Als Mutti in den Westen ging: Die verlassenen Kinder (1)
Der vielleicht glücklichste Tag der Deutschen: der 9. November '89.
Der Tag, als in Berlin die Mauer fiel.
Für manche war er die tragische Wende.
Für Kinder, deren Eltern lieber in den Westen gehen.
Ohne sie.
Westberlin.
Und jetzt bin ich nur alleine.
* gefühlvolle Musik *
Dass die Eltern im Grunde nur für den "Goldenen Westen"
die Kinder weggegeben haben.
Da gibt es Hunderte Fälle in der DDR.
Verlassen und belogen.
Meine Mutti, die ist im Urlaub.
* gefühlvolle Musik *
Es fühlt sich heute noch total emotional an.
Gerade wenn man sich als Junge hilflos laufen sieht.
Diese Eltern sind ja gegangen, weil sie ein besseres Leben wollten.
Aber ihren Kindern haben sie zugemutet da zu bleiben,
wo sie nicht bleiben wollten.
Die sind hilflos.
Wenn es auf Fragen keine Antwort gibt.
Ich habe nachgedacht, warum meine Mama mich verlassen hat.
Einmal bin ich dazu gekommen.
Da habe ich gedacht, dass ich das wüsste.
Aber ich weiß nicht, ob es das Richtige ist.
Warum setzt man ein Kind in die Welt, wenn man es nicht will?
Wenn das Trauma auch nach 30 Jahren nicht verarbeitet ist.
Es hatte Folgen fürs ganze Leben, für alle.
Wenn die Sehnsucht nicht vergehen will.
Manchmal abends denke ich an Mutti.
Eigentlich vermisse ich Mutti.
Die kommt nie mehr wieder.
* gefühlvolle Klaviermusik *
* leiser Verkehrslärm, Vogelzwitschern *
Das Kinderheim Makarenko in Berlin-Treptow.
Wenige Wochen nach dem Mauerfall.
Es ist eine Auffangstation für Kinder,
deren Eltern ihr Glück allein suchen.
Es ist der 6. Dezember 1989.
Nikolaustag.
Fast alle in der Gruppe feiern den 1. Advent nun im Heim.
Sie sind auf dem Weg von Ost nach West zurückgelassen worden.
* Kind weint. *
Zum Beispiel Mark, 2 Jahre alt.
Die Mutter und seine 3 Geschwister sind im Westen.
Für ihn war kein Platz mehr.
Dr. Lisa Hörkner ist Leiterin der Säuglingsstation.
Seit dem Exodus Richtung Bundesrepublik
steigt auch die Zahl der verlassenen Kinder.
Allein in Berlin sind es 1 Monat nach dem Mauerfall schon mehr als 50.
Auch der 1-jährige Säugling Steffen lebt nun im Heim.
Ei! Steffen, komm.
Er wurde mit der 2-jährigen Schwester von der Großmutter abgegeben.
Der Freiheitsdrang der Mutter über- steigt ihr Verantwortungsbewusstsein.
Wir sind informiert worden durch die Großmutter des Kindes.
Dass sie ausgereist ist ohne ihre Kinder.
Es ist noch ein Geschwisterkind bei uns.
Und ...
Sie hat sich bisher aus der Bundesrepublik nicht gemeldet.
Steffens Schwester Katharina.
Das Mädchen leidet besonders unter der Trennung von der Mutter.
Ein traumatisiertes Kind, verloren und verlassen.
Das Kind ist sehr verstört.
Es weint sehr viel, ist ausgesprochen ängstlich.
Und verlangt schon immer wieder nach der Mama.
Während ihr Bruder die Situation noch nicht richtig begreift,
hadert Katharina mit ihrem Leben im Heim.
* Sie weint, die Frau redet ihr zu. *
Erinnerungen an diese Zeit hat sie heute kaum noch.
Katharina Fernau.
31 Jahre später.
Heute sieht sie diese Aufnahmen zum 1. Mal.
Die einzigen Kinderbilder aus dieser Zeit.
Wie kann man das einem Kind antun?
Ich verstehe es nicht.
Gerade als Mutter, man versteht es nicht.
Ein Rückblick, der so vieles erklärt in ihrem Leben.
Die Folgen - damals wie heute -
ein Problem für die jetzt 33-Jährige.
* Sie weint. *
Katharina ist ängstlich.
Ich weiß in dem Moment nicht, warum ich jetzt weine.
Aber ich habe früher auch selber gehört,
dass ich viel geweint habe, total verstört war.
* Weinen aus dem Laptop *
(Reporter:) Sie haben da Folgen gehabt als Kind?
Bis heute, ja.
Definitiv.
Was für welche?
Also alles, was Gefühle anbelangt.
Ich kann keine Nähe zulassen, sie nicht geben.
Ich lasse keinen an mich ran, ich vertraue keinem.
Und ...
Ich merk es auch in einer Beziehung.
Ich kann niemandem irgendwas überlassen.
Ich brauche die Kontrolle, dass ich sie nicht verliere.
Ich habe immer die Angst, wenn ich es nicht mache, macht es keiner.
Dadurch ist meine 1. Ehe kaputt gegangen.
Mein Exmann ist superbehütet aufgewachsen.
Und ist damit natürlich gar nicht zurechtgekommen,
dass ich ihm das nicht geben kann.
Katharina und ihr Bruder kommen in eine Adoptivfamilie.
Die leibliche Mutter treffen sie nie wieder.
Die soll nach ihrer Flucht vor den eigenen Kindern
in einem bayrischen Krankenhaus gearbeitet haben.
Auf der Kinderstation.
Als ihre Chefs von der Tragödie hören, sei sie entlassen worden.
* bewegte Streichmusik *
Katharina hat heute 5 Kinder.
Auch darum hat sie kein Verständnis für das Verhalten ihrer Mutter.
Man fragt sich:
Warum setzt man ein Kind in die Welt, wenn man es nicht will?
Wenn man sich darum nicht mit allen Konsequenzen kümmern will.
Mit allem, was das mit sich bringt.
Das kann ich mir doch vorher überlegen.
Vor allem muss ich keine weiteren Kinder bekommen.
Um es dann am Ende zurückzulassen.
Und im Prinzip die Kindheit so zerstören.
Es hat einfach Folgen fürs ganze Leben.
Für alle diese Kinder, egal welches Alter die haben.
Überall in der DDR gibt es zu dieser Zeit Kinder,
die von ihren Eltern verlassen werden.
Diese setzen sich in den Westen ab.
Eine Statistik über Fallzahlen gibt es nicht.
Doch schon damals richtet sich die Leiterin eines Säuglingsheims
in einem Appell an Politik und Medien.
Ich bitte deswegen dringend unsere beiden Staaten,
gegenseitig aufeinander zuzugehen.
Und mit den örtlichen Organen der Jugendhilfe
ein Rechtshilfeabkommen abzuschließen,
um für diese Kinder eine Lösung zu finden.
Kristina Brandt, die Heimleiterin von damals, erinnert sich.
Den Umständen geschuldet
füllte sich ihre Erfurter Einrichtung in wenigen Wochen.
Hier.
Allein bei ihr wurden 12 Kinder abgegeben.
Ich war fassungslos und meine ganzen Kollegen auch.
Man hat so was nicht für möglich gehalten.
Es müssen Hunderte gewesen sein, die im ganzen DDR-Gebiet ...
Auch größere.
Es sind ja auch in Erfurt andere Heime gewesen,
mit denen wir kooperiert haben.
Da waren schon Schulkinder dabei, die dort abgegeben wurden.
Wo versprochen wurde: "Nächste Woche hole ich dich."
Jugendliche. Nichts ist passiert.
Also in Erfurt waren das schon bestimmt 50.
Auch Enrico und Sven, beide 16 Jahre alt.
Sie wurden morgens von ihrer Mutter so geweckt:
"Die Grenzen sind offen, schlaft nur. Ich gehe mal gucken."
Die Mutter kam nie wieder.
Seit einem halben Jahr sind sie nun im Erfurter Heim.
Sehnsucht zu meiner Mutter?
Da gibt's keine Aussicht mehr.
Die hat uns ja verlassen.
Die hat uns so was Schlimmes angetan.
Das würde keiner verstehen.
Wenn sie mich rüberholen würde, würde ich sagen: "Ich bleibe.
Du hast uns nicht Bescheid gesagt, dass du rüberwillst,
deine eigene Freiheit haben willst."
Dann würde ich hierbleiben.
Auch Sebastians Mutter hat ohne ihn rübergemacht.
Das Sprechen darüber fällt dem Jugendlichen sichtlich schwer.
Meine Mutter kann es nicht mehr gutmachen.
(Reporter:) Und warum nicht?
Willst du ihr nicht noch eine Chance geben?
Nee!
* Er schluckt schwer. *
Liebst du sie nicht mehr?
Hasst du sie?
Mhm.
Diese Eltern sind ja gegangen,
weil sie ein besseres Leben wollten.
Aber ihren Kindern haben sie zugemutet da zu bleiben,
wo sie nicht bleiben wollten.
Die sind hilflos.
Fassungslos.
Für die ist eine Welt zusammengebrochen.
* ruhige Musik *
In dieser Zeit muss auch Manuela ins Heim in Erfurt.
Mit 160 anderen Waisenkindern lebt sie nun hier.
Die Sehnsucht nach dem Vater ist groß.
Ein halbes Jahr zuvor machte der sich mit einer Freundin
quasi über Nacht auf und davon.
Auch er ging in den Westen.
Und auch er plante seine Zukunft ohne seine Tochter.
Für die 14-Jährige ein Schock.
Mein Vater ist rüber in den Westen.
Abgehauen.
* Sie atmet laut aus. *
Ja, ich hatte meinen Vater sehr lieb.
Und ...
Ich kann es ihm nicht verzeihen, dass er rübergegangen ist.
Immerhin: Einmal hat ihr der Vater geschrieben.
Ein A4-Blatt.
Ohne Erklärung, ohne Entschuldigung.
"Liebe Manuela.
Obwohl wir dich sehr vermissen, ist es wohl besser so für dich.
Mache erst mal deine Lehre, dann sehen wir weiter.
Wir haben jetzt eine Wohnung seit dem 01.12.89.
Ist nicht schlecht, mit Bad und Warmwasser.
Aber 555 Mark Miete.
Im Januar kommen wir 100-prozentig rüber.
Sobald wir alle Papiere haben.
Bitte sei nicht böse und traurig. Es geht wirklich nicht.
In den Winterferien kannst du zu uns hierherkommen.
Irgendwie wird das schon klappen."
Die letzten Zeilen sind eine Lüge.
Manuelas Vater hatte sich bis dahin nicht wieder gemeldet.
* gefühlvolle Musik *
Auch Thomas landet in einem Erfurter Kinderheim.
Seine Mutter hat ihn abgegeben,
weil er sich zu einem spastisch gehbehinderten Kind entwickelt.
Sie beauftragt ihren Freund, den Jungen ins Heim zu bringen.
Der setzt ihn der Heimleitung auf den Schreibtisch.
Dann ziehen beide in den Westen.
* gefühlvolle Musik *
Seit Wochen wartet der 5-Jährige nun auf seine Mutter.
Die Erzieher behelfen sich mit einer Notlüge.
Meine Mutti, die ist im Urlaub.
Es ist die Mutter, die ihm das Wichtigste genommen hat.
Das Urvertrauen, dass Mütter nur das Beste für ihr Kind wollen.
* gefühlvolle Musik *
31 Jahre später.
Thomas Metz sieht sich die Aufnahmen mit seiner heutigen Familie an.
Es fühlt sich heute noch total emotional an.
Wenn man sich als Jungen hilflos die Treppen hochlaufen sieht.
Dann eben so eine Aussage trifft: "Meine Mama ist im Urlaub."
Ja? Und ...
Man weiß, aus jetziger Sicht, so war's eben gar nicht, ne?
Man wurde ja quasi abgeschoben, ne?
Und das ...
Es ist verblüffend zu sehen,
wie schnell man das als Kind in der Not glauben kann.
Und auch heute noch, wenn ich mir das angucke,
auch eben gerade, absolut berührend.
Heute ist er verheiratet, selbst Vater von 2 Töchtern.
Sein Glück:
Monate, nachdem er abgegeben wurde, nimmt ihn eine Pflegemutter auf.
Silvia Werner ist damals Lehrerin in einer Körperbehindertenschule.
Eine Bekannte hat sie auf den Jungen aufmerksam gemacht.
Thomas musste später von unserer Schule zurück ins Heim,
weil wir keine Wochenendunterbringung hatten.
Ich bin dann, wie so ein Erwachsener halt denkt damals:
"Gehst du halt mal hin und guckst, ob sich Kontakt entwickelt."
Und als ich das 2. Mal wieder da war,
rief Thomas schon von Weitem: "Meine Mama kommt."
Dann war es entschieden und klar.
Das muss man sich auch mal vorstellen, ne?
Du kommst da zum zweiten Mal.
Und ich sage dann sofort Worte wie: "Meine Mama kommt."
Ja.
Was eigentlich rückblickend da für eine Not da war.
Ein Ortstermin in die Vergangenheit.
Von dem einstigen Heim ist nicht mehr viel übrig.
Hier stand es. Hier stand es.
Gab es einen Moment, wo Sie realisierten,
dass die Mutti Sie nicht mehr abholt?
Nee. Das ist gar nicht mehr drinnen.
Das ist gar nicht mehr drinnen.
Ich habe die Dramatik auch erst das 1. Mal richtig realisiert,
als ich im Film mich gesehen habe und die Worte gehört habe.
"Meine Mama, die ist im Urlaub."
Erst da habe ich noch mal realisiert:
Um Gottes willen! Was war hier eigentlich los?
* Kinderrufe, ernste Musik *
Es ist das Jahr 1999.
10 Jahre sind vergangen, seit Thomas von seiner Mutter ausgesetzt wurde.
Das schüchterne Kind wurde ein selbstbewusster Teenager.
* ruhige Musik, Rufe *
Dass seine Pflegemutter ihn aus dem Heim geholt hat,
war die positive Wende in seinem Leben.
Vielleicht das Beste, was ihm passieren konnte.
Jetzt wuchs er in geordneten Verhältnissen auf
und hatte Möglichkeiten, die er sonst nicht gehabt hätte.
Ein gutes Zuhause, Fürsorge und Liebe.
* gefühlvolle Musik *
Ich finde meine Mutti klasse.
Ich hatte großes Glück, dass sie mich aus dem Heim geholt hat.
Das passiert nicht vielen.
Sie ist auch sehr liebevoll zu mir und respektiert mich.
Ich habe auch meine Freiheiten, das finde ich toll.
Und es ist so, einen Vater vermisse ich eigentlich nicht.
Meine Mutti ist für mich beides.
Mit der kann ich über alles reden.
Auch wenn es Zufall war, dass Thomas und ich zusammenkamen,
so ist es jetzt ganz selbstverständlich mein Sohn.
Ich denke, ich empfinde genauso tief für ihn,
wie jede Mutter für ein leibliches Kind empfindet.
Eberhard Weißbarth ist damals der Filmemacher,
der Thomas und andere verlassene Kinder porträtiert.
Er war selbst in einem Kinderheim,
weiß aus eigenem Erleben um die kindliche Verzweiflung.
So war er nicht nur Reporter, sondern auch Aktivist.
* Sprecher im Fernsehen *
Ich hab dann eben nach dem Mauerfall Zeitungsartikel gelesen
in verschiedenen Zeitschriften über DDR-Heimkinder.
Wie jetzt kam mir das alles hoch.
Da habe ich gesagt, darüber muss ich einen Film machen.
Ich bin ja selber betroffen.
Ich bin seit Jahren Filmemacher und habe Dokus gedreht.
Da habe ich gesagt: "Das mache ich jetzt."
Ich habe Kontakt aufgenommen mit Jugendamt und DDR.
Die haben mir geholfen dabei.
Ich habe das dann für eine Fernsehproduktion gemacht.