"Mag ich nicht!" – Wie Kinder essen lernen (1)
MANUSKRIPT
Atmo: AT 01 Woltmanns beim Essen / Atmo Karla mag keinen Spargel
Ne, jetzt gibt's keinen Keks, jetzt gibt‘s gleich Spargel zum Essen. (…) - Ich mag aber nicht Spargel essen! (Regie: Bitte Stelle entsprechend schneiden, dann unterlegen und in erstes Take fließen lassen)
Sprecher: Abendessen bei Familie Woltmann im hessischen Butzbach. Während ihr siebenjähriger Bruder Jakob gerne Neues probiert, hat die dreijährige Karla ganz eigene Vorlieben:
OT 01: Eva Woltmann: Das erste, was sie im Mund hatte, war Wassermelone und sie hatte gleich festere Dinge bekommen. Nicht so mit Brei und Löffel. Und sie ist sehr wählerisch.
Sprecher: Isst mein Kind genug? Und vor allem: genug gesundes Essen? Als erfahrene Hebamme und Mutter weiß Eva Woltmann, wie viel Druck sich Eltern rund um die vermeintlich richtige Ernährung der Kleinen machen. Doch wie macht man ihnen Brokkoli statt Pommes schmackhaft? Wie entwickelt sich der Geschmackssinn von Babys und Kleinkindern? Und was, wenn die Kleinen gar nichts essen wollen und erstmal per Sonde ernährt werden müssen?
Ansage: „Mag ich nicht!“ Wie Kinder essen lernen. Von Joachim Meißner.
Atmo: AT 02 Woltmann (Regie bitte sauber schneiden: Geschirrgeklapper dann „Du sollst nicht Zwiebeln dran machen“ – „Karla Zwiebeln schmecken auch lecker“, dann unterlegen)
Sprecher: Die Geburtshelferin Eva Woltmann kann die Sorgen und Probleme vieler Eltern rund um das Stillen und Füttern gut nachvollziehen. Für die unterschiedliche Haltung ihrer eigenen beiden Kinder zum Essen gibt sie am Telefon zwei Erklärungen:
OT 02: Eva Woltmann: Ich glaube es ist zum einen ein Charakter, den ein Kind mit sich bringt mit Geburt. Jakob ist sehr vernünftig – also, wenn ich ihm erkläre, dass das viele Vitamine hat, dann hat er's auch gegessen, obwohl es ihm jetzt nicht super geschmeckt hat. Das würde bei Karla nie ziehen – ein Argument. Also entweder es schmeckt ihr oder es schmeckt ihr nicht. Dann nimmt sie es oder sie nimmt es nicht. Fertig (lacht).
Sprecher: Karla sieht aber zum Beispiel auch, wenn ihr großer Bruder oder andere Schokoladeneis essen.
OT 03: Eva Woltmann: Wir wohnen auf einem Vier-Generationen-Hof, mit anderen zusammen. Und da gab es sehr viel früher Süßigkeiten und Geschmäcker, die Jakob die ersten Jahre nicht abbekommen hat, weil wir da noch in Hamburg gelebt haben und er sozusagen mehr Einzelkind auch war.
Sprecher: Dass für die Geschmacksbildung von Babys und Kleinkindern biologische und soziale Gründe eine wichtige Rolle spielen, bestätigt auch Herbert Renz-Polster. Der Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor zahlreicher Bestseller gilt heute als eine der bekanntesten Stimmen in Fragen der kindlichen Entwicklung. In einem Telefonat erläutert er, was den Geschmack bei Kindern prägt.
OT 04: Herbert Renz-Polster: Die biologischen Gründe sind, dass die Kinder von ihrer Geschmacksempfindung schon von Anfang an – nämlich schon im Mutterleib – eigentlich gepolt werden auf die Geschmackserfahrungen, die hier vor Ort vorherrschen. Das gibt's bei vielen Säugetieren. Bei Menschen ist es so, dass im Fruchtwasser eigentlich sich alle Geschmacksnuancen, die die Mutter aufnimmt, auch wieder abbilden und so der Fötus eigentlich schwimmt er schon in einer Geschmackswelt. Und die prägt den auch.
Sprecher: Nach der Geburt geht die Prägung weiter, wenn die Mutter ihr Baby stillt. Denn die Muttermilch enthält auch Geschmacksstoffe von allem, was die Mutter isst.
OT 05: Herbert Renz-Polster: Deshalb ist das Stillen eigentlich – wie eine amerikanische Neurobiologin mal gesagt hat – ein Probelauf durch die Regale des Supermarkts. Das heißt, das Baby kriegt auch mit, was die Mutter so mag und was sie isst. Und das alles prägt und setzt sozusagen die Randpfeiler oder Gleise für die eigene Geschmacksentwicklung.
Sprecher: Außerdem beeinflussen soziale und kulturelle Erfahrungen den Geschmack der Kinder.
Zitatorin: Hallo, ich komme aus dem Iran, mein Mann ist Libanese. Unser Sohn ist 11 Monate alt und isst alles mit. Er liebt Basmati-Reis und persische Soßengerichte. Sein Lieblingssnack sind Datteln.
Sprecher: … erzählt eine Mutter in einer Facebook-Mama-Gruppe auf Nachfrage von SWR2 Wissen. Eine andere berichtet:
Zitatorin: Ich war Au Pair in Frankreich und habe das Baby mit Artischocken und Fischgläschen gefüttert. Jetzt bin ich selbst Mutter und ganz erstaunt, dass in Deutschland kein einziges Artischockengläschen zu finden ist.
Sprecher: Dafür vertreiben hier schwäbische Hersteller Baby-Bodys mit der Aufschrift: „Stark und groß durch Spätzle mit Soß“.
Dabei machen die Jüngsten nicht einfach nach, was ihnen die Eltern oder Familienangehörige vorkauen. So einfach ist das vom Kind aus betrachtet nicht. Experimente zeigen nämlich, so der Wissenschaftler Herbert Renz-Polster, dass Kinder zunächst einmal nach den anderen gucken, und zwar nach denen, die sie kennen. Dabei zeigt die Auswertung von Blickkontakten…
OT 06: Herbert Renz-Polster: Kinder gucken die Menschen an, die bei dem, was sie machen, eine positive Emotionalität ausstrahlen – also denen es gut geht. Die einem auch nichts vormachen. Also: ‚Ja das ist gut. Das rutscht aber und ist ganz gesund oder so‘. Sondern einfach: ‚Ja mir geht's gut. Das schmeckt mir‘.
Sprecher: Doch mit bloßem Abgucken ist es bei Kindern nicht getan. Kinder lernen zwar, indem sie beobachten. Aber sie bleiben misstrauisch und müssen erst ein Muster, also immer wiederkehrende Reaktionen ausbilden, wie der vierfache Vater Herbert Renz- Polster aus eigener Erfahrung weiß.
OT 07: Herbert Renz-Polster: Das Kind macht in seinem Zähler einfach mal ein Klick. Einfach: ‚einmal beobachtet‘ – wunderbar. Und diese Klicks müssen weiterlaufen. Und je nach Kind, braucht ein Kind acht bis fünfzehn solcher Klicks: ‚Boah, da hat jemand zugegriffen und ist dabei nicht eingegangen oder so (lacht). Und ihm hat's geschmeckt oder hat ne positive Reaktion gezeigt. Dann werden die Kinder mutig – und dann fangen sie an selber zu probieren.
Sprecher: Und da geht für viele Eltern das eigentliche Drama los. Denn was auf dem Teller liegt, wird nicht einfach gegessen. Jede Kartoffel, jeder Karottenstick, jedes Blumenkohlröschen wird erst einmal eingehend untersucht: Angucken, anfassen: Welche Konsistenz hat es? Kommt da vielleicht was raus, wenn ich draufdrücke oder ist es fest? Und so ist Essen auch mit Exploration verbunden.
OT 08: Herbert Renz-Polster: Wahrscheinlich ein kluger Zug, weil wenn jemand grün anläuft, wenn er was isst und auf einmal die Stirn in Falten wirft, zeigt das ja eigentlich: Sollte ich ja vielleicht eher nicht machen. Und da sagen sich die Kinder dann tatsächlich, wenn die Oma hier schon Stress kriegt mit diesem Brokkoli, dann ist das für mich vielleicht nicht so gut.
[OC
Sprecher: Brokkoli - Das Kohlgewächs ist neben Spinat der Klassiker, wenn es um die Weigerung von Kindern geht, sich nach Auffassung der Eltern gesund zu ernähren. Ein Trauma-Gemüse selbst für den einst mächtigsten Mann der Welt, wenn der damalige amerikanische Präsident George W. Bush 1990 auf einer Pressekonferenz halb ironisch, halb ernst trotzig eingesteht:
OT 09: George W. Bush (20.03.1990): "I do not like broccoli and I haven't liked it since I was a little kid and my mother made me eat it. And I'm president of the United States and I'm not going to eat any more broccoli. Overvoice: "Ich mag keinen Brokkoli und ich habe ihn nicht gemocht, seit ich ein kleines Kind war und meine Mutter mich dazu gebracht hat, ihn zu essen. Und ich bin Präsident der Vereinigten Staaten und werde nicht mehr Brokkoli essen.“ Ende OC]
Sprecher: Dabei hat die vehemente Ablehnung von bestimmten Speisen, besonders wenn sie grün und bitter sind, durchaus ihren Sinn.
OT 10: Herbert Renz-Polster: Wenn wir uns mal zurück beamen in die Steinzeit. Wir Menschen als Jäger und Sammler. Da draußen da wuchs Gesundes, Nahrhaftes – aber eben auch nicht Nahrhaftes, Unverwertbares und Giftiges. Ja und das oft eben auch eng an eng. Da waren dann Heidelbeeren und vielleicht daneben irgendwo waren auch Tollkirschen. Das heißt für das Kind stellt sich jetzt eine ganz, ganz entscheidende Frage: Wie überlebe ich? Also wie kann ich mich ernähren, ohne dabei auf der Strecke zu bleiben?
Sprecher: Der kritische Blick auf das Gemüse ist aus Sicht der Evolutionsbiologie also ein Schutz vor Vergiftung: Grün und Bitter – zeigen an: Lass die Finger davon! Und das passt optimal zur körperlichen Entwicklung der Babys.
OT 11: Herbert Renz-Polster: Ich mein, wir haben es mit kleinen Menschen zu tun, die noch nicht gut entgiften können. Die Leber ist noch nicht gut entwickelt. Gleichzeitig haben sie ganz delikate Körperorgane, wie ein schnellwachsendes Gehirn, das leicht
von Giften geschädigt werden kann. Und das ist für Eltern manchmal dann: „Ach, das ist doch nicht bitter! So ein Brokkoli!“. Ja für uns vielleicht nicht, aber Kinder entwickeln im zweiten Lebensjahr deutlich mehr Rezeptoren – also Antennen, Empfängermoleküle oder Empfängerstrukturen auf der Zunge – deutlich mehr, die ihnen eben Bitteres dann signalisieren. Sie werden sozusagen empfindlicher gegenüber Bitterem.
Sprecher: [OC Erst wenn also die kindlichen Organe weniger anfällig gegenüber Giftstoffen sind und die richtige Auswahl des Essens durch soziales Lernen quasi „abgesichert“ ist, sind kleine Kinder wieder offen, neue Geschmäcker auszuprobieren. Ende OC] Eine einfache, aber für Eltern wichtige und vielleicht auch entlastende Erkenntnis: Dass Kinder so wählerisch sind, geschieht nicht aus Trotz oder Bosheit, sondern ist Teil einer Phase, in der sie bestimmte Anteile der Umwelt einfach kritisch beäugen.
Atmo: AT 02 Familie Woltmann Essen (z.B. ab 0.57 Geschirrgeklapper, „Ich geb dir was ab, so“)
Sprecher: Das kennt auch Familie Woltmann in Butzbach bei Gießen. Auch der siebenjährige Jakob, pflegt so seine Eigenheiten.
OT 12: Eva Woltmann: Sein Lieblingsessen ist Spargel und Fisch. Und ich muss ihn bei den Geburtstagsfeiern eigentlich überreden, dass wir so etwas wie Pommes und Würstchen machen, das alle Kinder essen. (Lacht)
Sprecher: Jakobs Weg zu einem Feinschmecker für Fisch und Spargel war keineswegs vorgezeichnet. Im Gegenteil, wie Eva Woltmann erzählt. Jakob kam als Frühchen zur Welt und wog nur 1320 Gramm. Er wurde in seinen ersten Wochen beamtet und mit Sonde ernährt. Die wurde durch die Nase in den Magen geschoben - eine bis heute für sie furchtbare Erfahrung.
OT 13: Eva Woltmann: Dieses Sondelegen fand ich den schlimmsten Eingriff, den sie an Jakob vorgenommen haben. Ich hatte meistens Tränen in den Augen, wenn er sich die wieder gezogen hatte, weil die greifen ja um sich herum und wenn er dann das gegriffen hat, dann hat er sich‘s meistens selbst aus der Nase wieder rausgezogen und sogar das Pflaster von der Nase abgezogen und dann wusste ich: ‚Oh nein, jetzt muss wieder eine Sonde geschoben werden irgendwann. Und er hat sich dabei ganz doll überstreckt, den Kopf nach hinten gemacht, natürlich geröchelt und das fand ich ganz schlimm.
Sprecher: Fünf Wochen lang musste Jakob die Sonde ertragen. Und das obwohl Eva Woltmann durchsetzen konnte, ihren Sohn in dieser Phase selbst zu stillen. Doch das Misstrauen der Ärzte war zu groß – würde das Kind über die Brust genügend
Milch erhalten? Als Jakob ein Gewicht von 1800 Gramm hatte, reichte es seiner Mutter. Sie nahm ihr Baby mit nach Hause. Und die Ärzte?
OT 14: Eva Woltmann: Tatsächlich haben die Ärzte es nicht mitgetragen, also die haben gesagt frühestens am eigentlich errechneten Entbindungstermin. Das wäre der 2. Juli gewesen und wir sind aber am 2. Juni schon nach Hause und ich hatte eine Kinderkrankenschwester, die gesagt hat: „Frau Woltmann, wenn er jetzt nicht drastisch abnimmt, dann packen sie den morgen ein und fahren Heim. Alles gut, machen Sie das einfach“. Und dann hab‘ ich das auch so gemacht und das war echt gut so. Der Stress war weg und er hat auch super zugenommen.
Regie: Musikakzent
Sprecher: Abbeißen, kauen, schlucken – Babys und Kleinkinder, die von Anfang an und im Extremfall über Jahre hinweg über eine Sonde ernährt werden, haben das Essen gar nicht gelernt. Sie kennen weder Hunger noch das Gefühl, satt zu sein. Essen, das kennen sie nur in Form von Flüssignahrung, die durch einen Schlauch in der Nase wie bei Jakob oder direkt über ein Loch in der Bauchdecke in den Magen gelangt.
Auch wenn die Sonde eine Notfallmaßnahme ist, um eine Unterversorgung zu verhindern, besteht die Gefahr, dass Kinder dauerhaft von ihr abhängig werden.
Ggf. Musikakzent
OT 15: Markus Wilken: Nicht alle Kinder mit Sonde sind traumatisiert. Das sind auch Kinder, die einfach zu wenig essen. Das sind aber auch Kinder mit einem selektiven Essverhalten, die essen halt nur bestimmte Sachen z.B. die essen nur Pommes, Schokopudding und trinken nur Kirschsaft. Und die ernähren sich von diesen drei Dingen. Oder es sind Kinder, die trinken nur Milch. Die essen nichts anderes.