Kapitel 6. Neuanfang in Berlin
Innstetten musste nach Berlin reisen. Er sagte zu Effi: „Ich werde acht Tage fort sein, vielleicht noch einen Tag länger. Du musst keine Angst haben … es wird ja wohl nicht wiederkommen … du weißt schon, das da oben … Und wenn doch, du hast ja Rollo und Roswitha.“
Was er in Berlin tun wollte, sagte er nicht. Effi machte wie immer ihre Spaziergänge zum Strand, sogar wenn das Wetter schlecht war. Manchmal kam ihr Roswitha entgegen, aber wie früher verpassten sie sich fast immer.
Endlich schickte Innstetten ein Telegramm, dass er mit dem Abendzug zurückkommen werde. Effi war den ganzen Tag unruhig. Glücklicherweise kam Gieshübler am Nachmittag zu Besuch. Um sieben Uhr fuhr endlich der Wagen vor. Effi trat vor das Haus und begrüßte Innstetten herzlich, aber auch ein bisschen verlegen. Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung. Als er in das Haus trat, brannten überall die Lampen, und der Tee stand schon bereit.
„Das sieht ja ganz so aus wie damals, als wir hier ankamen. Weißt du noch, Effi?“
Sie nickte.
Innstetten trat in sein Zimmer und bat Effi, sich neben ihn auf das Sofa zu setzen.
„Es war so schön in Berlin, aber ich freue mich auch, dass ich zurück bin. Wie gut du aussiehst! Ein bisschen blass und auch ein bisschen verändert, aber du siehst gut aus.“
Effi wurde rot.
„Und nun wirst du auch noch rot. Aber es ist so, wie ich dir sage. Du hattest so was von einem verwöhnten Kind, und jetzt siehst du aus wie eine Frau.“
„Das höre ich gern, Geert, aber ich glaube, du sagst das nur so.“
„Nein, nein, ich meine es ernst. Aber weißt du, von wem ich dir Grüße bringe?“
„Das ist nicht schwer, Geert. Natürlich von Vetter Briest. Er ist ja der einzige, den ich in Berlin kenne, außer den Tanten, die du ja bestimmt nicht besucht hast.“
„Wir haben bei Dressel auf deine Gesundheit Champagner getrunken. Und Dagobert hat gesagt: ‚Wissen Sie, Innstetten, dass ich Sie am liebsten zu einem Duell auffordern möchte? Denn Effi ist ein Engel, und Sie haben mir diesen Engel weggenommen.' Und dabei machte er ein so ernstes Gesicht, dass man es fast hätte glauben können. Glaubst du nicht, dass du mit ihm hättest leben können?“
„Leben können? Natürlich. Er ist wirklich ein netter Mensch. Aber er ist auch albern. Das mögen wir Frauen nicht. Männer müssen Männer sein.“
„Gut, dass du das sagst. Und zum Glück habe ich mir in Berlin Mühe gegeben. Meinst du, du könntest in einem Ministerium wohnen?“
„Um Gottes Willen, Geert, sie haben dich doch nicht zum Minister gemacht?“
Innstetten lachte. „Nein, Effi, nicht Minister, so weit sind wir noch nicht. Und wir werden auch nicht in einem Ministerium wohnen, aber ich werde täglich ins Ministerium gehen, so wie ich jetzt ins Landratsamt gehe, und werde für den Minister arbeiten. Und du wirst eine Ministerialrätin sein und in Berlin leben, und in einem halben Jahr wirst du kaum noch wissen, dass du hier in Kessin gewesen bist und nichts gehabt hast als Gieshübler und den Strand.“
Effi sagte kein Wort, nur ihre Augen wurden immer größer und sie begann zu zittern. Dann kniete sie plötzlich vor Innstetten hin und sagte: „Gott sei Dank!“
Innstetten sah sie sonderbar an und sagte: „Steh auf, Effi. was hast du? Ich dachte, du seist hier glücklich gewesen. Und nun rufst du ‚Gott sei Dank‘, als ob hier alles schrecklich wäre.“
Effi erschrak. Sie hatte mehr gesagt, als sie sagen durfte. Sie musste irgendetwas finden, das sie rettete. Sie stand auf und sagte: „Dass du noch fragen kannst, Geert. Ich habe hier doch immer Angst gehabt. Es ist ein Spukhaus, und ich habe es auch glauben sollen, das mit dem Spuk, denn du bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist du. Aber das macht nichts, ich weiß nur, dass ich über ein Jahr in diesem Haus Angst gehabt habe, und wenn ich von hier wegkomme, so wird sicher alles wieder gut sein.“
Innstetten sah sie an. Was sollte das heißen: „Du bist ein Erzieher“? Was war das alles? Wo kam das her? Nun gut, es konnte ja alles so sein, wie sie sagte. Er antwortete: „Entschuldigung, Effi, ich bin wohl immer zu sehr mit mir beschäftigt gewesen. Aber das soll nun anders werden. Und in Berlin gibt es bestimmt keine Spukhäuser. Wo sollen die auch herkommen? Und nun lass uns hinübergehen, ich möchte Annie sehen.“
Effi war nun wieder ruhiger und hatte das schöne Gefühl, sich aus einer Gefahr befreit zu haben.
Am nächsten Morgen kam ein Brief von Frau von Briest. Effi las: „Meine liebe Effi. Seit 24 Stunden bin ich hier in Berlin; ich musste zum Arzt wegen meiner Augen. Als er mich sah, beglückwünschte mich der Arzt: So habe ich erfahren, dass Innstetten im Ministerium arbeiten wird. Ich bin ein wenig ärgerlich, dass ich das nicht von euch weiß. Aber ich freue mich so sehr darüber, dass ich euch nicht böse bin. Natürlich müsst ihr eine Wohnung finden. Wenn Du, meine liebe Effi, glaubst, dass ich Dir dabei helfen kann, so komm so bald wie möglich nach Berlin. Ich bleibe einige Zeit hier in Kur. Ich habe eine Privatwohnung genommen, in der noch Zimmer frei sind. Grüße Innstetten, küsse Annie, die Du vielleicht mitbringst. Deine Dich liebende Mutter Luise von B.“
Effi und Innstetten beschlossen, dass Effi am nächsten Freitag für ein paar Tage nach Berlin fahren würde, um eine Wohnung zu suchen. Die Tage bis zur Abreise vergingen schnell. Am Donnerstag ging Effi in die Stadt. In der Apotheke fragte sie nach Gieshübler. Er war im Nebenzimmer und las Zeitungen. Effi trat ein. Gieshübler war überrascht und freute sich.
„Möchten Sie sich setzen?“, fragte er.
„Gern, lieber Gieshübler. Aber nur kurz. Ich will Ihnen auf Wiedersehen sagen.“
„Aber meine gnädigste Frau, Sie kommen doch in drei, vier Tagen wieder …“
„Ja, lieber Freund, ich soll in spätestens einer Woche wiederkommen. Aber ich könnte doch auch nicht wiederkommen. Muss ich Ihnen sagen, welche tausend Möglichkeiten es gibt … Und da will ich mich doch lieber verabschieden, als wäre es für immer. Und ich will Ihnen danken, lieber Gieshübler. Denn Sie waren der Beste hier. Ich bin hier manchmal einsam und traurig gewesen, aber wenn ich Sie gesehen habe, dann habe ich mich immer besser gefühlt.“
„Aber meine gnädigste Frau.“
„Und dafür wollte ich Ihnen danken. Lassen Sie einmal von sich hören. Oder ich werde schreiben.“
Damit ging Effi. Gieshübler begleitete sie hinaus und war so benommen, dass er sich nicht frage, was das alles bedeutete.
Zu Hause setzte sich Effi an ihren kleinen Schreibtisch und schrieb einen Brief. „Ich reise morgen ab, und dies ist mein Abschiedsbrief. Innstetten erwartet mich in wenigen Tagen zurück, aber ich komme nicht wieder … Sie wissen, warum … Es wäre das beste gewesen, ich hätte Kessin nie gesehen. Das ist kein Vorwurf, alle Schuld liegt bei mir. Was Sie tun, kann man vielleicht entschuldigen, aber nicht das, was ich tue. Vergessen Sie das Geschehene, vergessen Sie mich. Ihre Effi.“
Den Brief gab sie bei einem Haus in der Nähe des Waldes ab.
Obwohl am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin ein großes Gedränge herrschte, erkannte Effi schon vom Zug aus die Mama und neben ihr den Vetter Briest. Die Freude des Wiedersehens war groß. Effi, Roswitha und Annie bezogen zwei Zimmer in der gleichen Privatwohnung wie Frau von Briest.
Am nächsten Tag machten sich Effi und die Mama in der Nähe des Tiergartens auf die Suche nach einer Wohnung. In der Keithstraße fanden sie etwas, das genau so war, wie Effi wollte. Es war aber ein Neubau, feucht und noch unfertig. Effi war froh, dass sie weitersuchen mussten: Solange sie keine Wohnung hatte, musste sie nicht nach Kessin zurückkehren. Abends aßen sie im Restaurant und gingen ins Theater. Der nächste Tag war ähnlich, man freute sich, dass man nach so langer Zeit wieder in aller Ruhe miteinander plaudern konnte. Auch Vetter Briest war ganz der alte. So vergingen fast vierzehn Tage. Innstetten schrieb Briefe und wurde langsam ärgerlich. Effi sah ein, dass sie nun wirklich eine Wohnung mieten musste und entschied sich für die erste, die in der Keithstraße. Aber was nun? Bis zum Umzug nach Berlin dauerte es immer noch drei Wochen, und Innstetten wollte, dass sie nach Kessin zurückkam. Es gab also nur ein Mittel: Sie musste wieder eine Komödie spielen, musste krank werden.
Am nächsten Morgen ließ Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte: „Mama, ich kann nicht reisen. Ich habe überall Schmerzen, ich glaube, es ist ein Rheumatismus.“
Sie ließ Innstetten ein Telegramm schicken und blieb den ganzen Tag im Bett, aber es wurde nicht besser. Am vierten Tag kam ein Arzt, Doktor Rummschüttel, den Frau von Briest von früher kannte. Er untersuchte Effi, sah gleich, dass sie nicht wirklich krank war, sagte aber mit großem Ernst: „Ruhe und Wärme sind das Beste, was ich empfehlen kann. Ich schreibe Ihnen auch das Rezept für eine Medizin auf.“
So verbrachte Effi zwei Wochen im Bett, bis sie den Doktor an einem schönen Märztag im Schaukelstuhl sitzend empfing, und er sie für gesund erklärte. Es war nun zu spät, um noch nach Kessin zurückzufahren. Die Möbel waren bereits in der Keithstraße angekommen. Drei Tage später kam Innstetten nach Berlin. Effi, die Mama und der Vetter empfingen ihn herzlich am Bahnhof.
„Ach, da hast du gut gewählt, Effi“, sagte Innstetten, als er die neue Wohnung sah. „Kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein Spuk.“
„Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun fängt eine andere Zeit an und ich habe auch keine Angst mehr.“