15. Kapitel - 02
Eines Tages, die Sonne leuchtete goldig auf den farbigen Blättern, die allenthalben den Boden bedeckten, und schien noch einmal dem Auge den Sommer vortäuschen zu wollen, traten Safie, Felix und Agathe einen längeren Spaziergang an, während der Greis seinem Wunsche entsprechend zu Hause gelassen wurde. Als er allein war, nahm er seine Zither und spielte einige ernste, ergreifende Weisen, ernster und schöner, als ich sie je von ihm gehört. Zuerst lag ein Schimmer heller Freude auf seinem Angesicht, dann aber nahm es einen immer traurigeren, schmerzlicheren Ausdruck an. Er legte sein Instrument zur Seite, stützte das Haupt auf die Hände und schien in tiefes Nachsinnen versunken zu sein.
Mein Herz klopfte stürmisch; der Augenblick war gekommen, wo es sich entscheiden mußte, ob meine Hoffnungen begründet waren oder meine Furcht. Die Dienstboten waren alle zu einem Fest gegangen. Still war es im Hause und ringsum. Die Gelegenheit war günstig. Aber als ich zur Ausführung meiner Absicht schritt, versagten mir die Glieder den Dienst und ich sank zu Boden. Dann richtete ich mich wieder auf, und all meine Kraft und meinen Mut zusammennehmend entfernte ich die Bretter, die ich zu meinem Schutze an den Eingang des Schuppens gelehnt hatte. Die frische Luft tat mir wohl und mit froher Zuversicht näherte ich mich dem Eingangstore.
Ich klopfte. »Wer ist da?« ertönte die Stimme des alten Mannes aus dem Inneren »Tretet ein!«
Ich folgte der Aufforderung. »Entschuldigt, daß ich hier eindringe,« sagte ich. »Ich bin ein Wanderer, der etwas Ruhe bedarf. Ihr würdet mich zu großem Dank verpflichten, wenn Ihr mir einige Minuten Rast an Eurem gastlichen Herde gönnen möchtet.«
»Kommen Sie nur,« sagte de Lacey, »ich will Ihnen gern zu Diensten sein. Aber leider sind meine Kinder nicht hier, und da ich blind bin, wird es mir schwer fallen, einen Imbiß für Euch herbeizuschaffen.«
»Macht Euch deshalb keine Sorge, lieber Gastfreund, Hunger habe ich nicht; nur Ruhe und Wärme suche ich bei Euch.«
Ich ließ mich nieder und es entstand eine Pause. Ich wußte, daß jeder Augenblick kostbar war, wußte aber nicht, wie ich die Unterhaltung beginnen sollte. Da sagte der Alte:
»An Eurer Sprache, Fremdling, meine ich zu erkennen, daß Ihr ein Landsmann von mir seid. Seid Ihr Franzose?«
»Nein, das nicht, aber ich wurde bei einer französischen Familie erzogen und lernte nur ihre Sprache kennen. Ich habe nun die Absicht, den Schutz einiger Freunde zu suchen, die ich herzlich lieb habe und auf deren Gunst ich meine ganze Hoffnung setze.«
»Sind es Deutsche?«
»Nein, es sind Franzosen. Aber wollen wir von etwas anderem sprechen. Ich bin ein armes, verlassenes Geschöpf. Wenn ich mich auf Erden umsehe, habe ich keinen Verwandten, keinen Freund. Die liebenswürdigen Leute, zu denen ich will, haben mich noch nie gesehen und wissen nichts von mir. Ich bin voll Angst, denn wenn ich bei ihnen meinen Zweck verfehle, dann bin ich ausgestoßen aus der ganzen Welt.«
»Nur nicht verzweifeln! Freundlos sein ist ja ein Unglück. Aber die Herzen der Menschen sind, wenn nicht der Egoismus von ihm Besitz ergriffen hat, gut und mitleidig. Laßt also der Hoffnung Raum, daß diese Freunde, wenn sie wirklich gut und edel sind, Euch nicht verstoßen werden.«
»Sie sind gut, sie sind die besten Geschöpfe, die ich kenne; aber unglücklicherweise haben sie ein Vorurteil gegen mich. Ich habe bis jetzt ein sehr harmloses Leben geführt und bin auch gewissermaßen wohltätig gewesen. Aber ein Schleier liegt vor ihren Augen; denn anstatt in mir einen treuen, aufrichtigen Freund zu sehen, halten sie mich für ein verabscheuungswürdiges Ungetüm.«
»Das ist allerdings traurig. Aber ist es Euch, wenn Ihr wirklich so unschuldig seid, nicht möglich, sie von der Wahrheit zu überzeugen?«
»Das eben möchte ich, und wenn ich daran denke, ergreift mich eine entsetzliche Angst. Ich liebe diese Menschen zärtlich, ich bin unerkannt schon Monate lang mit ihnen in freundschaftlichem Verkehr gestanden; aber sie meinen, ich wolle ihnen schaden, und diese Meinung will ich ihnen nehmen.«
»Wo wohnen denn diese Leute?«
»Nicht weit von hier.«
Der Alte schwieg einen Moment, dann sagte er: »Wenn Ihr mir rückhaltlos Eure ganze Geschichte erzählen wollt, kann ich Euch vielleicht in diesem Bestreben helfen. Ich bin blind und erkenne Euer Gesicht nicht, aber es liegt in Eurer Rede etwas, das mir sagt, Ihr seid ein guter Mensch. Ich bin arm und lebe hier in der Verbannung; aber es macht mir Freude, einem Anderen in jeder Weise dienstbar zu sein.«
»Edler Mann, wie danke ich Euch! Ich nehme Euer hochherziges Anerbieten an. Ihr erhebt mich mit Eurer Güte aus dem Staube und ich hoffe, daß es Euch gelingen wird, mich so wirksam zu schützen, daß ich nicht mehr aus der Gesellschaft Eurer Mitmenschen vertrieben werde.«
»Davor bewahre Euch der Himmel! Und wenn Ihr ein Verbrecher wäret, denn das ist das einzige, was Euch verzweifeln lassen kann. Auch ich bin unglücklich; ich bin, vollkommen unschuldig, mit meiner ganzen Familie aus der Heimat verbannt worden. Ihr werdet dann begreifen, daß ich Eurem Unglück nicht gefühllos gegenüberstehe.«
»Wie kann ich Euch danken, mein einziger, liebster Wohltäter? Von Euren Lippen habe ich das erstemal Worte der Güte gehört, die mir galten. Das werde ich Euch nimmer vergessen. Und die Freunde, denen ich ja nun bald gegenübertreten werde, hoffe ich, werden mir auch barmherzig sein.«
»Darf ich den Namen und den Wohnort dieser Freunde wissen?«
»Ich schwieg. Das war der Augenblick, der mir das Glück auf immer bringen oder rauben mußte. Ich rang nach Worten, um ihm alles einzugestehen, aber ich fand nicht die Kraft. Ich sank auf einen Stuhl und stöhnte laut. Draußen hörte ich die Schritte der jungen Leute. Zeit war keine mehr zu verlieren. Ich ergriff die Hand des Greises und schrie: »Nun ist es Zeit, daß ich es sage. Helft mir und schützt mich! Ihr und die Euren sind die Freunde, die ich suche. Verlaßt mich nicht in meiner Not!«
»Großer Gott!« rief der alte Mann. »Wer seid Ihr?«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zimmers und Safie, Felix und Agathe kamen herein. Verstört und entsetzt starrten sie mich an. Agathe sank um und Safie rannte aus dem Zimmer, unfähig, der Ohnmächtigen Hülfe zu leisten. Felix stürzte auf mich zu und riß mich mit übermenschlicher Kraft von seinem Vater weg, an dessen Kniee ich mich geklammert hatte. Im Übermaß der Wut warf er mich zu Boden und schlug wie ein Rasender mit einem Stock auf mich ein. Ich hätte ihm ja leicht die Glieder auseinanderreißen können, wie es der Löwe mit der Gazelle tut. Aber das unendliche Leid nahm mir die Kraft. Ich sah, wie er den Arm zu einem neuen Schlag erhob, da sprang ich auf und rannte aus dem Hause. In der allgemeinen Verwirrung vergaß man mich zu verfolgen.