Neue Player in Afrika – Die Interessen der Türkei und Russlands
MANUSKRIPT
Atmo:
Video türkische Armee
Sprecherin: Ahmed sitzt vor dem Computer eines Reisebüros in Mogadischu, der Hauptstadt des ostafrikanischen Somalia. Normalerweise bucht er über diesen Rechner die Flüge der Reisewilligen, aber Anfang 2021 hat er wegen der Corona-Pandemie nur wenig zu tun. Also nutzt er die freie Arbeitszeit, um Türkisch zu lernen – inzwischen versteht er sogar schon einige Filmdialoge.
O-Ton Angestellter Reisebüro: We are looking these movies of the Turkish Army. Sometimes we'll look in this video, and sometimes we look in the lessons of Turkish language. Übersetzer: Wir gucken oft diese türkischen Armee-Filme. Oder wir machen einen Online- Türkisch-Kurs.
Atmo: Film
O-Ton Angestellter Reisebüro: Angestellter Reisebüro
Übersetzer: Wir haben sehr viele türkische Kunden, es gibt Direktflüge von Turkish Airlines. Das Verhältnis zwischen der somalischen und der türkischen Regierung ist gut, deshalb haben wir hier viele türkische Einrichtungen. Unter anderem ein großes Militärcamp. Die türkische Sprache ist wichtig geworden. Immer mehr Somalier wollen sie lernen, denn sie eröffnet viele Möglichkeiten.
Sprecherin: Englisch, Französisch und die Sprachen der anderen europäischen Kolonialmächte reichen für Afrikas inzwischen vielfältige internationale Beziehungen schon längst nicht mehr aus. Neben China haben vor allem die Türkei und Russland inzwischen enge Beziehungen zu etlichen afrikanischen Ländern.
Ansage: Neue Player in Afrika – Die Interessen der Türkei und Russlands. Von Bettina Rühl und Gesine Dornblüth.
Sprecherin: Für die Türkei ist Somalia der mit Abstand wichtigste Partner in Afrika. Das Land am strategisch günstigen Horn im Osten des Kontinents hat nach dem Zusammenbruch aller staatlichen Strukturen 1991 an praktisch allem Bedarf. Regierung und Armee
sind erst im Wiederaufbau, die islamistische Shabaab-Miliz und ihre Terroranschläge eine tägliche Gefahr.
Atmo: Hintergrund Reisebüro
Sprecherin: In der Hauptstadt Mogadischu hat der Besitzer des Reisebüros, in dem Ahmed arbeitet, nichts dagegen, dass seine beiden Angestellten während der Arbeitszeit die türkische Serie „Savaşçı„gucken, auf Deutsch: Krieger. Mohamed Abdullah schätzt, dass zwei Drittel der Flüge, die er verkauft, in die Türkei gehen. Meist ist er neugierig, was seine somalischen Kunden dort vorhaben, und fragt sie danach.
O-Ton Mohamed Abdulla, darüber Übersetzer: Die meisten studieren dort oder machen eine Weiterbildung. Einige reisen aus geschäftlichen Gründen. Und ein paar Touristen gibt es auch. In den vergangenen Jahren ist das Verhältnis zwischen der Türkei und Somalia immer enger geworden. Für mein Geschäft war das ausgesprochen gut.
Sprecherin: Für das türkisch-somalische Verhältnis war 2011 ein wichtiger Wendepunkt.
Atmo: Essensverteilung 2011
Sprecherin: Sommer 2011: Frauen und Kinder drängeln sich um große Töpfe mit dampfendem Hirsebrei und einer roten Soße. Andere Flüchtlinge sind mit Plastiktüten oder Bechern gekommen, um etwas von der wertvollen Nahrung mitnehmen zu können. Zu dieser Zeit sind in Ostafrika 12 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Die Bevölkerung in Somalia ist besonders betroffen. Dort werden die Folgen einer extremen Dürre durch jahrzehntelange Konflikte verstärkt. Im August 2011 sind bereits Zehntausende gestorben. Weil die Al-Qiada-nahe Shabaab-Miliz Mogadischu und den Rest Somalias zu weiten Teilen beherrscht, wagen sich kaum Ausländer ins Land. Die westliche und internationale Nothilfe wird vom benachbarten Kenia aus organisiert.
Atmo: Ankunft Erdoğan, Militärmarsch
Sprecherin: Anders der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan: Er fliegt direkt nach Somalia und landet am 19. August 2011 zusammen mit seiner Frau und fünf Ministern in der umkämpften Hauptstadt Mogadischu. Ein Somalier filmte den offiziellen Empfang am Flughafen und lud das Video anschließend auf Youtube hoch.
Wenige Tage zuvor hatten die Türkei und einige andere islamische Staaten 240 Millionen Euro an Soforthilfe angekündigt. Die Türkei wolle ihre Glaubensbrüder und
-schwestern nicht alleine lassen, betonte Erdoğan: in Somalia und der Türkei leben fast ausschließlich Muslime. Und das war nur der Anfang, sagt der somalische Politikwissenschaftler Hassan Sheikh Ali.
O-Ton Hassan Sheikh Ali, darüber Übersetzer: Nachdem die Hungerkrise vorbei, war begann die Türkei damit, die kriegszerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. Darunter den Flughafen und den Hafen, außerdem die wichtigsten Straßen. Sie unterstützen auch viele nationale Institutionen. Für die somalische Bevölkerung ist das von großem Vorteil.
Sprecherin: 2016 eröffnete die Türkei ihre weltweit größte Botschaft in Mogadischu – und zwar in der Nähe der Altstadt, während sich westliche Diplomaten und die Vereinten Nationen weiterhin in einer Hochsicherheitszone neben dem Flughafen verschanzen, um im Krisenfall möglichst schnell evakuieren zu können.
O-Ton Hassan Sheikh Ali, darüber Übersetzer: Außerdem trainiert die Türkei eine große Zahl von Soldaten der somalischen Armee. Entweder in der Türkei oder in ihrem neuen Militärcamp hier in Somalia.
Sprecherin: Das sogenannte „Camp Turksom“ wurde im September 2017 eröffnet, es ist die größte türkische Militärbasis außerhalb der Türkei. Der Bau der Basis hat nach Schätzungen 50 Millionen US-Dollar gekostet, die Anlage ist etwa vier Quadratkilometer groß. Das Ziel: ein Drittel der somalischen Streitkräfte hier zu schulen, bis zu 16.000 Soldaten. In der Türkei wird außerdem eine Eliteeinheit trainiert.
O-Ton Hassan Sheikh Ali, darüber Übersetzer: Was die Türkei in Somalia leistet, können die Somalier sehen, beispielsweise die Infrastruktur. Dabei haben uns die Europäer als erste unterstützt, aber die Bevölkerung sieht nichts davon.
Sprecherin: Beispiel Sicherheit:
Atmo: Türkei-Russland-Afrika EUTM Somalia exerzieren
Sprecherin: Somalische Soldaten exerzieren unter den Augen der Europäer. Die Europäische Union hat ihre militärische Ausbildungs- und Trainingsmission EUTM Somalia schon 2010 begonnen, sie dauert bis heute an. Außerdem finanziert die EU die afrikanische Stabilisierungsmission in Somalia namens AMISOM. Hussein Sheikh Ali leitet den Think Tank „Hiraal Institute“ in Mogadischu.
O-Ton Hassan Sheikh Ali, darüber Übersetzer:
In meiner Wahrnehmung engagiert sich die Türkei in Somalia wie kein anderes Land. Und deshalb hat sie hier einen guten Ruf. Die Türkei macht das sehr geschickt.
Dabei wissen ich und alle anderen, die informiert sind, dass die Türken nur einen Bruchteil des Geldes zahlen, das beispielsweise Europa für die Unterstützung Somalias zahlt. Aber sie machen das schlau und ein bisschen aggressiv.
Sprecherin: Somalia ist zwar der wichtigste afrikanische Partner der Türkei, aber es gibt viele andere: Äthiopien und Kenia in direkter Nachbarschaft, Senegal im äußersten Westen, Südafrika, Ghana oder die Demokratische Republik Kongo. In all diesen Ländern sind türkische Unternehmen und Berater deutlich präsent. Welche Ziele genau die Türkei in Somalia verfolgt, ist trotz wochenlanger Nachfrage an verschiedenen Stellen von keinem Vertreter des türkischen Staates oder türkischer Institutionen in Mogadischu zu erfahren. Nicht einmal die Organisation der türkischen Entwicklungszusammenarbeit TIKA ist zu einem Interview bereit. Dabei werden die humanitären Projekte von der Bevölkerung hochgeschätzt. Die Strategie hinter dem Engagement der Türkei in Somalia und im Rest des Kontinents erschließt sich aus Reden von Präsident Erdoğan und Veröffentlichungen der türkischen Regierung.
Daraus wird klar: Ankara will seine Wirtschaft diversifizieren, will weg von der Konzentration auf den Nahen Osten und Europa, will neue Partnerschaften in Afrika erschließen. Und das auf allen Ebenen: der humanitären Hilfe, der Wirtschaft, der militärischen Kooperation. Immer wieder betont die Türkei, dass sie anders als Europa keine koloniale Vergangenheit hat. Und dass sie eine Win-Win-Situation zwischen den Partnern anstrebt – eine Terminologie ganz ähnlich der Chinas.
Federico Donelli lehrt Geschichte und Politik des Nahen Ostens an der Universität Genua. Er sieht den Versuch der Türkei, in Afrika Fuß zu fassen, als Ergebnis einer längeren Entwicklung.
O-Ton Frederico Donelli, darüber Übersetzer: Die Wahrnehmung Afrikas, vor allem der Staaten südlich der Sahara, hat sich allmählich geändert. Anfangs galt Subsahara-Afrika als eine rückständige Region, ohne internationale Beziehungen und ohne Möglichkeiten.
Sprecher: Mittlerweile wird Afrika als „Chancenkontinent“ gesehen. Das schlägt sich in den Zahlen nieder: Im Jahr 2002 betrug das Handelsvolumen der Türkei mit Afrika rund 5,5 Milliarden Dollar. Bis 2019, dem Jahr vor der Corona-Pandemie hat es sich verfünffacht. Aus Erdoğans Sicht ist diese rasante Entwicklung erst der Anfang. Sein Ziel: Eine Verdopplung des Handelsvolumens bis 2025 auf rund 50 Milliarden Dollar. Die Handelsoffensive begleitet die Türkei mit einem Ausbau ihres diplomatischen Netzes: Die Zahl ihrer Botschaften hat sich in den vergangenen Jahren auf 44 mehr als verdreifacht.
Sich selbst stellt die Türkei gegenüber den Afrikanern als eine brüderliche Alternative zu den europäischen Mächten dar, die Afrika kolonialisiert haben. Tatsächlich ist auch die Geschichte der Türkei geprägt von Machtpolitik und Eroberung. Und daran
wolle Erdoğan anschließen, meint Annette Weber von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie forscht zum Horn von Afrika und dem Nahen Osten.
O-Ton Annette Weber: Für die Türkei war wichtig, quasi außerhalb ihres Wirkungskreises seit Erdoğan quasi so ein Empire wieder aufzubauen. Also das Wiedererstarken eines osmanischen Empires, das weit über die begrenzten Wirkungskreise, die direkt quasi neben der Türkei liegen, hinausreichen.
Sprecherin: Weber ist allerdings davon überzeugt, dass es Ankara nicht allein um die Ausweitung des eigenen Machtgebietes geht, sondern tatsächlich auch um humanitäre Hilfe und Zusammenarbeit. In Somalia sei das wegen des gemeinsamen Glaubens besonders ausgeprägt. Dass Wirtschaftsinteressen dabei auch eine Rolle spielen, liegt auf der Hand.
O-Ton Annette Weber: Das sehen wir auch daran, dass zum Beispiel im Bausektor die Türkei ja auch außerhalb Somalias am Horn schon sehr viel länger aktiv ist: in Äthiopien zum Beispiel sehr viel türkische Bauunternehmen aktiv sind.
Sprecherin: Das Horn von Afrika ist militärisch und wirtschaftlich auch für andere Mächte eine äußerst interessante Region. Gemeint ist der östlichste Teil des Kontinents, der keilförmig in den Indischen Ozean ragt und an seiner Nordseite den Golf von Aden einschließt. Der wiederum liegt zwischen Afrika und der arabischen Halbinsel, geht erst in das Rote Meer und dann in den Suezkanal über. Durch den trichterförmigen Meeresgolf läuft der gesamte Warenaustausch zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien.
O-Ton Annette Weber: Das ist natürlich insgesamt ganz spannend, dass wir schon sehen, dass das Rote Meer einfach zunehmend wieder zu so einem geopolitischen Schauplatz wird, wo sich alle möglichen irgendwie Pfründe sichern wollen, Zugangswege sichern wollen.
Sprecherin: Das gilt besonders für den Zwergstaat Dschibuti, er liegt zwischen Eritrea, Äthiopien und Somalia ebenfalls am Golf von Aden. Er hat gerade mal eine Million Einwohner. Doch wegen der strategisch günstigen Lage buhlen die Großmächte um das kleine Land: Die USA, China, Frankreich und Japan haben hier Militärbasen. Im Rahmen der EU-Mission Atalanta zum Kampf gegen Piraterie ist auch die Bundeswehr in Dschibuti präsent. Etwas nördlich von Dschibuti wiederum ist am Roten Meer ein weiterer Akteur auf den Plan getreten: Russland.
Atmo: Raketenstart
Sprecherin: Die Wochensendung „Westi Nedeli“ im russischen Staatsfernsehen Ende 2020. Der Moderator, einer der Chefpropagandisten des Kreml, berichtet von neuen russischen Waffen. Dann folgt eine Reportage aus Afrika, von der Küste des Roten Meeres. Im Dezember hat Präsident Wladimir Putin ein Abkommen mit dem Sudan unterzeichnet, das Russland dort den Bau eines Marinestützpunktes erlaubt.
O-Ton Reporter, darüber Übersetzer: Unser Kamerateam ist das erste und bisher einzige, dem die lokalen Behörden genehmigt haben, hier zu drehen. Hier wird das russische Militärobjekt entstehen. Bis nach Saudi Arabien sind es keine 300 Kilometer. Wir sind im Zentrum des Roten Meeres zwischen dem Golf von Aden im Süden und dem Suez-Kanal im Norden. Es wird das erste neue Militärobjekt in Afrika in der Geschichte des modernen Russland. Die Sowjetunion hatte zwei Stützpunkte im Roten Meer: im Jemen und in Äthiopien. Und auch der Sudan zählte zum Gebiet besonderer sowjetischer Interessen.
Sprecherin: Russland versucht, an die sowjetische Vergangenheit anzuknüpfen, auch geopolitisch. Der Marinestützpunkt im Sudan diene dem Frieden und der Stabilität in der Region und sei nicht gegen andere Staaten gerichtet, heißt es aus dem russischen Verteidigungsministerium. Bis zu vier Kriegsschiffe und 300 Mann sollen dort stationiert werden. Im Herbst hatte Russland bereits ein Militärbüro in der Zentralafrikanischen Republik eröffnet. Inoffiziell sind russische Soldaten aber schon länger dort.
Atmo: Appell Ausschnitt Reportage
Sprecherin: Ein Ausbildungscamp in der Zentralafrikanischen Republik. Afrikanische Soldatinnen und Soldaten treten in Reihen an. Die Einheiten tragen Tiernamen, hier zum Beispiel
„Tiger“. Ruft der Ausbilder den Namen der Einheit auf, antworten die Soldaten mit Tigergefauche. Es sind Bilder des russischen Senders Rossija 1 aus dem Herbst 2019. Die Ausbilder sprechen russisch. Viele von ihnen haben ihre Gesichter verhüllt und wollen anonym bleiben. Der Reporter erklärt, warum.
O-Ton Reporter TV-Reportage, darüber Übersetzer: Sie sagen, sie wollten ihre Verwandten nicht beunruhigen, die zum Teil nicht einmal wüssten, wohin es ihre Ehemänner, Söhne und Väter verschlagen habe.
Sprecherin: Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Männer gehören mit großer Wahrscheinlichkeit zur sogenannten „Gruppe Wagner“. Sie sind Söldner. Die darf es offiziell gar nicht geben, denn russische Gesetze verbieten den Einsatz von Söldnern im Ausland.
Mitglieder der Privatarmee kämpften trotzdem zunächst in der Ostukraine an der Seite der sogenannten Separatisten, ab 2015 unterstützten sie – ganz im Sinne der russischen Regierung – die Armee von Staatschef Baschar al-Assads in Syrien.
Wenig später tauchten sie auch in Afrika auf, berichtet Ruslan Lewijew vom internationalen Recherchenetzwerk „Conflict Intelligence Team“.
O-Ton Ruslan Lewijew, darüber Übersetzer: Wir gehen davon aus, dass die Zentralafrikanische Republik der erste Einsatzort der russischen Söldner in Afrika war. Dann kamen der Sudan, Südsudan und andere Staaten dazu. Der Sudan dient als eine Art Logistik-Knotenpunkt für das russische Militär. Wenn Technik oder Personal nach Libyen oder in die Zentralafrikanische Republik gebracht werden müssen, geschieht das oft über den Flugplatz Khartum.
Sprecherin: Weil es sie offiziell gar nicht geben darf, bestätigt keine offizielle staatliche russische Stelle die Aktivitäten der Gruppe Wagner im Ausland. Doch Hinweise auf ihre Tätigkeit finden sich sogar in der Reportage des russischen Staatsfernsehens aus dem Ausbildungslager in der Zentralafrikanischen Republik. Die Kamera zeigt einen Aushang: „Zehn Gebote eines Kämpfers“. Gebot Nummer 1 lautet: „Verteidige die Interessen Russlands immer und überall.“ Unter den Buchstaben schimmert das Wasserzeichen der „Gruppe Wagner“ hindurch, wie auf offiziellem Briefpapier.
UN-Experten berichten ebenfalls über den Einsatz der Wagner-Gruppe und anderer privater russischer Militärunternehmen in der Zentralafrikanischen Republik. Die UN- Arbeitsgruppe über den Einsatz von Söldnern erklärte Ende März 2021, sie sei alarmiert über die zunehmende Rekrutierung vor allem russischer Söldner in dem Krisenstaat. In einer UN-Mitteilung heißt es, die-Experten seien:
Zitat: Zutiefst beunruhigt über die miteinander verbundenen Funktionen des russischen Sewa-Sicherheitsunternehmens, der russischen Lobaye Invest und einer russischen Organisation, die allgemein unter dem Namen „Wagner-Gruppe bekannt ist. Die Experten erhalten fortlaufend Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des Kriegsvölkerrechts. Massenhinrichtungen, willkürliche Verhaftungen, Folter während Verhören, das Verschwinden-Lassen von Zivilpersonen, willkürliche Angriffe auf zivile Einrichtungen, Verletzungen des Rechtes auf Gesundheit und eine steigende Zahl von Angriffen auf humanitäre Helferinnen und Helfer.
Sprecherin: Schauplatzwechsel, hin zu einem anderen Land, das im Fokus des internationalen Interesses steht: Libyen. Dass dort Angehörige der Gruppe Wagner kämpfen, gilt als gesichert. Russland unterstützt General Chalifa Haftar gegen die international anerkannte Regierung in Tripolis. Bei einem Besuch Haftars in Moskau wurde in einem Video festgehalten, wie er mit Russlands Verteidigungsminister und dem mutmaßlichen Finanzier der Wagner-Truppe, dem St. Petersburger Geschäftsmann Jewgenij Prigoschin, an einem Tisch sitzt. Präsident Wladimir Putin streitet die Anwesenheit russischer Kämpfer in Libyen auch nur halbherzig ab.
O-Ton Wladimir Putin, darüber Übersetzer: Selbst wenn es dort russische Staatsbürger gibt, dann vertreten sie nicht die Interessen Russlands und bekommen kein Geld vom russischen Staat.
Sprecherin:
Das würde auf die Wagner-Truppe passen: denn offiziell handeln deren Kämpfer nicht im Auftrag der Regierung. Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält Putins Aussage für einigermaßen glaubhaft. Lacher forscht zur afrikanischen Sahelzone und Libyen.
O-Ton Wolfram Lacher: Die Söldner, die Wagner dort stationiert hat, werden wahrscheinlich oder wurden zumindest eine zeitlang von den Emiratis bezahlt. Und das ist also etwas völlig anderes als eine offizielle Intervention des Militärs, die dann auch das Leben von Soldaten aufs Spiel setzt und die weitaus kostspieliger ist.
Sprecherin: Seiner Überzeugung nach hat Russland nicht so handfeste Interessen in Libyen, dass eine massive Intervention gerechtfertigt sei. Er nennt das russische Engagement dort „eine opportunistische und auch billige Intervention“:
O-Ton Wolfram Lacher: Ich glaube, es geht vor allem darum, ein Player zu sein. Die Gelegenheit hat sich geboten, dort mit sehr wenig Einsatz sehr viel, sehr viel Einfluss auszuüben. Und ich glaube, genau darum geht es auch: Veto-Player zu sein ist, also auch ein Wort mitzureden zu haben bei der Lösung der Konflikte und bei einem Friedensschluss letztendlich.
Sprecherin: In Libyen stoßen türkische und russische Interessen aufeinander. Auch die Türkei hat ungewöhnlich stark in den Libyen-Konflikt eingegriffen, aber auf der Gegenseite, nämlich zugunsten der international anerkannten Regierung im Westen des Landes. Die Türkei hat das Kriegsgeschehen 2020 überraschend zugunsten der Regierung entschieden, die auch von den Vereinten Nationen unterstützt wird. Unter anderem durch die Lieferung von militärischer Ausrüstung, trotz eines UN-Waffenembargos.
Und den Einsatz syrischer Söldner. Der Türkei ging es nicht zuletzt darum, die mit Russland verbündeten Mächte Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate zurückzudrängen. Und den eigenen Einfluss im östlichen Mittelmeer abzusichern, auch wegen der dortigen Gasvorkommen.
In Libyen findet also ein Stellvertreterkrieg zwischen der Türkei und Russland statt – neben anderen Akteuren. Welche Strategie Russland in Afrika insgesamt verfolge, sei noch nicht klar, meint der Konfliktforscher Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn.
O-Ton Andreas Heinemann-Grüner: Sie reden viel von strategischen Interessen, aber bisher haben sie meines Erachtens keine Strategie.
Sprecherin: Das mag einer der Gründe sein, weshalb die Suche nach einem Interviewpartner in Russland ins Leere lief. Einige Afrika-Experten sagten ohne Angabe von Gründen ab, andere fühlten sich nicht kompetent. Heinemann-Grüder sagt, Russland habe
geopolitische, militärische und wirtschaftliche Interessen auf dem afrikanischen Kontinent.
O-Ton Andreas Heinemann-Grüner: Sie wollen die 25 Prozent der UN-Mitglieder, die aus Afrika kommen, natürlich auf ihre Seite ziehen, das ist bestimmt ein Ziel.
Sprecherin: Sich die Stimmen vieler Länder zu sichern, ist wichtig etwa bei Abstimmungen in UN- Gremien.
O-Ton Andreas Heinemann-Grüner: Sie sehen, dass da in Afrika auch Exportmärkte für ihre Waffen oder Atomwaffen sind, es wächst, aber es ist insgesamt natürlich noch auf einem extrem niedrigen Niveau, was da an Handelsvolumen zwischen Russland und Afrika besteht.
Sprecher: Im Jahr 2018 handelte Russland mit Afrika Güter und Dienstleistungen im Wert von insgesamt etwa 20 Milliarden Dollar. Afrikas Handelsvolumen mit China ist etwa zehn Mal so groß, das der Europäischen Union ebenfalls. Selbst die USA, deren Handelsinteresse an Afrika gering ist, liegen vor Russland, und ebenso die Türkei.
Doch Russland will aufholen und scheut weder Mühe noch Geld, um sich als neuen gewichtigen Partner Afrikas zu präsentieren.
O-Ton Wladimir Putin, darüber Übersetzer: Erlauben Sie mir, einen Toast auszusprechen auf den Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit für die Entwicklung einer vollwertigen, beiden Seiten nutzenden Zusammenarbeit, auf Wohlstand, eine friedliche Zukunft und ein Aufblühen unserer Länder und Völker. Vielen Dank, liebe Freunde, dass Sie heute hier sind, gemeinsam mit uns, in Russland, in Sotschi. Vielen Dank. (Applaus)
Sprecherin: Bei einem ersten Russland-Afrika-Gipfel im russischen Sotschi 2019 konnte Russlands Präsident Putin mehr als 40 afrikanische Staats- und Regierungschefs begrüßen. Laut russischen Zeitungsberichten war es eines der teuersten Gipfeltreffen, das Russland in den vergangenen zehn Jahren ausgerichtet hat.
Von ihm profitierte vor allem die russische Rüstungsindustrie. So wurden zahlreiche bilaterale Vereinbarungen über eine militärisch-technische Zusammenarbeit unterzeichnet, unter anderem über Waffenlieferungen im Wert von vier Milliarden US- Dollar, auch in Kriegs- und Krisengebiete Afrikas. Und es wurden Beraterverträge abgeschlossen, unter anderem von der „Internationalen Agentur für Souveräne Entwicklung“. Die wurde 2019 in Russland mit dem Ziel geschaffen, Regierungen von insbesondere afrikanischen Entwicklungsländern zu helfen.
Sprecherin: Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn vermutet, dass es dabei vor allem um kommerzielle Interessen geht.
O-Ton Andreas Heinemann-Grüner: Das ist eigentlich der Versuch, Staaten, die unter entweder Waffensanktionen oder unter Finanzsanktionen leiden, denen Dienste anzubieten, wie sie die Sanktionen durch die internationale Gemeinschaft umgehen können, das heißt, an Waffen rankommen oder an Kredite rankommen.
Sprecherin: Im Anschluss an den Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi hat Russland die Verbindungen nach Afrika weiter ausgebaut. Im März 2021 gab es eine Konferenz der Kreml-Partei Einiges Russland mit Vertretern verschiedener afrikanischer Parteien. Der Titel: ”Russland und Afrika: Die Wiedergeburt einer Tradition”.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow lobte die Beziehungen als ”allwettertauglich”.
Übersetzer: In den letzten Jahren hat sich die russisch-afrikanische Zusammenarbeit merklich aktiviert: Der politische Dialog wird tiefer, es entstehen Verbindungen zwischen den Parlamenten, die Zusammenarbeit von Ministerien und Behörden wächst, der wissenschaftliche und humanitäre Austausch steigt. Unsere Handelsverbindungen werden vielfältiger.
Sprecherin: Führend im Handel sind aber weiterhin Rüstungsexporte. Laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut Sipri ist Russland der größte Waffenlieferant für Afrika. In Zeiten der Corona-Pandemie hofft Russland außerdem, in Afrika mit seinem Corona- Impfstoff Sputnik V zu punkten.
Atmo: Werbevideo
Sprecherin: Bereits im August 2020 ließen die russischen Behörden den Impfstoff zu, als erstes Corona-Vakzin in der ganzen Welt. Ein Werbevideo des staatlichen Russian Direct Investment Fund zeigt, wie der Planet Erde ganz von dem stacheligen Virus umschlossen wird. Dann taucht ein Satellit mit den russischen Nationalfarben auf, Sputnik V. Schnell ist der Planet vom Virus befreit.
In Russland selbst genießt der russische Impfstoff ein vergleichsweise geringes Vertrauen. Und außerhalb Moskaus wird bisher nur wenig geimpft. Stattdessen bietet Russland Sputnik V weltweit an, auch in Afrika. Mit der Afrikanischen Union wurde die Lieferung von 300 Millionen Dosen vereinbart.
Irina Abramowa, Direktorin des Afrika-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, bezeichnet das russische Vakzin als ein "äußerst wichtiges strategisches Mittel, um die Position Russlands in Afrika zu stärken". Russische Medien zitieren sie mit den Worten:
Zitatorin: Indem Russland diesen Impfstoff in Afrika verbreitet, kehrt es zu der Rolle zurück, die seinerzeit die Sowjetunion gespielt hat, also der Rolle eines Landes, das den afrikanischen Staaten kolossale humanitäre Hilfe bereitstellt.
Sprecherin: Zugleich rechnet Abramowa diesen Medienberichten zufolge vor, dass Russland, wenn es den Impfstoff schnell weiterverbreite, 25 Milliarden Dollar im Jahr 2021 einnehmen könne. Geht es Russland bei Sputnik V also eher ums Geld als um humanitäre Hilfe? Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn ist sich sicher:
O-Ton Andreas Heinemann-Grüder: Gewiss geht‘s um Geld, denn auch in der Vergangenheit hat Russland sich ja, wenn man es als humanitären oder Entwicklungshelfer ansieht, vollkommen zurückgehalten. Also das ist im Verhältnis zu anderen Staaten, die da in Afrika humanitäre oder Entwicklungshilfe leisten, ist Russland marginal am Welternährungsprogramm beteiligt, das als humanitäre Hilfe zu verkaufen, ist PR. Natürlich sind sie da kommerziell unterwegs, weil sie haben sich auch sonst eigentlich in dem Bereich nie engagiert.
Sprecherin: Was die neuen Akteure Russland und Türkei langfristig für Afrika bedeuten, ist vorerst offen. Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik erweitert den Fokus über Russland und die Türkei hinaus.
O-Ton Wolfram Lacher: Ich glaube, dass wir im Allgemeinen auf dem Kontinent eben eine zunehmende Bandbreite von Akteuren haben, die intervenieren in Konflikten. Es sind eben nicht mehr die klassischen, sagen wir mal westlichen Mächte, die überall eine dominante Rolle spielen, sondern es ist eben eine zunehmende Bandbreite von Akteuren, ob es jetzt Russland, die Türkei, die Emirate oder andere sind. Und ich glaube, das ist schon eine neue Dynamik, die wir auch am Horn, auch in Zentralafrika und auch in Libyen sehen. Und je mehr externe Akteure auch Interesse haben daran, dass diese Konflikte nicht nachhaltig gelöst werden oder eben nur so gelöst werden, dass sie ihren Anteil bekommen, desto schwieriger ist die Lösung natürlich.
Sprecherin: Die Bedeutung Europas für Afrika hat in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Die ehemaligen Kolonien haben auch faktisch immer mehr emanzipiert. Und suchen sich nun weltweit die Partner aus, die ihnen die attraktivsten Angebote machen. Das gilt schon seit langem für China, zunehmend für Russland und die Türkei.