Die Fledermaus (Akt I, Auftritte 1–6)
Personen:
GABRIEL VON EISENSTEIN, Rentier (Tenor)
ROSALINDE, seine Frau (Sopran)
FRANK, Gefängnisdirektor (Bariton)
PRINZ ORLOFSKY (Mezzosopran oder Tenor)
ALFRED, sein Gesangslehrer (Tenor)
DR. FALKE, Notar (Tenor)
DR. BLIND, Advokat (Bass)
ADELE, Rosalindes Kammerjungfer (Sopran)
IDA, Adeles Schwester (Sopran)
FROSCH, Gefängniswärter (Sprechrolle)
IVAN, Kammerdiener des Prinzen Orlofsky (Sprechrolle)
VIER WEITERE DIENER (Tenor und Bass)
EIN AMTSDIENER (stumme Rolle)
CHOR
Ballgäste. Masken. Bediente. Tänzer und Tänzerinnen
ERSTER AKT
Ouvertüre
Zimmer mit Mittel- und Seitentüren im Hause Eisensteins.
ERSTER AUFTRITT
Alfred hinter der Szene. Später Adele.
Nr. 1 - Introduktion
Beim Aufgehen des Vorhangs ist die Bühne leer. Von außen ertönt der Gesang Alfreds.
ALFRED
Täubchen, das entflattert ist,
Stille mein Verlangen,
Täubchen, das ich oft geküsst,
Lass dich wieder fangen!
Täubchen, holdes Täubchen mein,
Komm, o komm geschwinde,
Sehnsuchtsvoll gedenk ich dein,
Holde Rosalinde!
ADELE
lachend mit einem offenen Briefchen in der Hand auftretend.
Hahahaha!
Was schreibt meine Schwester Ida?
Die ist nämlich beim Ballett ...
Aus dem Briefe lesend.
"Wir sind heut auf einer Villa,
Wo es hergeht flott und nett.
Prinz Orlofsky, der reiche Suitier,
Gibt heute abend dort ein Grand-Souper.
Kannst du dir eine Toilette von deiner Gnäd'gen annektieren
Und elegant dich präsentieren,
So will ich gern dich ein dort führen.
Mach dich frei nur, und ich wette,
Dass wir gut uns amüsieren.
Langeweile gibt es nie da!" -
So schreibt meine Schwester Ida.
Ach, ich glaub's, ich zweifle nicht,
Wär' gar zu gern von der Partie;
Doch recht schwierig ist die G'schicht' -
Könnt ich nur fort, wüsst ich nur wie?
Ach, wenn ich jenes Täubchen wär',
Fliegen könnte hin und her,
Mich in Wonne und Vergnügen
In dem blauen Äther wiegen!
Ach, warum schufst du, Natur,
Mich zur Kammerjungfer nur?
ALFRED
singt von außen
Täubchen, das entflattert ist,
Stille mein Verlangen ...
ADELE
spricht
Was ist denn das für ein Gewinsel? Ob man wohl eine Minute nachdenken kann?
ALFRED
fortfahrend
Täubchen, das ich oft geküsst, Lass dich wieder fangen!
ADELE
eine Münze in ein Papier wickelnd
Ich muss ihm nur ein Sechserl spendieren, sonst hört der Hofsänger nicht auf!
Wirft das Geld aus dem Fenster.
ALFRED
wie oben
Täubchen, holdes Täubchen mein,
Komm, o komm geschwinde,
Sehnsuchtsvoll gedenk ich dein,
Holde Rosalinde!
ADELE
Was, Rosalinde? Das ist kein Straßentenor, sondern ein Verehrer und nicht einmal von mir, sondern von meiner Gnädigen!
Ruft zum Fenster hinaus
Eine Adele ist hier und keine Rosalinde, wenigstens nicht für Sie! Verlassen Sie den Garten, sonst wird man einen ganz anderen Tenor mit Ihnen singen.
Er verschwindet samt seinem Tenor
Der ist sicher irgendwo einem Männergesangverein ausgekommen. Schade, ich hätt' mir ihn doch näher ansehen sollen; vielleicht kann ich ihn noch erreichen!
Läuft ab.
ZWEITER AUFTRITT
Rosalinde. Dann Adele.
ROSALINDE
tritt erregt auf
Er ist's! Alfred, er, der mich vor vier Jahren anbetete, als ich noch frei war! Ich habe ihn gleich erkannt an seinem Tenor und an seiner Keckheit. Nur ein Tenor kann so keck sein, und nur ein kecker Mensch kann so Tenor singen! Er wagt es, hier vor dem Hause meines Gatten mich durch sein hohes A zu kompromittieren!
ADELE
eintretend für sich
Keine Seele mehr zu erblicken. - Ah, da ist meine Gnädige! Jetzt heraus mit der Geschichte; sie sei kurz, aber rührend!
Laut, kläglich
Gnädige Frau, meine arme Tante ist so krank!
ROSALINDE
für sich
Sicher hält er mich für treulos, glaubt vielleicht, ich liebe einen anderen, und ich habe doch bloß geheiratet.
ADELE
kläglicher
Gnädige Frau, meine arme Tante ist krank!
ROSALINDE
immer noch für sich
Aber wie kommt er, der vor vier Jahren spurlos aus Wien verschwand, so plötzlich in diesen Badeort?
ADELE
schluchzend
Gnädige Frau, meine arme Tante ist so krank!
ROSALINDE
Wer ist krank?
ADELE
Meine Tante!
ROSALINDE
Deine Tante?
ADELE
Ja, meine Tante!
ROSALINDE
ungeduldig
Aber kann ich sie denn gesund machen?
ADELE
Das verlange ich gar nicht, wenn Sie es auch könnten.
ROSALINDE
Na also!
ADELE
weiterschluchzend
Aber es ist doch die Pflicht einer guten Nichte, ihre arme Tante zu besuchen und zu fragen: "Wie geht's? Wie befinden Sie sich? Noch immer fidel und munter?"
ROSALINDE
Deine arme, kranke Tante?
ADELE
Darum bitte ich Sie, mir aus Rücksicht für meine nichtige Liebe freien Ausgang zu gewähren.
ROSALINDE
bestimmt
Unmöglich!
ADELE
bittend
Gnädige Frau!
ROSALINDE
Unmöglich, sage ich. Hast du denn vergessen, dass mein Gemahl heute seine fünftägige Arreststrafe antreten muss? Dreimal ist sie schon verschoben worden; aber heute muss er sich stellen, sonst wird er gestellt.
ADELE
Aber ich weiß noch immer nicht, warum der gnädige Herr eigentlich eingesperrt wird?
ROSALINDE
Weil er einem Amtsdiener ein paar Hiebe mit der Reitpeitsche gegeben und ihn einen Stockfisch genannt hat.
ADELE
Wegen so einem bisserl?
ROSALINDE
Er hat schon an alle Instanzen appelliert, aber das wird ihm eher schaden als nützen.
ADELE
Wenn es ihm aber dennoch nützt?
ROSALINDE
So wird es dir nichts nützen, denn ich kann dich nicht eine Stunde entbehren.
ADELE
Nicht? O meine arme, arme Tante! So darf ich dich nicht mehr wiedersehen auf Erden? Eine solche Tante wie diese Tante - noch keine Nichte Tante nannte!
Nr. 1a - Ende der Introduktion
ADELE
Ach, ich darf nicht hin zu dir,
Und du sehnst dich so nach mir,
Deiner heißgeliebten Nichte.
Gar zu traurig ist die G'schichte!
Ach, warum schuf die Natur
Mich zur Kammerjungfer nur?
ROSALINDE
Nein, du darfst heut nicht zu ihr,
Und wenn sie sich auch sehnt nach dir!
Wohl traurig klingt die G'schichte
Von der geliebten Nichte.
Ja, warum schuf die Natur
Dich zur Kammerjungfer nur?
ADELE
schluchzend ab.
DRITTER AUFTRITT
Rosalinde.
ROSALINDE
allein
Wie glücklich die alte Tante ist, eine so liebevolle Nichte zu haben! Es wird nicht so gefährlich sein, hoffe ich. Ich kann sie ja nicht entbehren, weil ich nicht allein bleiben darf, wenn mein Mann in der Tat seine Strafe antreten muss. Und der wird er nicht entgehen, denn jetzt hat er die Richter erst recht erbittert gegen sich.
Ihr Blick fällt auf Alfred, der in der Mitteltür erscheint.
Himmel, Alfred!
VIERTER AUFTRITT
Rosalinde. Alfred.
ALFRED
vortretend
Warum denn nicht: mein Alfred und mir mit offenen Armen entgegengeflogen?
ROSALINDE
Mein Herr, ich bin verheiratet!
ALFRED
Das geniert mich nicht!
ROSALINDE
Aber mich! Entfernen Sie sich!
ALFRED
Ich bin ja nicht gekommen, um mich zu entfernen!
ROSALINDE
Himmel, wenn mein Mann erschiene!
ALFRED
Das geniert mich nicht! Übrigens erscheint er nicht, er muss brummen.
ROSALINDE
Nein, nein!
den Blick erhebend
Vater im Himmel, lass ihn nicht brummen, ich bitte dich!
ALFRED
Er muss brummen, da hilft ihm kein Gott!
ROSALINDE
Ich bitte, ich beschwöre Sie, verlieren Sie sich!
ALFRED
Wohlan, ich verliere mich, jedoch nur unter der Bedingung, dass ich wiederkehren darf, wenn Ihr Gemahl brummt. Schwören Sie mir, dass Sie mich empfangen werden, wenn Sie Strohwitwe sind, und ich entferne mich augenblicklich.
theatralisch
Schwöre!
ROSALINDE
Es sei ... ich schwöre!
ALFRED
Nun denn ... ich gehe!
Bleibt stehen.
ROSALINDE
ungeduldig
Sie gehen aber nicht, sondern stehen noch immer! Leben Sie wohl!
ALFRED
singt
Kein Lebewohl! Auf Wiedersehen! Bald bin ich wieder da!
Ab.
FÜNFTER AUFTRITT
Rosalinde.
ROSALINDE
allein
Oh, wenn er nur nicht singen wollte! Seinem Dialog bin ich noch allenfalls gewachsen, aber vor seinem hohen B schmilzt meine Kraft dahin! O Schicksal, Schicksal, warum hast du mir das angetan? In dem Augenblick, wo du mir die Gegenwart des Gatten entziehst, führst du mir das Bild der Vergangenheit vor Augen. Was soll aus der Zukunft meiner Pflichten werden? Meine einzige Hoffnung beruht jetzt noch auf dem Ausspruch des Gerichts. Wird meinem Gatten die Arreststrafe erlassen, dann ist alles gut! Oh, wenn die Richter wüssten, welche Verantwortung sie durch seine Verurteilung auf sich laden, sie würden Gnade walten lassen!
horcht
Ha, er kommt! Er zankt mit seinem Advokaten. Ein böses Zeichen!
SECHSTER AUFTRITT
Rosalinde. Eisenstein. Blind, Aktenstösse unterm Arm, Augengläser und Perücke.
Nr. 2 - Terzett
EISENSTEIN
aufgeregt eintretend
Nein, mit solchen Advokaten
Ist verkauft man und verraten;
Da verliert man die Geduld!
ROSALINDE
Nur Geduld!
BLIND
Nur Geduld!
EISENSTEIN
Statt dass jetzt die Sach' beendet,
Hat's noch schlimmer sich gewendet,
Und daran ist er nur schuld!
BLIND
Wer ist schuld?
ROSALINDE
Der ist schuld? Der wäre schuld?
EISENSTEIN
Ja, der ist ganz allein nur schuld!
ROSALINDE
Der Herr Notar?
BLIND
Das ist nicht wahr!
EISENSTEIN
Du wirst schon sehn!
ROSALINDE
Was ist geschehn? Erkläre dich!
EISENSTEIN
So höre mich!
BLIND
Nein, erst will ich verteid'gen mich!
EISENSTEIN
Ersparen Sie sich diese Müh!
So etwas ist nicht zu verteid'gen!
BLIND
Mir scheint, Sie wollen mich beleid'gen?
ROSALINDE
Nur ruhig Blut! Warum die Wut?
EISENSTEIN
Der Herr Notar schwatzt wie ein Star.
BLIND
Herr Eisenstein fing an zu schrein.
EISENSTEIN
Sie stottern ja bei jedem Wort!
BLIND
Sie schimpfen ja in einem fort.
EISENSTEIN
Sie krähen wie ein Hahn!
BLIND
Sie sind ein Grobian!
EISENSTEIN
Sie sind ein Dummrian!
BLIND
Sie sind sehr inhuman!
EISENSTEIN
Sie reden lauter Lebertran
Und drehn sich wie ein Wetterhahn!
BLIND
Sie rasen wie im Fieberwahn
Und kollern wie ein Puterhahn!
ROSALINDE
zu Eisenstein
Doch schone dein Organ,
Es sei nun abgetan.
zu Blind
Das beste wär', Sie gehn hinaus,
Sonst wird noch ein Skandal daraus!
EISENSTEIN
Ja, sie hat recht! Gehn Sie hinaus,
Sonst wird noch ein Skandal daraus!
BLIND
Nein, diesen Ton hält man nicht aus.
Ich gehe schon, ich geh hinaus!
Ab
ROSALINDE
Beruh'ge endlich diese Wut.
Verurteilt bist du; nun denn - gut!
Ergib dich drein, und nach fünf Tagen,
Schon nach fünf Tagen ist die G'schichte abgemacht.
EISENSTEIN
Fünf Tage sagst du? Jetzt sind's gar acht!
Man hat mir drei dazugeschlagen.
So weit hat's dieser Mensch gebracht!
Noch heute soll ich stellen mich,
Und komm ich nicht, so holt man mich!
ROSALINDE
Das ist zu stark, das muss ich sagen.
EISENSTEIN
Nicht wahr?
ROSALINDE.
Ach, mein armer, armer Mann,
Noch heute also musst du dran?
Was kann ich dir zum Tröste sagen?
Wie soll ich das ertragen?
EISENSTEIN
Ach, mit solchen Advokaten
Ist verkauft man und verraten!
Da verliert man die Geduld!
ROSALINDE
Und daran ist der nur schuld!
BLIND
tritt wieder ein
Wer ist schuld?
ROSALINDE
Sie sind schuld!
EISENSTEIN
Der ist ganz allein nur schuld!
BLIND
Wenn Sie nur erst wieder frei,
Prozessieren wir aufs neu,
Und ich werde Ihnen dann schon zeigen, was ich kann:
Rekurrieren, appellieren, reklamieren,
Revidieren, rezipieren, subvertieren,
Devolvieren, insolvieren, protestieren,
Liquidieren, exzerpieren, extorquieren,
Arbitrieren, resummieren, exkulpieren,
Inkulpieren, kalkulieren, konzipieren ...
ROSALINDE, EISENSTEIN
Hören Sie auf, es ist genug!
BLIND
Und Sie müssen triumphieren!
ROSALINDE
Ob Sie Berge von Papieren
Auch dabei zusammenschmieren,
Doch Sie werden schließlich sich blamieren
Ja, ach ja, blamieren!
EISENSTEIN
Wenn Sie jetzt nicht retirieren,
Muss ich Sie hinausbugsieren
Und vielleicht noch schließlich attackieren!
Muss ich Sie hinausbugsieren!
BLIND
Rekurrieren, appellieren, reklamieren,
Revidieren, rezipieren, subvertieren,
Devolvieren, involvieren, protestieren,
Liquidieren, exzerpieren, extorquieren,
Ja, Sie werden triumphieren,
Triumphieren sicherlich!
ROSALINDE
Ach, mit solchen Advokaten
Ist man übel oft beraten,
Und fürwahr, man braucht Geduld.
Statt dass jetzt die Sach' beendet,
Hat's noch schlimmer sich gewendet,
Und nur der allein ist schuld!
EISENSTEIN
Nein, mit solchen Advokaten
Ist verkauft man und verraten
Und verliert man die Geduld.
Statt dass jetzt die Sach' beendet,
Hat's noch schlimmer sich gewendet,
Und daran ist der nur schuld!
BLIND
Ach, wir armen Advokaten
Sollen immer helfen, raten,
Dazu braucht man viel Geduld.
Statt dass jetzt die Sach' beendet,
Hat's noch schlimmer sich gewendet,
Und daran
zu Eisenstein
sind Sie nur schuld!
ROSALINDE
spricht
Also noch verschärft die Strafe? Statt fünf Tage - acht Tage!
EISENSTEIN
Diese Zulage habe ich Herrn Dr. Stotterbock zu danken.
BLIND
Rei ... rei ... reizen Sie mich nicht! Sie allein haben durch Ihr Benehmen die Richter erbittert und mich obendrein ko ... ko ... konfus gemacht. Aber ich will Ihnen nichts nachtragen, und wenn Sie wieder einmal tüchtig eingesperrt werden sollen, vertret ich Sie abermals!
EISENSTEIN
Ja, ich bitte recht sehr!
BLIND
Wenn Sie wieder einmal mit einem Amtsdiener einen Konflikt haben sollten, genieren Sie sich nicht ... Das nächste Mal arbeite ich Sie ganz sicher heraus!
EISENSTEIN
Alle Donnerwetter, ich empfehle mich Ihnen!
BLIND
Ihr Diener!
Schnell zur Tür hinaus.