Kapitel 3. Der Chinese
So war Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr noch eine halbe Woche Zeit, dann begannen die Besuche. Zuerst in der Stadt, dann bei den Adligen auf dem Land. Es waren langweilige Leute, und Effi und Innstetten waren froh, als sie nach zwei Wochen den letzten Besuch gemacht hatten. Das war am . Dezember. Eine Woche später war Bismarck1 in Varzin, einem Ort in der Nähe von Kessin. Nun wusste Innstetten, dass er bis Weihnachten nicht viel Zeit haben würde für Effi. Der Fürst kannte ihn noch von früher und lud ihn gerne ein.
Am 14. Dezember war die erste Einladung. Bevor Innstetten in die Kutsche stieg, sagte er: „Warte nicht auf mich, Effi. Vor Mitternacht kann ich nicht zurück sein; wahrscheinlich wird es zwei Uhr oder noch später. Schlafe gut und bis morgen früh!“
Das war die erste lange Trennung, fast auf zwölf Stunden. Effi wusste nicht, wie sie den Abend verbringen sollte. Früh zu Bett gehen, das war gefährlich, dann wachte sie in der Nacht auf und konnte nicht wieder einschlafen. So schrieb sie einen Brief an die Mama. Danach fühlte sie sich noch einsamer und nahm ein Buch zur Hand. Aber auch das Lesen half nicht. Endlich war es neun Uhr. Sie rief Johanna.
„Ich will zu Bett gehen. Es ist eigentlich noch früh. Aber ich bin so allein. Ach, wenn nur meine Freundinnen aus Hohen-Cremmen hier wären. Ich würde so gerne mit ihnen bis Mitternacht plaudern1 oder noch länger. Und … ich habe solche Angst.“
„Ach, gnädige Frau, das geht vorbei. Angst hatten wir alle.“
„Was soll das heißen, Johanna?“
Die Augen fielen Effi bald zu und sie schlief eine Weile ganz fest. Aber plötzlich erwachte sie mit einem Schrei und fühlte, wie etwas an ihr vorbeihuschte. Die Tür sprang auf. Rollo bellte und kam zu ihr ins Zimmer, wo er sich neben dem Bett niederlegte. Effi klingelte.
„Was ist denn, gnädige Frau? Haben Sie geträumt?“, fragte Johanna.
„Ja, geträumt. Es muss so was gewesen sein … aber es war doch auch noch was anderes … Und wenn ich mich recht frage, was es war …“
„Nun was denn, gnädige Frau?“
„Ich sage es lieber nicht, Johanna … ich glaube, der Chinese …“
„Der von oben?“, Johanna versuchte zu lachen. „Unser kleiner Chinese, den wir an den Stuhl geklebt haben, Christel und ich? Ach, Sie haben einfach geträumt.“
Innstetten war erst um sechs Uhr früh aus Varzin zurückgekommen. Um neun Uhr stand er auf. Warum schlief Effi so lange? Friedrich und Johanna erzählten ihm, dass sie in der Nacht Angst gehabt hatte. Eine halbe Stunde später kam Effi, küsste Innstetten und sagte: „Ach, Geert, Gott sei Dank, dass du da bist. Nun ist alles wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, du darfst mich nicht wieder allein lassen.“
„Meine liebe Effi, ich kann nicht sagen: Fürst, ich kann nicht kommen, meine Frau ist so allein, sie hat so große Angst … Aber nimm doch eine Tasse Kaffee.“
Effi trank, dann sagte sie: „Du hast recht, das geht nicht. Und dann wollen wir ja auch höher hinauf. Ich sage wir, denn eigentlich will ich das noch mehr als du! Aber lass uns die Wohnung wechseln. Es gibt so hübsche Häuser hier. Warum können wir nicht am Markt wohnen? Warum gerade hier, im Haus mit dem …?“
„… Chinesen willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann das furchtbare Wort aussprechen, ohne dass er kommt. Johanna hat dir wohl gestern Abend etwas von der Hochzeit oben im Saal erzählt …“
„Kein Wort hat sie mir erzählt. Aber ich sehe doch, dass es hier etwas Sonderbares gibt. Es ist alles so unheimlich hier.“
„Ich kann das Haus nicht verkaufen. Sonst sagen die Leute: Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten Chinesen als Spuk an ihrem Bett gesehen hat. Dann bin ich verloren, Effi. Dann lachen alle.“
„Bist du so sicher, dass es das nicht gibt?“
„Man kann es glauben oder nicht glauben. Aber selbst wenn es das gibt, wo liegt das Problem? Dass in der Luft Bazillen herumfliegen, ist viel schlimmer und gefährlicher.“
„Also ist doch etwas damit. Es ist wohl am besten, du erzählst mir alles, sonst habe ich immer wieder Angst.“
„Bravo Effi. Ich wollte nicht davon sprechen, aber nun bietet es sich an. Übrigens ist es eigentlich gar nichts. Vor vielen Jahren verkaufte ein alter Kapitän namens Thomsen sein Schiff und kaufte das Haus, in dem wir jetzt wohnen. Das Krododil, der Fisch und das Schiff sind von ihm. Mit ihm zusammen lebten eine junge Frau, seine Nichte oder Enkelin, und ein Chinese, derselbe, der hier begraben ist. Dieser Chinese war sein Diener und Freund. Eines Tages fand eine große Hochzeit statt: Die Enkelin heiratete einen jungen Kapitän. Am Abend war Tanz, die Braut tanzte mit jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Und dann war die Braut plötzlich fort, und niemand weiß, was passiert ist. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese. Thomsen ließ ihn in der Nähe des Friedhofs begraben.“
Mitte Dezember lud Gieshübler zu einer musikalischen Soirée ein, gleich danach begannen die Vorbereitungen1 für Weihnachten, und Effi hatte viel zu tun. Aus Hohen-Cremmen kamen Geschenke von den Eltern und von den Freundinnen. Am 31. Dezember setzte sich Effi an ihren kleinen Schreibtisch, um wieder einmal an die Mama zu schreiben.
„Meine liebe Mama! Ich habe lange nichts von mir hören lassen. Jetzt ist Weihnachten schon vorbei. Es war schön, aber ich fühlte mich doch ein wenig einsam. Ich bin sicher, dass alles besser wird, wenn unsere Familie größer wird, und das ist bald so, meine liebe Mama. Innstetten freut sich darüber, und ich mich natürlich auch. Ich bin zwar erst siebzehn, noch so jung, dass ich selber fast noch ins Kinderzimmer gehöre. Das Kind kommt in den ersten Julitagen. Danach komme ich so bald wie möglich ein paar Wochen nach Hohen- Cremmen. Heute abend ist ein Ball. Ich werde vielleicht tanzen. Unser Arzt sagt, dass ich darf. Auch Innstetten ist einverstanden.
Und nun grüße und küsse Papa und all die anderen Lieben. Ein gutes neues Jahr. Deine Effi.“
Der Winter verging, der April kam. Außer dem Silvesterball war im Winter nichts los gewesen. Effi freute sich auf den Sommer und auf die Badegäste. Ein neuer Kommandeur der Landwehr1 kam in die Stadt, Major von Crampas. Innstetten und Effi hofften, dass das Leben in der Stadt mit ihm interessanter würde, denn er war als lebenslustige Person bekannt. Doch seine Frau war immer schlechter Laune und so eifersüchtig, dass es kein Vergnügen war, sich mit ihnen zu treffen.
Im Juni zog gegenüber ein Badegast ein, eine reiche Dame. Sie war alt und krank und hatte eine Dienerin bei sich. Nun kamen immer mehr Badegäste. Johanna kannte viele davon und nannte Effi die Namen, wenn sie vom Fenster aus auf die Straße sahen. Eines Tages hielt eine schwarze Kutsche vor dem Haus gegenüber: Die reiche Dame war gestorben. Verwandte aus Berlin versammelten sich vor dem Haus. Alle weinten, die Verwandten, die Vermieterin und die Dienerin. Sie gingen mit dem Sarg zum Friedhof. Später am gleichen Tag machte Effi einen Spaziergang. Sie kam am Friedhof vorbei und sah ein frisches Grab mit Blumen. Daneben saß, in der prallen Sonne, die Dienerin. Die gute, treue Person musste schon seit zwei Stunden hier sein.
„Sie haben sich aber an eine heiße Stelle gesetzt. Sie hatten die Dame wohl sehr lieb?“, sagte Effi.
„Ich? Die? Gott bewahre! Sie war geizig und stritt sich immer mit allen. Und die Verwandtschaft, die gestern aus Berlin gekommen ist, ist auch nicht besser. Das Geld, das sie mir gegeben haben, reicht kaum für die Rückreise nach Berlin. Aber ich will auch gar nicht zurück; ich will hier sitzen und warten, bis ich sterbe … Ich will sterben, weil ich nicht leben kann.“
Zuerst schwieg Effi, dann sagte sie: „Ich will Sie was fragen: Sind sie kinderlieb?“
„Natürlich, gnädige Frau, Kinder sind für mich das Schönste. Einmal habe ich Zwillinge mit der Flasche großgezogen.“
„Nun, Sie sind eine gute, treue Person, das sehe ich Ihnen an. Wollen Sie mit mir kommen? Ich glaube, Gott hat Sie mir geschickt. Ich erwarte nun bald ein Kleines, und wenn das Kind da ist, brauche ich Hilfe.“
Roswitha, so hieß die Dienerin, sprang erfreut auf, und zusammen gingen sie nach Hause. Innstetten war einverstanden und Roswitha trug ihre Sachen in das landrätliche Haus hinüber.
Man lebte sich schnell ein, Roswitha erzählte gerne und Effi hörte gerne zu. So vergingen neun angenehme Tage, bis es mit dem Plaudern vorbei war und die Geburt losging. Am Morgen des 3. Juli war das Kind da. Es war ein Mädchen. Roswitha nannte es Klein-Annie, und Effi und Innstetten waren mit dem Namen einverstanden. Am 15. August wurde Annie getauft3, danach gab es ein großes Festmahl. Als Effi mit Crampas und Gieshübler beim Kaffee saß, sagte sie: „Morgen früh um neun fahre ich mit dem Schiff los, zu Mittag bin ich in Berlin und am Abend bin ich in Hohen-Cremmen. Roswitha kommt mit mir. Hoffentlich schreit das Kind nicht. Ach, wie ich mich freue! Lieber Gieshübler, sind Sie auch mal so froh gewesen, Ihr Elternhaus wiederzusehen?“
„Ja, ich kenne das auch, gnädigste Frau. Nur brachte ich keine Annie mit, weil ich keine hatte.“
„Kommt noch“, sagte Crampas. „Stoßen Sie an, Gieshübler, Sie sind der einzige vernünftige Mensch hier.“