Der Hüter unserer Brüder
Wann kam die erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte sie? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort, nur einige Theorien. Die meisten Wissenschaftler sind sich jedoch einig, dass in Ostafrika vor 150000 Jahren die ersten »anatomisch modernen Menschen« lebten. Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf dem Seziertisch vor sich hätte, dann würde ihm nichts Besonderes auffallen. Wissenschaftler sind sich außerdem einig, dass der Homo sapiens vor rund 70000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderte und sich von dort aus rasch über weite Teile Europas und Asiens ausbreitete. Als der Homo sapiens nach Arabien kam, lebten in Europa und Asien jedoch schon andere Menschenarten. Was passierte mit denen? Dazu gibt es zwei widerstreitende Theorien. Die »Vermischungshypothese« erzählt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anziehung, Vermischung und Sex. Wenn man dieser Theorie glaubt, trieben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allen, die ihnen über den Weg liefen. Daher verdankten die verschiedenen Gruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften zum Teil auch den Angehörigen älterer Menschenarten. Die zweite Theorie, die »Verdrängungshypothese«, zeichnet ein ganz anderes Bild von Unverträglichkeit, gegenseitiger Ablehnung und vielleicht sogar Völkermord. Nach dieser Theorie fanden die Neuankömmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen alles andere als attraktiv. Und selbst wenn es hier und da zu Paarungen gekommen sein sollte, sei aus diesen Verbindungen kein fortpflanzungsfähiger Nachwuchs hervorgegangen, weil der genetische Graben zwischen beiden Arten bereits zu groß gewesen sei. Oder vielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehenden Konkurrenten ganz einfach ab. Nach dieser Hypothese verschwanden die älteren Menschenarten, ohne genetische Spuren im modernen Menschen zu hinterlassen. Wenn diese Theorie stimmt, gehen alle heute lebenden Menschen ausschließlich auf Vorfahren zurück, die vor 70000 Jahren in Ostafrika lebten. In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen steht einiges auf dem Spiel. Aus evolutionärer Sicht sind 70000 Jahre ein relativ kurzer Zeitraum. Wenn die Verdrängungshypothese stimmt, haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe genetische Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlässigbar. Wenn dagegen die Vermischungshypothese stimmt, könnte es zwischen Afrikanern, Europäern und Asiaten beachtliche genetische Unterschiede geben, die Hunderttausende von Jahren zurückreichen. Rassisten würden es sicher gern hören, dass Indonesier einmalige floresiensis-Gene mitbringen und Chinesen klar unterscheidbare erectus-Gene. Da die Beweislage unklar ist, neigt die Expertenmeinung mit jeder neuen Entdeckung und jedem neuen Experiment mal zu der einen und mal zu der anderen Hypothese. Ein entscheidender Zankapfel ist der Neandertaler. Diese Menschen waren größer, muskulöser und besser an die Lebensbedingungen in kalten Klimazonen angepasst als wir, und sie hatten außerdem ein mindestens ebenso großes Gehirn. Sie benutzten Werkzeuge und Feuer, waren ausgezeichnete Jäger, und es gibt Hinweise, dass sie ihre Toten bestatteten und sich um Kranke und Schwache kümmerten. Archäologen haben Knochen von Neandertalern gefunden, die jahrelang mit schweren körperlichen Behinderungen überlebten, was darauf schließen lässt, dass sie von den Angehörigen ihrer Gruppe versorgt worden sein müssen. Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrang, wichen sie zurück und verschwanden schließlich ganz. Die letzten Neandertaler, von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochen gefunden haben), lebten vor 30000 Jahren in Südspanien – aus Sicht der Evolution ist das so, als wäre das noch gestern Abend gewesen. Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens2 und Neandertaler, bis die beiden Arten ineinander aufgingen. Sollten die Vertreter dieser Theorie Recht haben, verschwand der Neandertaler also nicht – vielmehr tragen die heutigen Europäer und Asiaten den Neandertaler in sich. Vertreter der Verdrängungshypothese widersprechen dem jedoch. Ihrer Ansicht nach unterschieden sich Sapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Körperbaus, sondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Körpergeruchs. Daher hätten sie vermutlich kaum Gefallen aneinander gefunden. Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt hätten, oder wenn ein Sapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehalten hätte, dann wären ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesen. Vielmehr hätten die beiden Arten nebeneinander gelebt, und als die Neandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden, verschwanden ihre Gene mit ihnen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von der Verdrängungshypothese beherrscht. Sie schien durch archäologische Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politisch korrekt (die Wissenschaftler hatten kein Interesse daran, ein rassistisches Fass aufzumachen und von großen genetischen Unterschieden unter den modernen Menschen zu sprechen). Das änderte sich jedoch im Jahr 2010, als nach vierjähriger Arbeit Teile des Neandertalergenoms entschlüsselt worden waren. Genforscher hatten ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien von Neandertalern gesammelt, um einen Vergleich zwischen modernen Menschen und ihren stämmigen Vorläufern anstellen zu können. Die Ergebnisse verblüfften die Fachwelt: Es stellte sich heraus, dass 4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und dem Nahen Osten von Neandertalern stammen. So bescheiden das klingen mag, ist es gar nicht wenig. Eine zweite Überraschung folgte einige Monate später, als sich herausstellte, dass der Besitzer des versteinerten Fingers aus der Denissowa-Höhle sogar 6 Prozent seines Erbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesien und Australien gemeinsam hatte. Aber wie könnte die biologische Beziehung zwischen Sapiens, Neandertalern und Denissowern ausgesehen haben? Offenbar waren es keine grundsätzlich verschiedenen Arten, wie zum Beispiel Pferde und Esel. Aber es handelte sich auch nicht einfach um verschiedene Unterarten derselben Art, wie Doggen und Cockerspaniel. Die biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig. Zwei Arten, die aus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen, wie Pferde und Esel, waren irgendwann einmal einfach Varianten, wie Doggen und Cockerspaniel. Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiede immer größer, bis die beiden getrennte Wege gingen. Es muss einen Punkt gegeben haben, an dem sich die Arten zwar schon deutlich unterschieden, aber hin und wieder noch zeugungsfähige Nachkommen hervorbringen konnten. Zwei oder drei Genmutationen später wurde die Verbindung dann für immer gekappt. An diesem Punkt müssen sich Sapiens, Neandertaler und Denissower vor etwa 50000 Jahren befunden haben. Wie wir im kommenden Kapitel sehen werden, unterschieden sich die Sapiens damals nicht nur genetisch und körperlich, sondern auch hinsichtlich ihrer kognitiven und sozialen Fähigkeiten erheblich von ihren Vettern. Trotzdem konnten sie in seltenen Fällen noch Nachwuchs mit ihnen zeugen. Die Arten verschmolzen also nicht – es gelang lediglich ein paar Neandertalergenen, als blinde Passagiere auf den Sapiens-Express aufzuspringen. Es ist ein aufregender, aber auch beunruhigender Gedanke, dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage waren, mit Angehörigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen. Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingen, warum sind sie dann verschwunden? Es kann durchaus sein, dass die Neandertaler ausstarben, weil sie der Konkurrenz durch den Homo sapiens nicht gewachsen waren. Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan, das seit Hunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird. Die Neuankömmlinge jagen Wild und sammeln Nüsse und Beeren, die auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen. Dank ihrer überlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiens bessere Jäger und Sammler und vermehren sich rasch. Die weniger geschickten Neandertaler finden dagegen immer weniger Nahrung, ihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass der Konkurrenzkampf in Gewalt und Blutvergießen ausartete. Der Homo sapiens ist nicht gerade für seine Toleranz bekannt. In der Geschichte der Art reichte oft schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe, Dialekt oder Religion, damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete. Warum sollten die frühen Sapiens mit einer gänzlich anderen Menschenart zimperlicher umgesprungen sein? Es ist gut möglich, dass die Begegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten und gründlichsten »ethnischen Säuberung« der Geschichte endete. Was auch immer passiert sein mag, die Neandertaler bieten Anlass zu faszinierenden Gedankenspielen. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens überlebt hätten. Welche Kulturen, Gesellschaften und politischen Strukturen wären in einer Welt entstanden, in der mehrere Menschenarten friedlich nebeneinander existierten? Wie hätten sich beispielsweise die Religionen entwickelt? Könnten wir heute in der Bibel lesen, dass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte? Wäre Jesus auch für die Sünden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden? Würde der Koran allen Rechtgläubigen einen Platz im Paradies versprechen, egal welcher Art sie angehören? Hätten die Neandertaler in den Legionen des Römischen Reichs und in der ausufernden Bürokratie der chinesischen Kaiser gedient? Hätte Karl Marx die Proletarier aller Arten aufgerufen, sich zu vereinigen? Würde die Erklärung der Menschenrechte für alle Angehörigen der Gattung Homo gelten? In den vergangenen 30000 Jahren haben wir Sapiens uns derart daran gewöhnt, die einzige Menschenart zu sein, dass es uns schwerfällt, uns eine andere Möglichkeit auch nur vorzustellen. Ohne Brüder und Schwestern fiel es uns leichter zu glauben, wir seien die Krone der Schöpfung, die durch einen unüberwindlichen Abgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei. Als Charles Darwin erklärte, der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten, waren seine Zeitgenossen empört. Selbst heute weigern sich viele, diese Tatsache anzuerkennen. Aber würden wir uns auch dann noch für ein auserwähltes Wesen halten, wenn die Neandertaler überlebt hätten? Vielleicht war das ja der Grund, warum unsere Vorfahren die Neandertaler ausrotteten: Sie waren zu ähnlich, um sie zu ignorieren, und zu anders, um sie zu dulden. Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben mögen – wo immer sie auftauchten, verschwanden die einheimischen Menschenarten. Die letzten Angehörigen des Homo soloensis segneten vor 50000 Jahren das Zeitliche, der Homo denisova folgte 10000 Jahre später. Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund 30000 Jahren, und die Zwergmenschen von der Insel Flores gingen vor 12000 Jahren dahin. Zurück blieben ein paar Knochen und Steinwerkzeuge, eine Handvoll Gene in unserem Genom und eine Menge unbeantworteter Fragen. Einige Wissenschaftler hegen die Hoffnung, sie könnten eines Tages in den unberührten Tiefen des indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern treffen. Leider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spät dran. Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens? Wie gelang es uns, so schnell so unterschiedliche und räumlich so weit auseinander liegende Lebensräume zu besiedeln? Wie haben wir es geschafft, alle anderen Menschenarten zu verdrängen? Warum überlebte nicht einmal der muskulöse, intelligente und kälteresistente Neandertaler unseren Ansturm? Die Debatte darüber verläuft hitzig. Die wahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument, mit dem diese Debatte geführt wird: Wenn der Homo sapiens die Welt eroberte, dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache. von Yuval Harari