Siebentes Kapitel - Die Stapletons von Merripit House - 01
Der schöne frische Morgen des nächsten Tages tat einiges, um den trübseligen ersten Eindruck von Baskerville Hall etwas zu verwischen. Als Sir Henry und ich am Frühstückstisch saßen, flutete das Sonnenlicht durch die hohen Bogenfenster herein und warf bunte Farbflecke von den Wappen, womit die Scheiben bemalt waren, auf Diele und Wände. Das dunkle Holzgetäfel glühte in den goldenen Strahlen wie Bronze, und wir konnten uns kaum vorstellen, daß wir in demselben Zimmer saßen, welches am Abend vorher unsere Seelen so trübe gestimmt hatte.
»Mich dünkt, wir selber haben die Schuld daran gehabt und nicht das Haus.« rief der Baronet. »Wir waren ermüdet von der Reise und kalt von der langen Wagenfahrt, deshalb kam uns das Haus so grau vor. Jetzt sind wir frisch und munter, und auch das Haus sieht wieder ganz heiter aus.«
»Und doch ist es nicht nur auf unsere Einbildungskraft zurückzuführen,« antwortete ich. »Haben Sie nicht zum Beispiel jemanden – ich glaube, es war eine Frau – während der Nacht schluchzen gehört?«
»Das ist sonderbar, was Sie da sagen. Es kam mir nämlich, als ich halb eingeschlafen war, vor, als hörte ich so etwas. Ich wartete ziemlich lange, aber es ließ sich nichts mehr hören, und ich nahm daher an, es wäre nur ein Traum gewesen.«
»Ich hörte es ganz genau und bin sicher, daß es in der Tat das Schluchzen einer Frau war.«
»Wir müssen uns sofort danach erkundigen.« Er klingelte und fragte Barrymore, ob er uns über unsere Wahrnehmung Aufschluß geben könnte. Es kam mir so vor, als ob die bleichen Züge des Kammerdieners noch um eine Schattierung blasser würden, als er die Frage seines Herrn vernahm.
»Es sind nur zwei weibliche Personen im Haus, Sir Henry,« antwortete er. »Die eine ist die Hausmagd, die im vorderen Flügel schläft; die andere ist meine Frau, und ich weiß bestimmt, daß die Töne unmöglich von ihr herrühren können.«
Seine Worte waren indessen eine Lüge. Denn zufällig begegnete ich nach dem Frühstück der Frau Barrymore in dem langen Korridor, wo ihr das Sonnenlicht voll ins Gesicht fiel. Sie war eine großgewachsene Frau mit einem Ausdruck von Gleichmütigkeit auf ihren grobgeschnittenen Zügen und einem festgeschlossenen, ernsten Mund. Aber ihre Augen waren verräterisch, sie waren rot und sahen mich aus geschwollenen Lidern an. Also war sie es gewesen, die in der Nacht geweint hatte; und wenn dies der Fall war, so mußte ihr Mann es wissen. Trotzdem hatte er es gewagt, eine so leicht zu entdeckende Lüge vorzubringen. Warum? Und warum hatte sie so bitterlich geweint? Schon umschwebte diesen hübschen, blassen, schwarzbärtigen Mann eine geheimnisvolle Atmosphäre. Er hatte zuerst Sir Charles' Leichnam entdeckt; nur auf seiner Aussage beruhte unsere Kenntnis von den Umständen, die mit dem Tod des alten Herrn in Verbindung standen. War es vielleicht doch Barrymore, den wir in Regent Street in der Droschke gesehen hatten? Der Bart konnte wohl derselbe sein. Nach der Beschreibung des Droschkenkutschers war jener Mann bedeutend kleiner, aber bei solchen Angaben ist leicht ein Irrtum möglich. Wie konnte ich in dieser Beziehung völlige Klarheit erlangen? Offenbar war es vor allem anderen notwendig, den Postmeister von Grimpen zu besuchen und mich zu vergewissern, ob das Telegramm wirklich an Barrymore zu eigenen Händen abgeliefert worden war. Mochte die Antwort ausfallen, wie sie wollte, jedenfalls hatte ich bereits etwas an Sherlock Holmes zu berichten.
Sir Henry hatte nach dem Frühstück zahlreiche Papiere durchzusehen, so daß die Zeit für meinen Ausgang günstig war. Es war ein angenehmer Spaziergang von vier Meilen; ich wanderte am Rand des Moores entlang und kam schließlich zu einem altersgrauen Dörfchen, worin sich zwei größere Gebäude – das Wirtshaus und Dr. Mortimers Haus – hoch über die niedrigen Hütten erhoben. Der Postmeister, der zugleich den Kramladen des Örtchens führte, erinnerte sich des Telegramms noch vollkommen deutlich und sagte:
»Gewiß, Herr; das Telegramm habe ich genau nach Vorschrift an Herrn Barrymore bestellen lassen.«
»Wer bestellte es?«
»Mein Junge hier. James, du bestelltest doch letzte Woche das Telegramm an Herrn Barrymore in der Hall, nicht wahr?«
»Ja, Vater, ich bestellte es.«
»Zu eigenen Händen?« fragte ich.
»Je nun, er war gerade in dem Augenblick oben auf dem Boden; ich konnte es deshalb nicht eigenhändig an ihn bestellen, aber ich gab es an Frau Barrymore selber ab, und sie versprach, ihm das Telegramm sofort zu bringen.«
»Bekamen Sie Herrn Barrymore zu sehen?«
»Nein, Herr; wie ich Ihnen sagte, war er auf dem Boden.«
»Na, seine eigene Frau mußte doch wohl wissen, wo er war,« sagte der Postmeister mürrisch. »Hat er denn das Telegramm nicht bekommen? Wenn irgend ein Versehen vorgefallen ist, so ist es Herrn Barrymores Sache, sich selber zu beschweren.«
Es schien mir aussichtslos zu sein, noch weitere Fragen zu stellen. So viel war aber jedenfalls klar, daß wir trotz Sherlock Holmes' List keinen Beweis dafür hatten, daß Barrymore nicht doch in London gewesen war. Angenommen, es war so – angenommen, derselbe Mann, der zuletzt Sir Charles lebend gesehen hatte, sei der erste gewesen, der hinter dem neuen Herrn herspioniert hatte, als dieser nach England zurückgekehrt war – was folgte daraus? Handelte er im Auftrag anderer, oder trug er sich mit eigenen bösen Absichten?
Was für ein Interesse konnte er daran haben, die Baskervillesche Familie zu verfolgen? Mir fiel die seltsame Warnung ein, die aus dem Leitartikel der Times ausgeschnitten war. War das sein Werk, oder ging das möglicherweise von einem anderen aus, der seine Pläne durchkreuzen wollte? Der einzige Beweggrund, der sich denken ließ, war der von Sir Henry angedeutete: daß die Barrymores für Lebzeiten ein angenehmes Heim haben würden, wenn es ihnen gelänge, die Familie fortzugraulen. Aber eine solche Annahme reichte bei weitem nicht aus, um die augenscheinlich tief durchdachten und fein angelegten Pläne zu erklären, womit der junge Baronet wie mit einem unsichtbaren Netz umwoben worden war. Holmes selber hatte gesagt, ein verwickelterer Fall sei ihm während seiner ganzen ereignisvollen Tätigkeit nicht vorgekommen. Und als ich die einsame graue Straße entlang zurückwanderte, da betete ich zu Gott, mein Freund möchte sich bald von seinen Geschäften freimachen und herkommen können, um die schwere Last der Verantwortlichkeit von meinen Schultern zu nehmen.