Kalt wie ein Fisch
Faule Fische stinken, stumme Fische reden nicht und kalte Fische sind emotionslos – besonders geschätzte Eigenschaften in der Welt von Kriminalgeschichten. Dort, wo man auch nicht gern im Trüben fischt.
Kommissar Johnsons Hand zitterte leicht, als er sich eine Zigarette anzündete. Die Rauchschwaden waberten zur Decke und vermischten sich mit dem Rauch der anderen Gäste. Ruhig ließ er seinen Blick durch den Raum streifen. Drei ältere Herren saßen in einer Ecke und spielten Karten, ein Mann bestellte einen Wein für seine deutlich jüngere Begleitung. An der Theke guckte ein Mann mit zerzausten Haaren und seinen glasigen Fischaugen in sein Bierglas, so als würde er bis zum Meeresgrund blicken. Die wenigen Zeugen sollten kein Problem darstellen.
Johnsons Blick wanderte zum Eingang zurück. „Wo bleibt sie bloß?“, dachte er bei sich. Wenn er nicht in einer so verzweifelten Lage wäre, hätte er es nie zugelassen, dass ihn jemand so zappeln ließ. Mit zielgerichteten Schritten ging er auf die Bar zu und bestellte einen Backfisch mit Pommes. Man sollte niemals hungrig in so eine ‚Verhandlung‘ gehen. Der Barkeeper schob ihm, leicht grinsend, seine Bestellung rüber: „Kann ich Ihnen noch was dazu anbieten? Ein Bier, einen Wein oder was Stärkeres? Der Fisch muss schließlich schwimmen!“ Stumm schüttelte Johnson den Kopf. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern und polierte weiter die Gläser.
Als Johnson aufgegessen hatte, wischte er sich den Mund am Ärmel ab und wandte sich wieder dem Eingang zu. Direkt vor der Tür stand eine bucklige Gestalt in einem grauen Anzug, die ihn mit durchdringendem Blick anstarrte. Er nickte dem Mann zu und deutete zur Tür. Der Mann verschwand. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte er wieder auf und führte eine junge Frau hinein. Sie trug einen schwarzen Anzug und hatte ihre Haare hochgesteckt. Ein dunkler Hut warf einen Schatten über ihr Gesicht, aber ihre Augen strahlten trotzdem blau unter der Krempe hervor.
Johnson ging auf sie zu, begrüßte sie und bot ihr einen Platz an. Als er wieder aufguckte, um ihren Begleiter zu begrüßen, war dieser bereits hinter der Tür verschwunden. Die Blicke der anderen Gäste ruhten nun für einen kurzen Moment auf ihm und der etwas ungewöhnlichen Dame. „Mussten Sie so einen Auftritt hinlegen, Fräulein Beck?“, murmelte Johnson ihr zu. „Wie sonst hätte ich denn Ihrer Meinung nach hier erscheinen sollte?“, erwiderte sie mit einem süffisanten Lächeln.
Fräulein Beck setzte sich, schlug ihre Beine übereinander und steckte sich ein Zigarillo an. Stille breitete sich aus. Belustigt schaute sie den Kommissar an: „Kennen Sie die Geschichte von Andromeda, Perseus und dem Seeungeheuer Keto? …“ Johnsons völlig verwirrten Blick missachtend fuhr sie fort: „Andromedas Mutter, Kassiopeia, die Königin von Äthiopien, war sehr schön. Sie behauptete, schöner zu sein als die Wassernymphen, die der Wassergott Poseidon erschaffen hatte. Dieser fand den Vergleich alles andere als zutreffend und schickte das Seemonster Keto, um ganz Äthiopien zu verwüsten. Um das zu verhindern, sollte ein Opfer gebracht werden. So wurde Kassiopeias Tochter Andromeda an einen Felsen gebunden, um dem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen zu werden. Dort sah sie Perseus, der Sohn des Göttervaters Zeus. Er besiegte das Ungeheuer und befreite Andromeda, allerdings mit Hilfe des Götterboten Hermes. Am Ende lebten alle glücklich und zufrieden. Außer Keto natürlich …“ Ihre Stimme verlor sich nachdenklich im Nichts. Sie schien noch völlig in der Geschichte versunken zu sein.
„Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte der Kommissar völlig verständnislos. Ruckartig richtete sich Fräulein Beck wieder auf. „Dass das Sprichwort ‚Die großen Fische fressen die kleinen‘ nur die halbe Geschichte erzählt. Eigentlich sollte es ergänzt werden um ‚und viele kleine Fische fressen die großen‘!“
Johnson runzelte die Stirn „Und wie hängt das mit unserer Unterhaltung zusammen?“
„Sie sind Keto, ich bin Perseus. Sie sind größer und stärker als ich. Doch ich bin mit Hermes, Andromeda und Kassiopeia verbündet UND mein zukünftiges Königreich steht auf dem Spiel. Also tun Sie nichts Unüberlegtes!“ Sie nutzte seine Nervosität schamlos aus. Johnson war noch nie einem so kalten Fisch begegnet.
Fräulein Beck sprach weiter: „Aber um zum Thema zu kommen: Warum will ausgerechnet ein Kommissar mich an Bord holen?“ Sie hob eine Augenbraue. Trotz ihrer Selbstsicherheit war sich Johnson sicher, dass sie im Trüben fischte. Doch er wusste auch, dass er mit ihr einen großen Fisch an der Angel hatte und sie ködern konnte. Er musste es nur richtig anstellen.
„Wir haben einen dicken Fisch geschnappt“, sagte er herausfordernd „Und …?“, entgegnete sie gleichgültig. Johnson machte bewusst eine lange Pause, zündete sich eine neue Zigarette an, inhalierte den Rauch in aller Ruhe und ließ die Asche in den Aschenbecher rieseln. Dabei schlug ihm sein Herz eigentlich bis zum Hals.
Mit gespielt ruhiger Stimme sprach er weiter: „Der Verbrecher, den wir gefangen haben, ist einer Ihrer engsten Vertrauten. Er hat sich auf einen Deal eingelassen, um nicht ins Gefängnis zu wandern. Der Deal: Er kommt wieder auf freien Fuß, arbeitet weiterhin für Sie, berichtet aber in regelmäßigen Abständen der Polizei über die neuesten Entwicklungen in Ihrem Kartell. Ich könnte Ihnen seinen Namen verraten, aber dafür bräuchte ich ein – wie soll ich's sagen ... – er untermalte seine Worte mit einer dramatischen Geste – … ein Zeichen des Entgegenkommens.“
Fräulein Beck lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihr amüsiertes Lächeln schien auf ihrem Gesicht wie festgefroren, während sie in Johnsons Pokergesicht blickte. „Wieso sollte ich jemandem wie Ihnen, der sich fühlt wie ein Fisch auf dem Trockenen, glauben?“
Aus ihren Augen sprach pure Verachtung. „Es sind doch bestimmt Spielschulden, nicht wahr?! Bei Männern wie Ihnen sind es immer Spielschulden! Was lässt Sie glauben, dass Sie der erste Polizist sind, der mir die Namen von Verrätern gegen ein ‚kleines Entgegenkommen‘ anbietet? Es ist doch immer das Gleiche: Sie meinen, mir einen großen Fisch zu geben, dabei ist es nur ein kleiner. Sie …“ „Das ist kein kleiner Fisch!“, fiel er ihr ins Wort. „Dann werden Sie konkreter! Bisher ist das, was Sie mir anbieten weder Fisch noch Fleisch!“
Der Kommissar sprach rasch weiter: „Ich nenne Ihnen den Namen, wenn Ihre Gefolgsleute aufhören, Drogen jedweder Art an ein junges Mädchen zu verkaufen. Ihr Name ist Marianne, sie ist klein, zierlich, 16 Jahre alt, hat braune Haare und dunkle Augen.“ Er reichte ihr ein Foto. Fräulein Becks Gesicht zeigte keinerlei Regung. Johnson fuhr fort: „Ihr ‚Verkäufer‘ nennt sich ‚Tiger‘ und steht immer an der großen Kreuzung hier die Straße weiter runter. Aber ich verlange nicht nur, dass ER aufhört, an Marianne Drogen zu verkaufen. Ich verlange, dass ALLE von Ihren Handlangern ihr den Hahn zudrehen.“
„Die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrer Tochter ist frappierend, Kommissar!“, entgegnete Fräulein Beck kühl. „Sie wissen doch sicherlich, dass übermäßiger Drogenkonsum lediglich Symptom eines viel größeren Problems ist?!! Der Fisch fängt bekanntlich vom Kopf her an zu stinken. Was auch immer mit Ihrer kleinen Prinzessin los ist … Suchen Sie die Ursache mal zuallererst bei sich selbst. Und wenn ich zustimme – und das, wohlbemerkt, habe ich noch nicht! – wie, denken Sie, soll ich sicherstellen, dass meine Leute meiner Order auch folgen? Ich bin nicht überall.“
„Ich weiß, dass sie die Augen nicht überall haben können!“, erwiderte Johnson nach einer Denkpause. „Doch wenn SIE Ihren Drogendealern einen Befehl geben, wird der befolgt. Das weiß ICH aus erster Hand. Und selbst auf die Gefahr hin, dass einer aus der Reihe tanzt und Marianne trotzdem Drogen verkauft: Ich bin bereit, das Risiko einzugehen und Ihnen trotzdem den Namen des Mannes anzubieten, der Sie ans Messer liefern soll. Und ja, alles nur, um meine Tochter eines Tages munter wie ein Fisch im Wasser zu sehen!! !“
Fräulein Beck nickte. „Okay! Ich verlange diesen Namen … und die Namen aller zukünftigen Spione und verdeckten Ermittler, die Sie rekrutieren!“ Mit verächtlichem Blick auf ihn herabblickend stand sie auf und fuhr fort: „Und … SIE spionieren von nun an für mich!“ Johnson erhob sich, strich nervös sein Hemd glatt und ergriff ihre ausgestreckte Hand. Alle Nervosität war umsonst gewesen! Er konnte nicht glauben, dass der Fisch angebissen hatte!
„So, und jetzt, wo sie mich erfolgreich an Bord geholt haben, würde ich gerne wissen, wer der Verräter in meinen Reihen ist“, sagte sie mit einem frostigen Lächeln. Der Kommissar flüsterte ihr den Namen ins Ohr. Fräulein Becks Lächeln blieb frostig. Sie klatschte in die Hände. Einen kurzen Augenblick später erschien ihr Begleiter. Seite an Seite verließen beide das Lokal.
Johnson fiel kraftlos, aber erleichtert auf seinen Stuhl. Die letzten Minuten hatten ihm Jahre seiner Lebenskraft geraubt. Plötzlich übertönte ein ohrenbetäubender Knall das Gemurmel in der Bar. Die Luft roch nach Metall. Der Barkeeper eilte nach draußen. Durch die offene Tür sah Johnson Fräulein Becks Begleiter auf dem Boden liegen. Seine reglosen Augen starrten durch ihn hindurch ins Nichts. Stumm wie ein Fisch. Ein toter. Johnsons Blick fiel auf den Platz an der Theke, wo der „Fischaugen“-Mann gesessen hatte. Er war leer.