14. Stecknadeln haben auch ihr Gutes
Vierzehntes Kapitel – Stecknadeln haben auch ihr Gutes
Gustav und der Professor die Bank betraten, stand der Mann im steifen Hut bereits an einem Schalter, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Ein- und Auszahlungen« hing, und wartete ungeduldig, daß er an die Reihe käme. Der Bankbeamte telefonierte. Der Professor stellte sich neben den Dieb und paßte wie ein Schießhund auf. Gustav blieb hinter dem Mann stehen und hielt die Hand, zum Hupen fertig, in der Hosentasche. Dann kam der Kassierer an den Schalter und fragte den Professor, was er wolle. »Bitte sehr«, sagte der, »der Herr war vor mir da.« »Sie wünschen?« fragte der Kassierer nun Herrn Grundeis. »Wollen Sie mir, bitteschön, einen Hundertmarkschein in zwei Fünfziger umtauschen und für vierzig Mark Silber geben?« fragte dieser, griff sich in die Tasche und legte einen Hundertmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine auf den Tisch. Der Kassierer nahm die drei Scheine und ging damit zum Geldschrank. »Einen Moment!« rief da der Professor laut, »das Geld ist gestohlen!« »Waaas?« fragte der Bankbeamte erschrocken, drehte sich um; seine Kollegen, die in den anderen Abteilungen saßen und köpf rechneten, hörten auf, zu arbeiten und fuhren hoch, als hätte sie eine Schlange gebissen. "Das Geld gehört gar nicht dem Herrn. Er hat es einem Freund von mir gestohlen und will es nur umtauschen, damit man ihm nichts nachweisen kann", erklärte der Professor. "Sowas von Frechheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen", sagte Herr Grundeis, fuhr, zum Kassierer gewandt, fort: "Entschuldigen Sie!" und gab dem Professor eine schallende Ohrfeige. "Dadurch wird die Sache auch nicht anders", meinte der Professor und landete bei Grundeis einen Magenstoß, daß der Mann sich am Tisch festhalten mußte. Und jetzt hupte Gustav dreimal entsetzlich laut. Die Bankbeamten sprangen auf und liefen neugierig nach dem Kassenschalter. Der Herr Depositenkassenvorsteher stürzte zornig aus seinem Zimmer. Und - durch die Tür kamen zehn Jungen gerannt, Emil allen voran, und umringten den Mann mit dem steifen Hut. "Was, zum Donnerkiel, ist denn mit den Bengels los?" schrie der Vorsteher. "Die Lausejungen behaupten, ich hätte einem von ihnen das Geld gestohlen, das ich eben Ihrem Kassierer zum Wechseln einzahlte", erzählte Herr Grundeis und zitterte vor Ärger. "So ist es auch!" rief Emil und sprang an den Schalter. "Einen Hundertmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine hat er mir gestohlen. Gestern nachmittag. Im Zug, der von Neustadt nach Berlin fuhr! Während ich schlief." "Ja, kannst du das denn auch beweisen?" fragte der Kassierer streng. "Ich bin seit einer Woche in Berlin und war gestern von früh bis abends in der Stadt", sagte der Dieb undlächelte höflich. "So ein verdammter Lügner!" schrie Emil und weinte fast vor Wut. "Kannst du denn nachweisen, daß dieser Herr hier der Mann ist, mit dem du im Zug saßt?" fragte der Vorsteher. "Das kann er natürlich nicht", meinte der Dieb nachlässig. "Denn wenn du allein mit ihm im Zug gesessen haben willst, hast du doch keinen einzigen Zeugen", bemerkte einer der Angestellten. Und Emils Kameraden machten betroffene Gesichter."Doch!" rief Emil, "doch! Ich hab doch einen Zeugen! Er heißt Frau Jakob aus Groß-Grünau. Sie saß erst mit im Coupé. Und stieg später aus. Und sie trug mir auf, Herrn Kurzhals in Neustadt herzlich von ihr zu grüßen!" "Es scheint, Sie werden ein Alibi erbringen müssen", sagte der Depositenkassenvorsteher zu dem Dieb. "Können Sie das?" "Selbstverständlich", erklärte der. "Ich wohne drüben im Hotel Kreid..." "Aber erst seit gestern abend", rief Gustav. "Ich hab mich dort als Liftboy eingeschlichen und weiß Bescheid, Mensch!" Die Bankbeamten lächelten ein wenig und gewannen an den Jungen Interesse. "Wir werden das Geld am besten vorläufig hierbehalten, Herr..." sagte der Vorsteher und riß sich von einem Block einen Zettel ab, um Namen und Adresse zu notieren. "Grundeis heißt er!" rief Emil. Der Mann im steifen Hut lachte laut und sagte: "Da sehen Sie, daß es sich um eine Verwechslung handeln muß. Ich heiße Müller." "Oh, wie gemein er lügt! Mir hat er im Zug erzählt, daß er Grundeis heißt", schrie Emil wütend. "Haben Sie Ausweispapiere?" fragte der Kassierer. "Leider nicht bei mir", sagte der Dieb. "Aber wenn Sie einen Augenblick warten wollen, so hole ich sie ausdem Hotel herüber." "Der Kerl lügt fortwährend! Und es ist mein Geld. Und ich muß es wiederhaben", rief Emil. "Ja, sogar wenn's wahr wäre, mein Junge", erklärte der Kassierer, "so einfach geht das nicht! Wie kannst du denn beweisen, daß es dein Geld ist? Steht vielleicht dein Name drauf? Oder hast du dir etwa die Nummern gemerkt?" "Natürlich nicht", sagte Emil. "Denkt man denn, daß man beklaut wird? Aber es ist trotzdem mein Geld, hören Sie? Und meine Mutter hat es mir für die Großmutter, die hier in der Schumannstraße 15 wohnt, mitgegeben." "War an einem der Scheine eine Ecke abgerissen oder war sonst etwas nicht in Ordnung?" "Nein, ich weiß nicht." "Also, meine Herren, ich erkläre Ihnen, auf Ehrenwort: das Geld gehört wirklich mir. Ich werde doch nicht kleine Kinder ausrauben!" behauptete der Dieb. "Halt!" schrie Emil plötzlich und sprang in die Luft, so leicht war ihm mit einem Male geworden. "Halt! Ich habe mir im Zug das Geld mit einer Stecknadel ins Jackett gesteckt. Und deshalb müssen Nadelstiche in den drei Scheinen zu sehen sein! "Der Kassierer hielt das Geld gegen das Licht. Den anderen stockte der Atem. Der Dieb trat einen Schritt zurück. Der Bankvorsteher trommelte nervös auf dem Tisch herum. "Der Junge hat recht", schrie der Kassierer, blaß vor Erregung. "In den Scheinen sind tatsächlich Nadelstiche!" "Und hier ist auch die Nadeldazu", sagte Emil und legte die Stecknadel stolz auf den Tisch. "Gestochen hab ich mich auch." Da drehte sich der Dieb blitzschnell um, stieß die Jungen links und rechts zur Seite, daß sie hinfielen, rannte durch den Raum, riß die Tür auf und war weg. "Ihm nach!" schrie der Bankvorsteher. Alles lief nach der Tür. Als man auf die Straße kam, war der Dieb schon von mindestens zwanzig Jungen umklammert. Sie hielten ihn an den Beinen. Sie hingen an seinen Armen. Sie zerrten an seinem Jackett. Er ruderte wie verrückt. Aber die Jungen ließen nicht locker. Und dann kam auch schon ein Schupo im Dauerlauf daher, den Pony Hütchen mit ihrem kleinen Radegeholt hatte. Und der Bankvorsteher forderte ihn ernst auf, den Mann, der sowohl Grundeis wie auch Müller hieße, festzunehmen. Denn er sei, wahrscheinlich, ein Eisenbahndieb. Der Kassierer nahm sich Urlaub, holte das Geld und die Stecknadel und ging mit. Na, es war ein toller Aufzug! Der Schutzmann, der Bankbeamte, der Dieb in der Mitte, und hinterher neunzig bis hundert Kinder! So zogen sie zur Wache. Pony Hütchen fuhr auf ihrem kleinen vernickelten Fahrrade nebenher, nickte dem glücklichen Vetter Emil zu und rief: "Emil, mein Junge! Ich fahre rasch nach Hause und erzähle dort das ganze Theater. "Der Junge nickte zurück und sagte: "Zum Mittagessen bin ich zu Hause! Grüße schön!" Pony Hütchen rief noch: "Wißt ihr, wie ihr ausseht? Wie ein großer Schulausflug!" Dann bog sie, heftig klingelnd, um die Ecke.