Viertes Kapitel - Sir Henry Baskerville - 03
Auf diese Aufforderung zog der gelehrte Herr seine Papiere aus der Tasche und erläuterte auf Grund derselben den ganzen Fall in gleicher Art wie am Morgen vorher. Sir Henry Baskerville hörte mit gespanntester Aufmerksamkeit zu und ließ von Zeit zu Zeit einen Ausruf der Überraschung hören.
»Nun, da scheine ich ja mit dem übrigen Besitz zugleich auch eine Geisterrache geerbt zu haben,« sagte er, als der Doktor mit seiner langen Erzählung fertig war. »Natürlich habe ich von dem Höllenhund schon in der Kinderstube fortwährend erzählen hören. Es ist das Lieblingsmärchen unserer Familie; indessen habe ich es früher niemals ernst genommen. Aber die Geschichte vom Tod meines Onkels – wissen Sie, mir wirbelt im Kopf alles durcheinander; ich kann mir noch keine klare Meinung darüber bilden. Sie scheinen sich selber auch noch nicht ganz klar darüber zu sein, ob es ein Fall für die Polizei oder für die Geistlichkeit ist.«
»Ganz recht.«
»Nun kommt noch die Geschichte mit dem Brief dazu. Ich vermute, das hängt damit zusammen.«
»Es scheint daraus hervorzugehen, daß irgend jemand besser als wir über die Vorgänge auf dem Moor Bescheid weiß,« sagte Dr. Mortimer.
»Und weiter,« bemerkte Holmes, »daß dieser Jemand Ihnen nicht feindlich gesonnen ist, da man Sie vor Gefahr warnt.«
»Vielleicht ist es aber auch möglich, daß sie mich zu ihrem eigenen Vorteil von der Gegend fernzuhalten suchen.«
»Das kann natürlich auch sein. Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Herr Doktor, daß Sie mich vor ein Problem stellen, das verschiedene interessante Lösungen verspricht. Aber nun haben wir uns zunächst über einen wichtigen Punkt klar zu werden, Sir Henry: Ist es für Sie ratsam oder nicht, daß Sie nach Baskerville Hall gehen?«
»Warum sollte ich nicht gehen?«
»Es scheint Gefahr damit verbunden zu sein.«
»Meinen Sie Gefahr von unserem Familiendämon, oder Gefahr von seiten menschlicher Wesen?«
»Das müssen wir eben herausbekommen.«
»Nun, mag dem sein, wie ihm wolle, meine Antwort steht fest. Herr Holmes, kein Teufel in der Hölle und kein Mensch auf Erden kann mich hindern, in das Haus meiner Väter zu gehen. Bei dieser Antwort werde ich bleiben.«
Seine dunklen Augenbrauen zogen sich bei diesen Worten zusammen und ein tiefes Rot flog über sein Gesicht. Augenscheinlich war das feurige Temperament der Baskervilles in dem Letzten ihres Stammes noch nicht erloschen.
»Indessen,« fuhr er fort, »habe ich noch nicht recht Zeit gehabt, über alles von Ihnen Gesagte gehörig nachzudenken. Es ist ein bißchen viel verlangt, daß ich sofort meine Entscheidung in einer Sache treffen soll, die ich noch kaum richtig begriffen habe. Ich möchte mir in einer ruhigen Stunde alles ordentlich zurechtlegen, um zu einem Entschluß zu kommen. Jetzt ist es halb zwölf, Herr Holmes, und ich gehe geraden Weges zu meinem Hotel. Wie wäre es, wenn Sie und Ihr Freund, Herr Doktor Watson, mit uns frühstückten? Dann werde ich Ihnen genau sagen können, was für einen Eindruck die ganze Geschichte auf mich macht.«
»Paßt dir das, Watson?«
»Vollkommen.«
»Nun, so können Sie uns erwarten. Soll ich Ihnen eine Droschke holen lassen?«
»Ich möchte lieber gehen, denn diese Geschichte hat mich ein bißchen warm gemacht.«
»Ich werde mich Ihnen mit Vergnügen bei diesem Spaziergang anschließen,« bemerkte sein Begleiter.
»Also treffen wir uns um zwei Uhr. Auf Wiedersehen und Guten Morgen.«
Wir hörten die Schritte unserer Besucher, die die Treppe hinabstiegen; dann wurde die Haustür geschlossen. Augenblicklich war Holmes aus dem träumerischen Denker zu einem Mann der Tat geworden.
»Deinen Hut und deine Stiefel, Watson, schnell! Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.« Er eilte in sein Schlafzimmer, warf seinen Hausrock ab und erschien ein paar Sekunden darauf in einem Gehrock. Wir eilten die Treppe hinunter und betraten die Straße. Doktor Mortimer und Baskerville waren ein paar Hundert Schritt vor uns in der Nähe der Oxford Street noch sichtbar.
»Soll ich voranlaufen und ihnen sagen, daß sie auf uns warten?«
»Um Gottes willen nicht, mein lieber Watson. Deine Gesellschaft genügt mir vollkommen, wenn du die meinige erdulden willst. Unsere neuen Bekannten tun sehr recht, daß sie zu Fuß gehen; denn es ist wirklich ein sehr schöner Morgen für einen Spaziergang.«
Er beschleunigte seinen Schritt, bis wir die uns von den beiden Herren trennende Entfernung ungefähr auf die Hälfte verkürzt hatten. Wir folgten ihnen die Oxford Street entlang und dann die Regent Street hinunter. Einmal blieben sie stehen und besahen sich ein Schaufenster, worauf Holmes es ebenso machte. Einen Augenblick darauf ließ er einen Ausruf der Befriedigung hören; ich folgte seinem schnellen Blick und sah, daß eine Droschke, in der Mann saß, von der Stelle auf der anderen Straßenseite, wo sie gehalten hatte, jetzt langsam weiter fuhr.
»Das ist unser Mann, Watson! Vorwärts! Wenn wir schon nicht mehr tun können, wollen wir ihn uns wenigstens genau ansehen.«
Im selben Augenblick bemerkte ich einen buschigen schwarzen Bart und ein Paar stechende Augen, die sich durch das Seitenfenster der Droschke auf uns richteten. Unmittelbar darauf fuhr die Klappe im Verdeck des Wagens in die Höhe, dem Kutscher wurde etwas zugerufen, und die Droschke raste die Regent Street hinunter. Holmes sah sich schnell nach einer anderen um, aber es war keine leere in Sicht. Dann lief er dem Wagen in wilder Verfolgung durch das Straßengetriebe nach, aber der Vorsprung war zu groß, und die Droschke war bald nicht mehr zu sehen.
»Da haben wir's!« sagte Holmes bitter, als er keuchend und ganz blaß vor Ärger wieder aus dem Wagengewoge hervorkam. »Welch unerhörtes Pech und welche Tölpelei dazu. Watson, Watson, wenn du ein gewissenhafter Mann bist, so mußt du diese Dummheit ebenfalls berichten und meinen Erfolgen gegenüberstellen.«
»Wer war der Mann?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ein Spion?«
»Hm, nach allem, was wir gehört haben, ist Baskerville seit seiner Ankunft in der Stadt ganz offenbar von irgend jemand sehr scharf überwacht worden. Wie hätte sonst der Betreffende so schnell wissen können, daß der junge Mann das Northumberland-Hotel als Quartier gewählt hat? Wenn man ihm am ersten Tag nachging, so würde man – das war meine Schlußfolgerung – ihm auch am zweiten nachgehen. Du hast vielleicht bemerkt, daß ich, während Dr. Mortimer seine Geschichte vorlas, zweimal ans Fenster ging?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich sah nach, ob vielleicht jemand auf der Straße herumlungert, konnte aber niemand entdecken. Wir haben es mit einem gescheiten Mann zu tun, Watson. Die ganze Geschichte ist sehr ernster Art; ich bin mir zwar noch nicht ganz schlüssig geworden, ob wir es mit einem feindlichen oder mit einem freundlichen Element zu tun haben, aber ich behalte stets, das ›Wie‹ und ›Warum‹ im Auge. Als unsere Besucher fortgingen, folgte ich ihnen sofort in der Hoffnung, ihren unsichtbaren Verfolger ausfindig machen zu können. Das muß ein Schlaukopf sein, denn er hat sich nicht auf seine Beine verlassen, sondern sich eine Droschke genommen, so daß er bald hinter ihnen her- oder an ihnen vorbeifahren konnte, ohne bemerkt zu werden. Das hatte außerdem noch den Vorteil, daß er imstande war ihnen sofort zu folgen, wenn sie etwa selber eine Droschke nehmen sollten. Indessen hat es auch einen offenbaren Nachteil.«
»Es macht den Droschkenkutscher zum Mitwisser.«
»Ganz recht.«
»Wie schade, daß wir uns nicht die Nummer gemerkt haben.«
»Mein lieber Watson, so tölpelhaft ich mich auch benommen habe, so bildest du dir doch wohl nicht allen Ernstes ein, daß ich vergessen hätte, nach der Nummer zu sehen? Unser Mann hat Nummer 2704. Aber das kann uns für den Augenblick nichts nützen.«
»Ich kann nicht einsehen, was du mehr hättest tun können.«
»Ich hätte, als ich die Droschke bemerkte, augenblicklich umkehren und in der entgegengesetzten Richtung weiter gehen sollen. Ich hätte in aller Gemütlichkeit eine Droschke nehmen und dann dem Mann in angemessener Entfernung folgen können, oder noch besser, ich wäre zum Northumberland-Hotel gefahren und hätte dort gewartet. Wenn unser Unbekannter dem jungen Baskerville nachgefahren wäre, so hätten wir ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen und selber sehen können, wohin er sich weiter begab. Wir haben es also einer unüberlegten Voreiligkeit, die von unserem Gegenspieler mit außerordentlicher Schnelligkeit und Entschlossenheit ausgenutzt wurde, zu verdanken, daß wir den Mann aus den Augen verloren haben. Wir sind selber schuld.«
Während dieses Gesprächs waren wir langsam die Regent Street entlang geschlendert, und Dr. Mortimer und sein Begleiter waren längst unseren Blicken entschwunden.
»Es hat keinen Zweck, daß wir ihnen noch weiter nachgehen,« sagte Holmes. »Der Spürhund ist verschwunden und wird nicht wiederkommen. Wir müssen uns überlegen, was für Trümpfe wir jetzt noch in der Hand haben, und müssen sie fest und entschlossen ausspielen. Könntest du vor Gericht bezeugen, wie der Mann in der Droschke aussah?«
»Mit Bestimmtheit könnte ich nur den Bart beschreiben.«
»Ich auch – und daraus folgere ich, daß der Bart aller Wahrscheinlichkeit nach falsch war. Ein kluger Mann, der auf ein so heikles Unternehmen aus ist, braucht einen Bart nur, um sein Gesicht zu verbergen. Komm mit hier herein, Watson.«
Er betrat eins von den Bureaus der ›Expreßbotengesellschaft‹ und wurde von dem Geschäftsführer mit großer Herzlichkeit begrüßt.
»Ach, Wilson, Sie haben den kleinen Fall nicht vergessen, wobei ich in der angenehmen Lage war, Ihnen beistehen zu können.«
»Ganz gewiß werde ich's nicht vergessen. Sie retteten meinen guten Namen und vielleicht mein Leben.«
»Sie übertreiben, mein Bester. … Es schwebt mir so vor, Wilson, Sie hatten unter Ihren Burschen einen gewissen Cartwright, der sich während unserer Bemühungen als recht gewandt erwies?«
»Ja, Herr Holmes, der ist noch bei uns.«
»Könnten Sie ihn mal hereinkommen lassen? Danke. Dann hätte ich gerne Kleingeld für diesen Fünfpfundschein.«
Ein vierzehnjähriger Knabe mit aufgewecktem, scharfgeschnittenem Gesicht war auf das Klingelzeichen des Geschäftsführers erschienen und stand jetzt in einer Haltung voller Ehrfurcht vor dem berühmten Detektiv.
»Geben Sie mir bitte mal das Hoteladreßbuch,« sagte Holmes. »Danke … Hier, Cartwright, sind die Namen von dreiundzwanzig Hotels, die sämtlich in unmittelbarer Nachbarschaft von Charing-Cross liegen. Hier, siehst du?«
»Jawohl.«
»Du wirst sie sämtlich, eins nach dem anderen, aufsuchen.«
»Jawohl.«
»Überall gibst du zuerst dem Portier an der Eingangstür einen Schilling. Hier sind dreiundzwanzig Schillinge.«
»Jawohl.«
»Du wirst ihm sagen, du wünschtest die fortgeworfenen Papiere von gestern zu sehen. Du sagst, du suchtest ein wichtiges Telegramm, das verkehrt bestellt worden wäre. Verstanden?«
»Jawohl.«
»In Wirklichkeit suchst du aber nach dem Mittelteil der gestrigen Timesnummer, woraus mit einer Schere einige Stellen herausgeschnitten sind. Hier ist die betreffende Nummer der Times. Dies ist die Stelle, um die es sich handelt. Du könntest sie leicht wiedererkennen, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Der Portier von der Eingangstür wird überall den Portier von der Halle heranrufen; diesem wirst du ebenfalls einen Schilling geben. Hier sind noch dreiundzwanzig Schillinge. In zwanzig Fällen von den dreiundzwanzig wirst du hören, daß der Inhalt der Papierkörbe verbrannt oder sonstwie fortgeschafft worden sei. In den drei anderen Fällen wird man dir einen Haufen Papier zeigen, und du wirst darin nach dem Timesblatt suchen. Die Wahrscheinlichkeit, daß du es findest, ist ungeheuer gering. Hier sind zehn Schillinge extra für unvorhergesehene Ausgaben. Schick mir vor heute abend einen telegraphischen Bericht in die Bakerstraße … Und nun, Watson, haben wir uns bloß noch telegraphisch nach dem Droschkenkutscher Nr. 2704 zu erkundigen, und dann wollen wir in irgendeinen von den Kunstsalons in der Bond Street gehen, um uns die Zeit zu vertreiben, bis wir im Hotel sein müssen.«