Die Vase
Vor vielen Jahren lebte eine junge Frau namens Gertrud Preikschas in der Stadt Königsberg. Königsberg liegt an der Ostsee und wurde im dreizehnten Jahrhundert nach König Ottokar II. benannt, ungefähr siebenhundert Jahre bevor Gertrud geboren wurde.
Dann, im Jahre 1938, verliebte sich Gertrud Preikschas in einen jungen Mann namens Arnold, und wenige Monate später heiratete das überglückliche Paar. Wie es bei Hochzeiten üblich ist, bekamen sie von den eingeladenen Gästen Hochzeitsgeschenke. Darunter war allerlei Hausrat, Bettbezüge und Kissen, Töpfe und Geschirr, Möbel und noch mehr. Aber ein Geschenk gefiel Gertrud mehr als alle anderen: eine Vase aus geschliffenem Kristallglas.
Es war eine kostbare Vase, die bald im Heim von Arnold und Gertrud einen Ehrenplatz erhielt. Und wenn Arnold seiner geliebten Gertrud rote Rosen schenkte, dann stellte sie diese immer in die kostbare Kristallvase. Arnold pflegte dann zu sagen: „Diese Rosen sind für dich, mein Schatz, und auch wenn sie verblühen, so bleibt doch die Vase und du wirst auf ewig meine Liebe in ihr sehen.“
Und so kam es, dass Gertrud von allen Sachen in ihrem Heim diese Vase am meisten schätzte. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit bekam das Ehepaar ein Kind. Es war ein kleines Mädchen, und noch ein Jahr später bekam das Mädchen einen kleinen Bruder. Sie waren eine glückliche Familie, doch leider sollte das Familienglück nicht lange währen. Drei Jahre nach der Hochzeit wurde Arnold eingezogen. Es herrschte Krieg und er wurde als Soldat in ein fernes Land geschickt. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah.
Von da an hütete Gertrud die Vase wie ihren Augapfel. Gertrud lebte nun allein mit ihren beiden Kindern, aber aus dem glücklichen Heim war ein trauriges geworden. Dann kam der Krieg immer näher an Königsberg heran und im Februar 1945 entschloss sich Gertrud, mit ihren Kindern zu fliehen.
Sie lud einige Habseligkeiten auf einen kleinen braunen Leiterwagen, darunter ein wenig Essen, Wertsachen, Kleider und natürlich die kostbare Vase. Zum Schluss zog Gertrud ihren Kindern so viele Kleider wie möglich an und setzte sie in den Leiterwagen. Es war ein eisiger Winter und der bitterkalte Wind blies unerbittlich über das Land.
Gertrud legte noch einige Decken über ihre Kinder, warf einen letzten Blick auf ihr Haus und zog dann den Leiterwagen langsam die Straße entlang in Richtung Westen. In jenen verzweifelten letzten Kriegstagen war es fast unmöglich, Bahnkarten zu bekommen, und so musste Gertrud, wie Millionen andere Flüchtlinge, den langen Weg nach Westen zu Fuß zurücklegen. Ihr Essen war nach einigen Tagen aufgebraucht und von da an waren Hunger und Kälte ihre steten Begleiter.
Eines Abends, Gertrud hatte wieder eine Scheune gefunden, in der sie die Nacht verbringen wollte, hob sie ihre Kinder aus dem Leiterwagen. Erst bettete sie ihre Tochter auf etwas trockenes Stroh, doch als sie ihren Sohn in die Arme nehmen wollte, fühlte sie sofort, wie starr und kalt sein kleines Körperchen war. Der Kleine war während der Fahrt erfroren, wie hunderttausend andere Flüchtlinge auch. Gertrud war durchgefroren und zu erschöpft, um weinen zu können. Am nächsten Morgen kamen drei Männer in die Scheune, Flüchtlinge wie sie. Einer der Männer empfand Mitleid und half ihr, ihren Sohn zu begraben. Die beiden anderen stahlen den Leiterwagen mit ihren Wertsachen. „Bitte nicht die Vase“, flehte Gertrud, als die Männer die Scheune verlassen wollten.
Achselzuckend gab ihr einer der Männer die Vase zurück. Von da an trug Gertrud die Vase in einer Hand, während sie mit der anderen ihre Tochter hielt, bis sie viele Wochen später in einer Stadt weit im Westen Zuflucht fanden. Und so kam es, dass Gertrud nur ihre Tochter und die Vase blieben und die Erinnerung an eine glückliche Zeit.
Als Helga am Abend heimkam und ihrem Mann die Geschichte von Gertrud und der Vase erzählte, war er betroffen. Er hatte die Geschichte noch nie zuvor gehört.
„Dann hast du deinen Großvater nie gekannt“, sagte er. „Ach, den hat nicht mal meine Mutter gekannt. Sie war erst zwei oder drei Jahre alt, als ihr Vater starb. Meine Mutter hat mir auch nie etwas über die Vergangenheit erzählt. Ich glaube, sie wollte alles nur vergessen.“ Kurt nickte. „Das kann ich verstehen. Dann hast du die Geschichte von deiner Großmutter?“
„Ich habe sie danach gefragt, als ich älter war. Ich kann mich aber noch erinnern, als ich sie als Kind besucht habe, da hat sie einmal im Monat rote Rosen gekauft und in die Vase gestellt. Dann hat sie immer gesagt: ‚Siehst du, Helgalein, rote Rosen von meinem Arnold, weil er mich immer liebt‘.“
Kurt seufzte. „Tja, das tut mir sehr leid mit der Vase. Mir hat sie auch gut gefallen. Ich hätte nie gedacht, dass so eine schreckliche Geschichte mit ihr verbunden ist.“ „Hast du die Nachbarn gefragt, ob sie etwas gesehen haben?“ „Ja, aber die waren entweder nicht daheim oder sie haben nichts gesehen. Niemand hat heute Nachmittag Kinder in der Straße bemerkt.“ Helga blickte finster drein. „Es ärgert mich noch viel mehr, dass diese Kerle damit durchkommen. Du bist doch sonst auch immer so schlau, Kurt. Lass dir was einfallen, wie wir herausfinden können, wer das war.“
Kurt stöhnte innerlich. Er hatte vorausgesehen, dass seine Frau genau das verlangen würde. Aber wie sollte er das machen? Er war kein Detektiv und außer die Nachbarn zu befragen, war ihm nichts eingefallen. „Wo ist eigentlich Florian?“ fragte Helga.
„Ich habe ihn seit heute Mittag nicht mehr gesehen, als er aus der Schule gekommen ist. Nach dem Mittagessen ist er gleich zu Peter gegangen.“ Helga blickte auf ihre Uhr. „Schon sechs Uhr vorbei. Zeit zum Abendessen. Ich rufe am besten bei Familie Schmidt an.“ Doch bevor Helga aufstehen konnte, klingelte es an der Haustür. Sie sprang auf und sagte: „Na warte. Wenn das die Kerle sind, die die Schneebälle geworfen haben, dann…“
Ohne den Satz zu beenden, lief sie zur Haustür und riss sie auf. Es flogen keine Schneebälle auf sie, und Kinder waren dort auch keine. Dafür stand ein erschrockener Herr Weisser vor der Tür. Er hatte Frau Lehmann noch nie so wütend gesehen. „Guten Abend, Frau Lehmann. Tut mir leid, wenn ich sie störe. Ich komme am besten ein anderes Mal wieder.“
Helga Lehmann beruhigte sich schnell. Es war ihr jetzt peinlich, dass sie die Tür so wütend aufgerissen hatte. „Nein, nein, Herr Weisser. Sie stören überhaupt nicht. Ich dachte, es wäre jemand anders an der Tür. Entschuldigen Sie, bitte.“
„Ach so, na ja, macht nichts, Frau Lehmann. Ist Ihr Mann daheim?“ „Ja, klar, wie immer. Kommen Sie herein.“ Erwin Weisser tritt in das Haus und Frau Lehmann schließt die Tür schnell hinter ihm. Kurt Lehmann kommt schnell, um ihn zu begrüßen.
„Guten Abend, Herr Weisser. Kommen Sie ins Wohnzimmer.“ Erwin Weisser zieht seine Schuhe aus und folgt Herrn Lehmann ins Wohnzimmer. Sie setzen sich auf das Sofa und Frau Lehmann setzt sich in einen Sessel. „Wie geht es Andreas?“ fragt Frau Lehmann.
„Es geht ihm langsam besser, danke, aber er wird noch mehrere Wochen im Krankenhaus bleiben müssen. So eine schwere Verbrennung heilt nur langsam, wissen Sie.“ „Ein Unglück kommt selten allein“, sagte Herr Lehmann leise, aber Herr Weisser hörte es trotzdem. „Dann haben Sie schon von meinem Unfall gehört?“ fragte er.
„Unfall? Nein, noch nicht. Was ist ihnen passiert?“ fragte Herr Lehmann. Herr Weisser erzählt erst von seinem Unfall und dann vom weiteren Verlauf des Tages.
„… und als ich dann endlich im Büro angekommen bin, war es schon zehn Uhr. So spät bin ich noch nie zur Arbeit gekommen. Sie hätten mal meinen Chef sehen sollen. So in Rage wie der war, habe ich noch nie jemanden gesehen. Ich weiß, dass ich immer wieder zu spät in die Arbeit komme, aber dass er sich gleich so gehen lässt…“
„Was haben Sie dann gemacht?“ fragte Frau Lehmann. Sie arbeitete auch in einer Firma und war für das Personal zuständig. Mitarbeiter, die häufig zu spät kamen, nervten sie auch.
„Erst habe ich versucht mit ihm zu reden. Ich habe mich entschuldigt und von dem Unfall erzählt, aber das hat nicht geholfen. Im Gegenteil, als ich ihm gesagt habe, dass ich noch mit Sommerreifen gefahren bin, da ist er erst recht wütend geworden und hat mich beschimpft.
Das war mir dann auch zu viel. Ich habe die Papiere und Briefe von meinem Schreibtisch genommen und sie ihm an den Kopf geworfen. Dann habe ich ihm gesagt, dass er die Arbeit selber machen kann, und dass ich nicht mehr in die Firma zurückkehren werde.“ „Was haben Sie denn den Rest des Tages gemacht?“ fragte Herr Lehmann. „Es ist doch schon Abend.“
„Ich bin durch die Stadt gelaufen und habe nachgedacht.“ Er holte tief Luft. „Wissen Sie, ich war schon lange nicht mehr mit meiner Arbeit zufrieden und auch der Anfahrtsweg nervt mich. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich sie beneide, dass Sie zuhause arbeiten können, Herr Lehmann. Nun, wie dem auch sei, ein Wechsel ist genau das Richtige für mich und meine Familie. Mir ist schon vor geraumer Zeit eine Idee gekommen, aber ich hatte bisher nicht den Mut, sie zu verwirklichen.“
Herr und Frau Lehmann hörten ihm mit Interesse zu, als es wieder an der Tür klingelte. Helga Lehmann erinnerte sich gleich an die kaputte Vase und lief wütend zur Tür, aber als sie öffnete, stand da nur ihr Sohn Florian. „Warum klingelst du denn, Florian?“ „Ich habe meinen Schlüssel zuhause vergessen.“
„Na, dann komm mal rein. Wir sprechen gerade mit Herrn Weisser im Wohnzimmer.“ Frau Lehman geht zurück ins Wohnzimmer, während Florian seine Winterkleider auszieht. Dann geht er auch ins Wohnzimmer. „Jetzt bin ich aber doch sehr interessiert, was Ihre Idee ist“, sagte Frau Lehmann, nachdem sie sich gesetzt hatte.
„Nun, kurz und bündig, ich habe mich entschlossen auszuwandern, und zwar nach Namibia.“ Herr und Frau Lehmann sahen ihn entgeistert an. „Namibia?“ sagte Herr Lehmann. „Das ist doch in Afrika. Was wollen Sie denn da unten?“
Herr Weisser lachte kurz. „Ich sehe schon, Sie halten mich für verrückt, aber die Sache ist nicht so abwegig, wie Sie meinen.“ Er erzählte von Namibia und was er dort machen wollte, während Herr und Frau Lehmann und auch Florian ihm mit großem Interesse zuhörten.
Schließlich sagte Herr Weisser: „Aber wissen Sie, Frau Lehmann, eines wollte ich Sie schon die ganze Zeit fragen. Warum springen Sie jedes Mal so wütend auf und rennen zur Tür, wenn es klingelt?“
Erst erzählte Herr Lehmann von dem Schneeballangriff am Nachmittag, und wie die kostbare Vase kaputtgegangen war. Dann erzählte Frau Lehmann, die alte Geschichte von ihrer Großmutter. Als sie fertig war, brach Florian plötzlich in Tränen aus und warf sich seiner Mutter in die Arme.
„Ich war's Mama. Ich war's mit Peter. Wir wollten Papa doch nur einen kleinen Streich spielen, weil wir so glücklich waren, dass es geschneit hat. Bitte vergib mir, Mama. Ich wollte dir nicht weh tun.“ Und so kam es, dass der erste Schnee mehr als nur ein Unglück mit sich brachte.