnte diese augenscheinlich beschränkte, aber dabei ehrbare Person vom selben Fleisch und Blut sein wie einer der berüchtigtsten Verbrecher im ganzen Land?
»Ja, Herr,« fuhr sie fort. »Ich hieß früher Selden, und er ist mein jüngerer Bruder. Wir verzogen ihn zu sehr als er ein kleiner Knirps war, und ließen ihm in allem seinen Willen, bis er zuletzt dachte, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da, und er könnte tun, was ihm gefällt. Als er dann älter wurde, kam er in schlechte Gesellschaft, und der Teufel wurde Herr über ihn, bis er zuletzt meiner Mutter Herz brach und unseren guten Namen in den Schmutz zog. Von Verbrechen zu Verbrechen sank er immer tiefer und tiefer, und nur Gottes Gnade hat ihn vor dem Galgen bewahrt. Für mich aber, Herr, war er immer der krausköpfige kleine Junge, den ich als ältere Schwester aufgezogen und mit dem ich gespielt habe. Deshalb brach er aus dem Zuchthaus aus, Herr. Er wußte, daß ich hier war und ihm meine Hilfe nicht verweigern würde. Und als er sich dann eines Nachts erschöpft und halb verhungert an unsere Tür schleppte und die Verfolger ihm dicht auf den Fersen waren – ja, was konnten wir da tun? Wir ließen ihn ein und gaben ihm zu essen und pflegten ihn. Dann kamen Sie hierher, Herr, und mein Bruder dachte, es wäre sicherer für ihn draußen auf dem Moor, bis der erste Lärm und die Hetzjagd vorüber wären; deshalb verbarg er sich draußen. Aber jede zweite Nacht vergewissern wir uns, ob er noch da ist, indem wir ein Licht ins Fenster stellen, und wenn er auf dieses Zeichen antwortet, bringt mein Mann ihm Brot und Fleisch hinaus. Jeden Tag hoffen wir, er wäre fort, aber so lange er noch hier ist, können wir ihn nicht im Stich lassen. Das ist die ganze Wahrheit – so wahr ich eine ehrliche Christin bin, und Sie werden einsehen, wenn dabei jemand zu tadeln ist, so fällt der Vorwurf nicht auf meinen Mann, sondern nur auf mich allein, denn nur um meinetwillen hat er das alles getan.«
Die Frau sprach mit solchem Ernst, daß man von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt sein mußte.
»Ist dies wahr, Barrymore?«
»Ja, Sir Henry! Vom ersten bis zum letzten Wort.«
»Nun, ich kann Sie nicht dafür tadeln, daß Sie Ihrer Frau geholfen haben. Vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Gehen Sie mit Ihrer Frau in Ihr Zimmer; morgen wollen wir weiter darüber sprechen.«
Als sie fort waren, sahen wir wieder aus dem Fenster. Sir Henry hatte es aufgestoßen, und der kalte Nachtwind schlug uns ins Gesicht. In der finsteren Ferne glomm noch immer das gelbe Lichtpünktchen.
»Ich wundere mich, daß er das wagt,« rief Sir Henry.
»Vielleicht ist das Licht so aufgestellt, daß es nur von hier aus sichtbar ist.«
»Höchstwahrscheinlich. Wie weit ist es Ihrer Meinung nach entfernt?«
»Es scheint mir bei Clest Tor zu sein.«
»Also nur eine oder zwei Meilen von hier?«
»Kaum so weit.«
»Jedenfalls kann es nicht sehr weit sein, da Barrymore die Lebensmittel hinauszubringen hatte. Und da draußen wartet der Schurke, neben seinem Licht. Zum Donnerwetter, Watson, ich will hinaus und den Kerl festnehmen!«
Derselbe Gedanke war auch mir schon gekommen. Es konnte nicht davon die Rede sein, daß die Barrymores uns ins Vertrauen gezogen hatten. Ihr Geheimnis war ihnen mit Gewalt entrissen worden. Der Mann war eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft, ein unbarmherziger Schurke, für den es kein Erbarmen und kein Mitleid gab. Wir taten nur unsere Pflicht, wenn wir ihn an den Ort zurückbrachten, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Ließen wir diesen rohen, gewalttätigen Verbrecher aus den Händen, so würden andere dafür büßen müssen. Jede Nacht waren zum Beispiel unsere Nachbarn, die Stapletons, durch einen Angriff von ihm bedroht; vielleicht war es dieser letztere Gedanke, der Sir Henry so besonders erpicht auf das Abenteuer machte.
»Ich werde mitkommen,« sagte ich.
»Dann holen Sie Ihren Revolver und ziehen Sie Ihre Stiefel an. Je eher wir uns auf den Weg machen, desto besser, sonst bläst der Kerl vielleicht sein Licht aus und macht sich davon.«
Keine fünf Minuten später waren wir draußen. Schnell durchschritten wir den finsteren Baumgarten; der Nachtwind brauste eintönig, die fallenden Blätter raschelten. Die Nachtluft war drückend schwer von Nebel und Dunst. Ab und zu wurde der Mond für einen Augenblick sichtbar, aber der Himmel war dicht von eilenden Wolken überzogen, und gerade als wir auf das Moor hinaustraten, begann ein feiner Regen zu fallen. Das Licht brannte noch immer gerade vor uns auf demselben Fleck.
»Sind Sie bewaffnet?« fragte ich.
»Ich habe eine Jagdpeitsche.«
»Wir müssen blitzschnell über ihn herfallen, denn er soll ein ganz verzweifelter Geselle sein. Wir werden ihn überraschen und überwältigen, ehe er nur an Widerstand denken kann.«
»Na, Watson,« sagte der Baronet, »was würde Holmes dazu sagen? Wie war das noch mit der Stunde der Finsternis, da die Macht des Bösen entfesselt ist?«
Gleichsam als Antwort auf diese Frage erhob sich plötzlich aus der düsteren weiten Fläche des Moors jener seltsame Schrei, den ich schon einmal, am Rande des großen Grimpener Sumpfes, vernommen hatte. Der Wind trug ihn durch das nächtliche Schweigen zu uns heran – ein langes, tiefes Stöhnen, dann ein anschwellendes Heulen und dann das grausige Seufzen, worin es ausklang. Immer und immer wieder erhob sich der Laut, die ganze Luft schien von dem wilden, drohenden, durchdringenden Klang erfüllt zu sein. Der Baronet packte mich am Ärmel, und ich sah trotz der Finsternis, daß sein Gesicht leichenblaß geworden war.
»Um Gottes willen, was ist das, Watson?«
»Ich weiß es nicht. Es ist ein Laut, der dem Moor eigentümlich ist. Ich hörte ihn früher schon einmal.«
Der Ton verstummte, und tiefstes Schweigen umhüllte uns. Wir lauschten mit Anspannung aller unserer Nerven, aber es kam nichts mehr.
»Watson,« sagte der Baronet, »es war das Geheul eines Hundes.«
Mir erstarrte das Blut in den Adern, denn seine Stimme klang ganz gebrochen; offenbar hatte ihn ein plötzliches Entsetzen gepackt.
»Wie nennt man diesen Laut?« fragte er.
»Wer?«
»Nun, die Leute hier in der Gegend.«
»Ach, das ist ja unwissendes Volk. Was kümmert es Sie, was die Leute darüber sagen.«
»Sprechen Sie, Watson. Was sagen sie darüber?«
Ich zauderte, aber ich konnte der Beantwortung der Frage nicht ausweichen.
»Man sagt, es sei das Geheul des Hundes der Baskervilles.«
Er stöhnte und schwieg einige Augenblicke. Endlich sagte er:
»Ein Hund war es; aber das Geheul schien aus weiter Ferne zu kommen; von dort drüben her, glaube ich.«
»Es läßt sich schwer angeben, woher es kam.«
»Es schwoll an und wurde schwächer mit dem Wind. Liegt nicht in jener Richtung der große Grimpener Sumpf?«
»Ja.«
»Hm, dorther kam es. Seien Sie ehrlich, Watson. Glauben Sie nicht selber, es war das Geheul eines Bluthundes? Ich bin kein Kind. Sie können ohne Furcht die Wahrheit sagen.«
»Stapleton war bei mir, als ich es das vorige Mal hörte; er sagte, es könnte möglicherweise der Schrei eines seltenen Vogels sein.«
»Nein, nein, es war ein Hund. Mein Gott, kann denn wirklich etwas Wahres an all diesen Geschichten sein? Ist es möglich, daß mich wirklich eine so geheime, dunkle Gefahr bedroht? Sie glauben doch nicht daran, Watson, nicht wahr?«
»Nein, nein.«
»Und doch, in London konnte man wohl darüber lachen, aber es ist was anderes, hier in der Finsternis auf dem Moor zu stehen und ein solches Geheul zu hören. Und mein Onkel! Neben der Stelle, wo er lag, war die Fußspur eines riesigen Hundes. Es paßt alles zusammen. Ich denke, ich bin wirklich kein Feigling Watson, aber bei jenem Ton war es mir, als gefröre das Blut in meinen Adern. Fühlen Sie meine Hand.«
Sie war so kalt wie ein Stück Marmor.
»Morgen wird Ihnen wieder ganz wohl sein.«
»Ich glaube nicht, daß mir das Geheul je wieder aus dem Kopf geht. Was sollen wir Ihrer Meinung nach jetzt tun?«
»Sollen wir umkehren?«
»Zum Donnerwetter, nein! Wir sind hierher gekommen, um den Kerl zu fangen, und wir werden ihn fangen. Wir sind hinter dem Sträfling her, und ein Höllenhund ist ohne Zweifel hinter uns her. Vorwärts! Wir wollen die Sache zu Ende führen, und wenn alle Teufel der Hölle auf das Moor losgelassen wären.«