Betäubt und vergewaltigt – Skandal an Vorzeige-Klinik
Hätten sie meine Mandantin ernst genommen,
hätten sie weitere Vergewaltigung verhindern können.
"Kontraste" trifft eine Frau,
die zweimal von einem Assistenzarzt vergewaltigt wurde.
In erster Linie gebe ich das Interview,
damit die Sache nicht totgeschwiegen wird und nichts vertuscht wird.
Im evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld
sucht Carina S. im Juli 2019 Hilfe.
Die junge Mutter ist öfter umgekippt, kommt in die Neurologie.
Gegen Mitternacht reißt ein Assistenzarzt die Tür auf und sagt,
er müsse ihr einen Zugang legen.
Als er ihr etwas in die Vene spritzt,
verliert Carina S. das Bewusstsein.
Nachts um 3 Uhr wird sie wach, hat Schüttelfrost und Gliederschmerzen.
Dann sah ich, dass der Zugang, den der Arzt mir gelegt hat,
dass der halt am Boden lag, da waren auch Blutspuren im Bett.
Am nächsten Morgen bemerkt sie in ihrem Bett eine Medikamentenflasche.
Davon existiert ein Foto. Propofol, ein Narkosemittel.
Es schaltet das Gedächtnis aus. Doch das weiß Carina S. noch nicht.
Sie meldet den Fund einer Schwester.
Dann war für mich ganz klar:
Wenn jetzt irgendwas an dieser Situation ungewöhnlich ist
oder etwas passierte, was nicht hätte passieren dürfen,
wird die Schwester wohl mit einem Arzt sprechen
und mich darauf hinweisen.
August 2019.
Eine andere Patientin, nennen wir sie Nicole T.,
liegt in der Neurologie.
Sie möchte nicht vor die Kamera, schreibt das Erlebte aber auf.
Nicole T. wurde vom Assistenzarzt Philipp G. narkotisiert,
um sie oral zu vergewaltigen.
Er filmt seine Tat.
Nach dem kurzen Gespräch beschließt der Chefarzt,
Nicole T. zu entlassen.
Damit war die Visite beendet.
Daniel Farrokh, der Anwalt von Nicole T., findet,
der Chefarzt hätte sofort handeln müssen.
Man hätte nachrecherchieren müssen, warum ein Assistenzarzt
zu nachtschlafender Zeit Patientinnen Infusionen gibt.
Was war das für ein Medikament?
Möglicherweise hätte man noch anhand von Blutuntersuchungen
oder Ähnlichem Ergebnisse festhalten können.
All das geschah nicht.
Ein Interview mit uns lehnt die Klinik ab und teilt schriftlich mit:
Klinikleitung und Chefarzt wüssten erst seit September 2019
von möglichen Vorfällen falscher Medikamentengabe.
Seltsam. Die Hinweise von Nicole T. aus August 2019 nennen sie nicht.
Im September 2019 begeht der Arzt weitere Vergewaltigungen.
Carina S. muss noch einmal in diese Klinik.
Wieder behauptet der Assistenzarzt,
er müsse ihr und ihrer Zimmernachbarin einen Zugang legen.
Er vergewaltigt Carina S. ein zweites Mal.
Ebenso die andere Patientin. Wieder filmt er seine Taten.
Morgens wird den Frauen klar: Hier stimmt etwas nicht.
Sie informieren eine Schwester und die den Oberarzt.
Der erscheint mit dem Täter.
Und begründet die Bewusstlosigkeit so:
Meine Reaktion hatte ich angeblich,
weil die Kochsalzlösung wohl nicht die richtige Temperatur hatte.
Das Medikament wäre wohl zu warm gewesen.
Ich habe auch gleich gesagt, was ich gedacht habe, nämlich
dass das totaler Blödsinn ist.
Und dass wir zu zweit sind
und das beim ersten Mal auch schon sowas war.
Hierzu teilt die Klinik "Kontraste" mit, es seien ...
"alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet worden,
um dem Vorwurf der nicht-sachgemäßen Medikamentengabe nachzugehen."
Der Oberarzt habe noch am selben Tag
medizinisch-labortechnische Untersuchungen angewiesen.
Der Vorwurf sei ernstgenommen worden.
Zusätzlich sei der Betäubungsmittelverbrauch
der gesamten Klinik kontrolliert worden.
Beides habe keine Auffälligkeiten ergeben.
Stefanie Höke, Anwältin von Carina S., findet,
dass ihre Mandantin den Ärzten genug Hinweise zum Handeln gab.
Dafür sind es Ärzte,
die über die Verwendung von Propofol Kenntnis haben.
Die wissen, welchen Einsatz das Medikament findet.
Spätestens da hätte man ihn schon suspendieren müssen, den Arzt.
Carina S. entlässt sich selbst aus der Klinik und erstattet Anzeige
wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den Assistenzarzt.
Von der zweifachen schweren Vergewaltigung ahnt sie nichts.
Eine weitere Patientin macht Meldung über den Assistenzarzt.
Daraufhin wird ihm nach "Kontraste"- Recherchen vom Chefarzt untersagt,
das Betäubungsmittel Propofol zu benutzen.
Und er soll keine nicht indizierten Zugänge legen.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit,
die zeigt, dass die Klinik dem Arzt wohl nicht traute.
Dazu aber äußert sich die Klinik nicht.
April 2020.
Sieben Monate sind seit der Anzeige von Carina S. vergangen.
Jetzt durchsuchen die Beamten die Wohnung von Philipp G.
Sie finden Drogen und Medikamente, auch Propofol.
Außerdem Festplatten mit rund 80 Dateien,
die Vergewaltigungen zeigen.
Philipp G. wird festgenommen, kurz danach erhängt er sich.
Deshalb stellt die Staatsanwaltschaft Bielefeld
die Ermittlungen ein.
Januar 2021.
Nicole T. weiß seit 1,5 Jahren nichts von ihrer Vergewaltigung.
Sie erfährt von den Vorgängen aus der Presse.
Und geht zur Polizei.
Was es bedeutet, mit einer unbewussten Vergewaltigung zu leben,
hat die Trauma-Psychologin Michaela Huber erforscht.
Studien belegen, wie verheerend es sein kann,
wenn Opfer in solchen Fällen nicht informiert werden.
Das ist keine Kleinigkeit, nach dem Motto:
"Wenn du es bewusst nicht mehr weißt, sei froh, vergiss es".
Der Körper erinnert sich,
die Emotionen erinnern sich.
Das kann hingehen zu psychosenahen Zuständen.
Oder Suizidversuchen.
Laut Expertin hätten die Frauen gefragt werden müssen:
"Es gibt ein Video von Ihnen, Sie sind mutmaßlich
Opfer einer Straftat geworden - wollen Sie mehr wissen?"
Wie viele Frauen Opfer wurden und ggf. nicht informiert,
teilt uns die Staatsanwaltschaft nicht mit,
wegen des Persönlichkeitsrechts des Täters - über den Tod hinaus.
Sie stellt aber klar, "dass dem Opferschutz Genüge getan wurde".
Anwalt Daniel Farrokh findet das skandalös.
Er meint, alle Frauen müssten zwingend informiert werden.
Solange sie nicht wissen, dass sie missbraucht worden sind,
können sie keine Ansprüche stellen.
Ein weiterer Aspekt ist:
Dann können die auch nicht als Zeuginnen vernommen werden.
Denn wenn es so sein sollte,
dass viele Frauen vorher Bescheid gegeben haben,
hätte natürlich die Klinikleitung, aber auch der Chef und Oberarzt
Maßnahmen treffen müssen,
um diesen Assistenzarzt aus dem Verkehr zu ziehen.
Die Klinikleitung teilt sich im September 2020 der Presse mit.
Wir hoffen insofern auf eine schnelle und umfassende Aufklärung.
Für die Opfer ein Hohn.
In der schriftlichen Stellungnahme an "Kontraste" heißt es weiter,
es hätten sich ...
"keine Beweise für ein Fehlverhalten des Assistenzarztes ergeben,
die Anlass dazu gegeben hätten, die Behörden einzuschalten".
Nach Einschätzung der Bielefelder Staatsanwaltschaft
besteht ein Anfangsverdacht
auf Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen gegen den Chefarzt
einen Oberarzt und die Leitung der Bethel gGmbH.
Die Ermittlungen laufen.
Carina S. hofft auf Gerechtigkeit,
2,5 Jahre nach den schweren Vergewaltigungen