tagesthemen 27.01.2022, 22:15 Uhr - Gedenken im Bundestag: Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz
Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den tagesthemen.
Diese Sendung wurde vom NDR live untertitelt (27.01.2022)
Heute im Studio: Caren Miosga
Guten Abend.
Was hier so hässlich auf die Wand geschmiert ist,
sagt leider viel über das Deutschland der Gegenwart.
Darüber, dass Beleidigungen und Attacken auf Juden
immer mehr zunehmen.
Und darüber, warum es wichtig ist,
daran zu erinnern, was heute vor 77 Jahren geschah.
Am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz
mahnen und gedenken Politiker der Opfer des Nationalsozialismus.
Doch, um zu verstehen, was die Nazis den Menschen angetan haben,
braucht es die Stimmen derer, die diese Zeit überlebt haben.
Der Rücken spielt nicht mit.
Aber das konnte Inge Auerbacher nicht davon abhalten,
von New York nach Berlin zu reisen.
Den Toten, v.a. den toten Kindern eine Stimme zu geben,
gibt der 87-Jährigen Kraft.
Sieben ist sie, als sie mit den Eltern
ins KZ Theresienstadt deportiert wird.
Unser Spielplatz war ein faul riechender Abfallhaufen.
Hier wühlten wir stundenlang herum und hofften, einen Schatz zu finden.
Halb verfaulte Rüben und Kartoffelschalen,
bei denen man noch einen essbaren Schnitz abschneiden konnte.
Die Abgeordneten hören die Geschichte von Ruth,
dem kleinen Mädchen aus Berlin.
Ruth und ich waren wie Schwestern.
Wir versprachen, uns gegenseitig zu besuchen.
Sie nach Jebenhausen und ich nach Berlin.
Liebe Ruth,
ich bin hier in Berlin, um dich zu besuchen!
Ruth und ihre Eltern wurden ermordet in einer Gaskammer in Auschwitz.
Es bleibt das Grauen, das nicht vergeht.
Inge Auerbacher klingt nicht bitter,
aber das muss sie den Deutschen schon sagen:
Leider ist dieser Krebs wieder erwacht.
Judenhass ist in vielen Ländern, auch in Deutschland,
wieder alltäglich.
Wachsam und wehrhaft sein gegen aufkeimenden Judenhass,
niemals vergessen.
Darin erinnert auch Mickey Levy,
der Präsident des israelischen Parlaments.
Als er das Totengebet spricht, versagt ihm die Stimme.
An diesem Ort, wo die Menschheit die Grenzen des Bösen gedehnt habe,
muss das Erinnern besonders schmerzen.
Levy sucht Trost in der Umarmung
der Holocaustüberlebenden Inge Auerbacher.
Ihr gebührt das letzte Wort.
Ich schließe mit einem Herzenswunsch.
Menschenhass ist etwas Schreckliches.
Wir sind alle als Brüder und Schwestern geboren.
Mein innigster Wunsch ist die Versöhnung aller Menschen.
Sich versöhnen zu können,
heißt auch, zu wissen, was geschehen ist.
Doch es werden immer weniger, die davon erzählen können.
Deshalb machen sich Museen, Gedenkstätten, Stiftungen Gedanken,
wie wir diese Geschichten bewahren können.
Eine Idee:
Der Dialog mit dem Hologramm eines Holocaust-Überlebenden.
Was ist mit Ihrer Familie geschehen?
Leider hat von meinen engsten Angehörigen niemand überlebt.
Meine Eltern und meine Schwester, wurden an dem Tag ermordet,
an dem wir im KZ Majdanek ankamen.
Nach dem Krieg fand ich heraus:
Von den 150 Menschen aus meiner erweiterten Familie
haben vier Cousinen und Cousins überlebt.
Die Idee stammt aus den USA.
Wie die Jüngeren sich mit NS-Verbrechen auseinandersetzen
und welche Pläne es in Gedenkstätten gibt - Sebastian Grosser.
Es sind junge Menschen,
deren Fotos von einem unbeschwerten Leben erzählen.
Bevor sie Opfer des Nationalsozialismus wurden.
Junge Menschen wie die Berufsschüler aus dem nahen Schwandorf.
Das ist Teil meiner Geschichte, ob ich will oder nicht.
Ich muss mich damit auseinandersetzen.
Ich muss wissen, dass so was verhindert werden kann
und nie wieder passiert.
Das Interesse der Jugendlichen ist da.
Die Frage ist: Wie geht man mit der Neugierde um?
KZ-Gedenkstätten wie Flossenbürg müssen neue Wege ausprobieren.
Zumal bald keine Zeitzeugen mehr leben.
Ehemalige Häftlinge
haben als Zeitzeugen oft große Empathie ausgelöst.
Man hat ihnen zugehört, sie waren der Beweis.
Allein, dass sie noch da saßen,
dass die Geschichte sich ereignet hat.
Dass sie durch Glück und Zufälle den Lagern entronnen sind.
Das ist ein großer Wert, der nicht ersetzbar ist.
Ein Weg, ihre Botschaft lebendig zu halten, kommt aus den USA.
In den dortigen Holocaust-Memorials
werden schon länger interaktive Hologramme verwendet.
Can you tell us something about your family?
I was extremly close to my family.
Antworten, die nachdenklich stimmen.
Doch kann es den Schrecken der Konzentrationslager
auch vermitteln?
Vielleicht auch nur der auf einem Handzettel gekritzelte Tagesablauf.
Vielleicht sagt der mehr aus als die Illusion,
einen ewigen Zeitzeugen immer befragen zu können.
Die Gedenkstätte Flossenbürg
verschließt sich dem digitalen Fortschritt aber nicht.
Auf dem Social-Media-Kanal TikTok
erzählen ehemalige KZ-Häftlinge von ihrem Schicksal.
Auch thematisch setzt die Gedenkstätte neue Schwerpunkte.
Ein Thema: In Konzentrationslagern wie Flossenbürg
wurden auch Homosexuelle verschleppt.
Wie andere Häftlinge mussten sie im Steinbruch arbeiten,
unter schlimmsten Bedingungen - bis zum Tod.
Die Berufsschüler
wollen sich speziell mit dem Thema auseinandersetzen.
Sie erarbeiten ein Theaterprojekt.
Hass gegen Homosexuelle ist auch heute noch ein Thema.
Das ist noch stark vorhanden.
Ich kenne Leute, die unter anderen Sexualitäten leben.
Die trauen sich nicht, das zu sagen,
weil sie wissen nie, von wem sie dann verachtet werden.
Es sind diese persönlichen Zugänge,
die die Nazi-Verbrechen in Erinnerung rufen.
Eine Pflicht zu einem KZ-Besuch sei nicht notwendig,
sagt der Gedenkstättenleiter.
Obwohl der Eindruck unersetzbar sei.
Jetzt ist es so eine friedliche Winterruhe,
die aber eine komische Spannung aufbaut.
'ne Spannung des Unerklärlichen, des Reinziehens, des Befremdens.
Diese Spannung kann man nur an diesen Orten erleben.
Immerhin:
In Zeiten, in der man von einer gespaltenen Gesellschaft redet,
kommen wieder mehr Besucher in KZ-Gedenkstätten wie Flossenbürg.
Anna Staroselski ist Präsidentin der jüdischen Studierendenunion.
Sie ist 27, studiert Geschichte und ist im Deutschen Bundestag
wissenschaftliche Mitarbeiterin für Linda Teuteberg (FDP).
Guten Abend, Frau Staroselski. Guten Abend.
Was denken Sie:
Sollte jeder Schüler einmal eine KZ-Gedenkstätte besucht haben?
Sollte dies gar verpflichtend sein?
Unbedingt.
Es ist besonders wichtig,
diese Schreckenserfahrung lebendig zu halten.
Ein KZ-Besuch macht das möglich.
Die Lehrkräfte müssen dafür weiter sensibilisiert werden.
70 % der 18- bis 29-Jährigen fehlt inzwischen das Basiswissen,
was der Holocaust überhaupt war, sagt eine Studie.
Was braucht es, damit sich das ändert -
jenseits des Geschichtsunterrichts?
Es ist wichtig, den persönlichen Zugang weiter auszubauen.
Wir müssen über die Geschichten der Überlebenden weiter erfahren.
Wir müssen den Fokus von den Zahlen abkehren
und in die Schicksale hineingehen.
Die Nationalsozialisten wollten den Opfern ihre Identität nehmen.
Deshalb haben sie Nummern vergeben.
Der Fokus sollte auf den persönlichen Geschichten liegen.
Jeder dritte junge Mensch in Deutschland denkt antisemitisch.
Und gerade in der Pandemie tauchen wieder alte antisemitische Muster
und Verschwörungserzählungen auf.
Erleben Sie das auch im Alltag?
Das ist sehr schmerzhaft, zu sehen,
wie antisemitische Verschwörungs- erzählungen verbreitet werden.
Sie befinden sich mittlerweile auf einem Höchststand.
Das wäre ein Auftrag an die Bildung:
Verschwörungsmythen auch in die Lehrpläne aufzunehmen.
Darüber aufzuklären, was ist antisemitisch?
Wie erleben Sie das persönlich?
Sobald man sich sichtbar als jüdisch bekennt,
ist man mit Beleidigungen konfrontiert.
Ich bin auf der Straße viel achtsamer geworden.
Ich bin vorsichtiger, worüber ich spreche.
Das ist eine Entwicklung,
die man durchgehend in der jüdischen Community feststellen kann.
Am Holocaust-Gedenktag 2021
fand die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano
in unserer Rubrik "Meinung" sehr bewegende Worte.
Hier ist ein Ausschnitt,
in dem sie erzählte, was sie besonders schmerzte.
Für uns ist es unerträglich,
wenn wieder Nazi-Parolen gebrüllt und Synagogen angegriffen werden.
Wenn Todeslisten kursieren,
wenn Rechtsextreme in Parlamenten sitzen.
Wiederholt sich die Geschichte?
Esther Bejarano am 27.01.2021.
Was geht Ihnen da durch den Kopf, Frau Staroselski?
Was sie angesprochen hat,
ist genau die Problematik des Ansatzes
im Kampf gegen Antisemitismus.
Antisemitismus kommt von rechts, von links
und aus der Mitte der Gesellschaft.
Auch aus Teilen der muslimischen Community.
Das muss erkannt und bekämpft werden.
Mit dem Einzug der AfD in die Parlamente
ist dieses Gedankengut am Puls der Demokratie festzustellen.
Die AfD ist eine Partei,
die menschenverachtendes Gedankengut toleriert.
Das ist nicht wählbar.
In einem Interview sagten Sie mal:
Juden sollten nicht die einzigen sein, die Antisemitismus bekämpfen.
Was wünschen Sie sich von der Politik, von der Gesellschaft?
Ich möchte deutlich sagen:
Es reicht nicht, diesen performativen Akt zu verüben,
in dem man sagt, wir erinnern uns.
Auf die Versprechen müssen Taten folgen.
Rechtsextreme Kontinuitäten müssen klarer in den Blick genommen werden.
Der Rechtsstaat verpflichtet sich, seine Bürger zu schützen.
In vielen jüdischen Gemeinden ist die Situation so,
dass sie selbst für die Sicherheit zahlen müssen.
In dem Jahr,
in dem wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern,
sind viele jüdische Senioren von Altersarmut betroffen.
Auch Juden sollen
von einem selbstbestimmten Leben in Deutschland profitieren können.
Appelle der Präsidentin der jüdischen Studierendenunion.
Danke für Ihre Zeit. Vielen Dank.
Ihn werden wir künftig nicht mehr so oft im Bundestag reden hören.
Denn Ralph Brinkhaus verzichtet auf den Fraktionsvorsitz der Union.
Und darauf, bei der Wahl des Postens gegen Friedrich Merz anzutreten.
Das hat er heute in einem Brief an die Fraktion mitgeteilt.
Platz machen nennt man das.
Für den Parteichef, der nun wohl im Bundestag
Chef der größten Oppositionsfraktion wird.
Damit konzentriert er alle Macht bei sich.
Kristin Schwietzer, das kam jetzt holterdiepolter,
aber nicht überraschend, oder?
Das war mit Ansage.
Das hat sich im Team Merz lange angedeutet.
Erst hat Merz sich Rückendeckung abgeholt.
Zum einen bei der Mitgliederbefragung,
zum anderen beim Parteitag.
Unter vorgehaltener Hand war klar, dass es in diese Richtung geht.
In einem persönlichen Gespräch mit Brinkhaus hat er das geklärt.
Der hat das ungern freigegeben.
Jetzt zieht er sich zurück.
Es war für viele keine Frage des Ob, sondern des Wann.
Auch weil sie der Überzeugung sind,
dass Fraktionsvorsitz und Parteivorsitz in eine Hand gehören.
Das hat Ralph Brinkhaus anders gesehen.
Aber so ist jetzt die Entscheidung gefallen.
So hat Ralph Brinkhaus der Partei die nächste Schlammschlacht erspart.
Er hat der Partei die Schlammschlacht erspart
und für sich selbst eine gesichtswahrende Lösung gefunden.
Der Parteifrieden war da jetzt wichtiger.
An der Basis ist der große Wunsch, sich selbst zu disziplinieren.
Dafür waren die Wahlergebnisse auch zu eindeutig.
März wird aber auch auf die zugehen müssen,
die er mit der Entscheidung verprellt hat.
Was passiert jetzt mit Brinkhaus?
Er wird Abgeordneter bleiben, wird sich auch einbringen.
Merz wird sich noch gut an diesen Moment erinnern,
als Angela Merkel dasselbe mit ihm getan hat.
Er weiß, wie Brinkhaus sich fühlen muss.
Der hat die Arbeit sehr gern gemacht.
Er hat 85 % bekommen, als er gewählt wurde.
Friedrich Merz wird gut daran tun, Brinkhaus einzubinden.
Er braucht den Zusammenhalt in der Fraktion.
Er kann jetzt großzügig sein.
Da wird er sich einen Weg überlegen.
Einschätzungen von Kristin Schwietzer.
Hunderte Kirchenmänner,
die sich an Kindern und Jugendlichen vergangen haben.
Tausendfacher Missbrauch, Vertuschung und ein Papst,
der zugibt, nicht die Wahrheit gesagt zu haben.
Neben diesem Papst steht ein Kleriker,
der wegen dieses ganzen Desasters schon mal hinschmeißen wollte.
Der Münchner Kardinal Marx hat heute persönliche Fehler eingeräumt,
sich einmal mehr entschuldigt bei den Opfern.
Angekündigt, dem behäbigen Koloss Kirche
Beine machen zu wollen bei den nötigen Reformen.
Konsequenzen zog er heute nicht.
Die ziehen dafür immer mehr andere. Irene Esmann.
Seit seiner Kindheit war Karl Schencking in der Pfarrei aktiv.
Jetzt zog er einen Schlussstrich.
Er ist ausgetreten aus der Katholischen Kirche.
Es geht um die spezielle Aufbereitung der Fälle,
wie das vertuscht wird - das war der Grund.
Und der Austritt fällt mir sehr schwer.
Wie Schencking geht es seit dem Gutachten zu Missbrauch
und Vertuschung offenbar vielen.
Wir haben 1000 Kirchenaustritte bescheinigt seit letztem Donnerstag.
Wir haben einen Andrang von 1500.
Doppelt bzw. dreimal so viel wie im vergleichbaren Zeitraum.
Die Katholische Kirche hat an Ansehen verloren.
Drastisch zeigt sich das an dem Ort, an dem heute Münchens Erzbischof
erstmals ausführlich Stellung bezog und Verantwortung übernahm.
Ich sehe hier v.a. administrative und kommunikative Versäumnisse.
Ich werfe mir in einem Fall vor,
nicht aktiv auf die Betroffenen zugegangen zu sein.
Der angesprochene Fall könnte Richard Kick sein.
Als Ministrant wurde er vor über 50 Jahren
von einem Priester sexuell missbraucht.
2010 vertraute er sich Kardinal Marx an.
Kick zeigt den Brief, den er damals bekam
und zitiert Marx mit dem Versprechen:
"... dass der Schmerz derjenigen, die misshandelt wurden
im Vordergrund unserer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit steht."
Das steht da, vom 28. April 2010.
Seitdem ist viel Zeit vergangen.
Und niemand hat sich mehr gemeldet.
Richard Kick schrieb dem Kardinal in dieser Woche einen offenen Brief.
Er fordert, dass mit den Opfern endlich anders umgegangen wird.
Und auch eine angemessene finanzielle Entschädigung.
Es gibt viele Betroffene, die finanziell schwierige Zeiten hatten,
keine Altersversorgung haben, von Hartz IV leben.
Weil sie ihr Leben nicht auf die Reihe gebracht haben.
Das, was jetzt angeboten wurde, sind allerhöchstens Almosen.
Als überfällig bezeichneten die Betroffenen eine Personalie.
Prälat Lorenz Wolf, Leiter des Kirchengerichts im Erzbistum,
lässt vorläufig alle Ämter ruhen.
Ihm werfen die Gutachter Fehlverhalten in zwölf Fällen vor.
Kardinal Marx bot seinen Rücktritt erst einmal nicht an, erklärte aber:
Ich klebe nicht an meinem Amt.
In einer synodalen Kirche
werde ich diese Entscheidung nicht mit mir alleine ausmachen.
Viel war heute die Rede von einer synodalen,
weniger hierarchischen Kirche.
Von einer Erneuerung, um den Missbrauch aufzuarbeiten.
Beim katholischen Reformprozess "Synodaler Weg"
arbeitet Gudrun Lux mit - und dämpft die Erwartungen.
Was sich ändert, ist in der Hand der Bischöfe.
Wenn wir dabei bleiben, dass wir Papiere schreiben,
wird sich nichts ändern.
Und womöglich der Exodus aus der Katholischen Kirche
nicht mehr zu stoppen sein.
Kardinal Marx und was er jetzt tun muss.
Die Meinung von Tilmann Kleinjung (BR).
Es war der katholische Buß-Ritus: der Auftritt von Kardinal Marx.
Einsicht in die persönliche Schuld, Reue und Umkehr.
Marx hat sein Versagen eingestanden.
Er hat dafür um Entschuldigung gebeten -
so aufrichtig, wie kaum ein Bischof vor ihm.
Und er hat Besserung gelobt.
Nur an Rücktritt denkt er nicht.
Ich verstehe den Ärger über diese Entscheidung.
So entsteht der Eindruck: Wir machen weiter wie bisher.
Dabei hat Kardinal Marx das Gegenteil angekündigt: Umkehr.
Er will einen Perspektivwechsel einleiten.
Nehmen wir ihn beim Wort.
Zu lange hat die Kirche den Missbrauchsskandal
aus der Perspektive der Institution betrachtet.
Nicht durch die Brille der Betroffenen.
Wenn Marx es ernst meint, hätte er die unwürdige Salami-Taktik
seines Vorvorgängers Ratzinger deutlicher kritisieren dürfen.
In den Einlassungen des 94-jährigen Ex-Papstes
scheint die alte Perspektive noch durch.
Die ist v.a. auf die Reputation der Kirche und ihrer Ämter bedacht.
Ja kein Flecken auf der weißen Soutane.
Wenn es dem Münchner Erzbischof ernst ist damit,
sich auf die Seite der Opfer zu stellen:
Dann muss er die Entschädigungspraxis der Kirche ändern.
Denn in den wenigsten Fällen
entschädigt die Kirche im Moment unbürokratisch und großzügig.
Viele Betroffene
empfinden das Verfahren als erneut traumatisierend.
Und Kardinal Marx muss sich ernsthaft auf die Suche machen nach Opfern,
auf die die Verfasser des Gutachtens noch nicht gestoßen sind.
Er muss aktiv nach denen suchen, die sich noch nicht gemeldet haben.
Die Aufarbeitung so eines Skandals nach Aktenlage ist unangemessen.
Wenden wir uns der Corona-Pandemie zu.
An den Tag, als vor zwei Jahren
bei uns die erste Infektion mit dem Coronavirus gemeldet wurde.
Seither haben wir schmerzlich erfahren,
wie verletzlich die Menschheit ist.
Und gesehen, wie schnell Impfstoffe zugelassen wurden.
Und wie Mediziner und Krankenschwestern
sich in den Kliniken um die Kranken kümmerten.
Die Zeit führte uns aber auch vor Augen,
dass die Politik die Digitalisierung im Gesundheitswesen gerne beschwört.
In Gesundheitsämtern und Krankenhäusern
bleibt das papierfreie Arbeiten aber bis heute ein Wunsch.
Das Gerät sagt Papierstau - ich freu mich.
Susanne Kneitschel
muss täglich neue Corona-Infektionen an das Gesundheitsamt melden.
Per Fax.
Die Hygienefachschwester ist im Jüdischen Krankenhaus Berlin
eigentlich für Infektionsprävention zuständig.
Doch ein großer Teil ihrer Arbeit besteht seit Monaten darin,
aus digitalen Daten analoge Faxe zu machen.
Es ist ja gar nicht mehr vorgesehen zu faxen.
Ich hab kein Faxgerät im Büro, sondern ich suche mir dann eins.
Drei Stockwerke runter, über den Krankenhauscampus
in das Patientengebäude, drei Stockwerke hoch.
Für nur eine Meldung.
Susanne Kneitschel läuft diesen Meldeweg mehrfach am Tag.
Ich habe einen Fitnesstracker.
Man soll ja immer 10.000 Schritte laufen.
Das habe ich um zwölf.
Kneitschel ist schnell, das Faxgerät nicht.
Die Meldeinformationen sind vertraulich.
Deshalb muss die Schwester auf die Faxbestätigung warten.
Ein Aufwand, der mit einem Klick, einer Mail, überflüssig wäre.
Allerdings lässt das Gesundheitsamt aufgrund von Datenschutz
Meldungen per Mail nicht zu.
So kommen jeden Tag
bis zu 1,5 Stunden zusätzliche Arbeit zusammen.
Und das seit Pandemiebeginn.
Kneitschels eigentliche Aufgabe ist eine andere.
Ich bin jeden Tag einmal auf der Intensiv
und gucke mir Patienten an.
Wir machen normale Besprechungen,
ob Patienten einen multiresistenten Erreger erworben haben
oder im Krankenhaus eine Lungenentzündung bekommen haben -
durch die Beatmung.
Diese Arbeit auf der Intensivstation
wird durch die analogen Meldungen an das Gesundheitsamt beeinträchtigt.
Kneitschel macht Überstunden.
Tatsächlich hänge ich im Moment viel Zeit hinten dran.
Aber die ITS liegt mir am Herzen, und die Zeit muss dann sein.
Und die Faxe müssen dann eben warten.
Susanne Kneitschel wartet auf mehr Digitalisierung,
auf eine Alternative zum Faxen.
Die soll allerdings erst in den nächsten Monaten kommen.
Im dritten Jahr der Pandemie.
Neben der Corona-Impfung gibt es in Europa vermutlich bald
ein weiteres medizinisches Mittel im Kampf gegen die Pandemie.
Damit beginnen die Nachrichten.
Die europäische Arzneimittelagentur hat den Weg
für ein neues Anti-Covid-Medikament in der EU freigemacht.
Das erste in Tablettenform.
Die EMA empfiehlt eine Zulassung von Paxlovid.
Die Zustimmung der EU-Kommission gilt als Formsache.
Laut Gesundheitsminister Lauterbach
eignet sich Paxlovid besonders für ungeimpfte Risikopatienten.
Das Mittel des US-Herstellers Pfizer
soll schwere Verläufe nach einer Corona-Infektion verhindern.
Deutschland hat eine Million Packungen bestellt.
Facebook kann Nutzer mit älteren Mitgliedskonten nicht dazu zwingen,
im Profil ihre echten Namen zu verwenden.
Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs
gilt das für Registrierungen vor Ende Mai 2018.
Facebook hatte die Konten zweier Kläger gesperrt,
die Pseudonyme nutzten.
Das Netzwerk begründet seine Klarnamenpflicht damit,
dass die Hemmschwelle für Hass und Mobbing dann höher sei.
Russland hat mit Zurückhaltung
auf das Dialog-Angebot der NATO und der USA reagiert.
Außenminister Lawrow kritisierte, dass die russische Forderung
nach Sicherheitsgarantien unbeantwortet geblieben sei.
Weitere Gespräche schloss er allerdings nicht aus.
Russland fordert vom Westen
eine Garantie für ein Ende der NATO-Osterweiterung.
In einem Telefonat von US-Präsident Biden
und seinem ukrainischen Amtskollegen ging es u.a. um finanzielle Hilfen.
Die Deutsche Bank hat 2021 trotz hoher Kosten für den Konzernumbau
den höchsten Gewinn seit zehn Jahren erzielt.
Nach Angaben des Geldinstituts
lag der Nettogewinn bei 1,9 Mrd. Euro.
Einzelheiten dazu von Anja Kohl.
Alle Geschäftsbereiche, Investmentbanking,
das Firmenkunden- und Privatkundengeschäft
und die Fondstochter DWS, trugen zum Erfolg bei.
Das Investmentbanking steuert weiter den Löwenanteil zum Gewinn bei.
Bezahlt wurde dies
mit deutlich höheren Gehältern für die Investmentbanker.
Um die buhlen andere Großbanken.
1,5 Mrd. Euro haben zudem der Umbau
inklusive weiterem Abbau von Stellen gekostet.
Dennoch erzielte die Deutsche Dank einen Gewinn von knapp 2 Mrd. Euro.
Ein großer Sprung zum Vorjahr,
als der Gewinn auch schon bei 113 Mio. Euro lag.
97 % aller Kosten des Umbaus seien nun verbucht.
Heißt: Der Umbau steht vor dem Abschluss.
Nach drei Jahren Nullrunde
sollen die Aktionäre wieder eine Dividende bekommen.
Es sieht nach heiler Welt aus.
Die allerdings den Makel hat, von früher zu sein.
Skispringer auf dem Flug ins Tal.
Unten jubeln ihnen dichtgedrängt tausende Zuschauer entgegen.
Es gibt nicht viele Großschanzen in Deutschland,
im Sauerland steht die größte der Welt.
Aber wenn dort gesprungen und geflogen wird,
guckt vielleicht noch der Chef der Schneekanonen zu.
Im Ort, der sonst für manch Partysause berüchtigt war,
bleibt die Bar meist geschlossen.
Sebastian Kisters war mittendrin im nordhessischen Willingen,
um zu sehen, wie Absprung und Neustart gelingen.
Als Willingen heute aufwacht,
müssen die Menschen eigentlich traurig sein.
An der Schanze laufen letzte Vorbereitungen
fürs Weltcupspringen am Wochenende.
Tausende Zuschauer müssen aber wieder draußen bleiben.
Corona.
Wer an diesem Wintertag jedoch mit Willingern spricht,
spürt Aufbruch statt Resignation.
Sobald der Schnee geschmolzen ist, werden sie an der Schanze
die längste Hängebrücke der Welt übers Tal bauen.
Wir rechnen mit 100.000 Besuchern im Jahr.
Im Sommer etwas mehr, im Winter weniger.
Wir hoffen auf mehr Tagestouristen, aber auch mehr Übernachtungen.
Ein Blick zurück: Im April 2020 stand Willingen still.
6000 Einwohner, 10.000 Gäste-Betten, ohne Touristen.
Willingen spürte:
Wenn der Berg nicht mehr ruft, wird es still im Tal.
Vorbei - Willingen investiert.
Es kam die Grundidee, diese Brücke zu bauen.
Hier investiert kein Großinvestor.
Das sind örtliche Bürger und Unternehmer,
die ihr Geld zusammentun und investieren.
Das ist Risikokapital, aber es dient dem großen Ganzen.
Dass Touristen nach Willingen geholt werden,
dass die Gäste glücklich sind.
Ums Geldverdienen geht es erst an zweiter Stelle.
Gemeinsam für den Tourismus.
Mit den Liften am Ettelsberg ist es ähnlich.
Sie gehören 78 Gesellschaftern aus der Region.
Dieser Tage fahren nicht viele auf Willingen ab.
An Wochenenden ist mehr los.
Und dann kommt der Sommer, und die Mountainbiker.
Die Spezial-Sessel warten schon.
Wir haben an den Sesseln hinten Spangen.
Da kommen die Vorderräder der Bikes rein.
Der Radfahrer geht entspannt zum hinteren Sessel,
setzt sich rein, schaut seinem Rad hinterher.
Dann fährt er mit der zweiten Kabine hinterher
und kann oben in die 3 km Bike-Strecken starten.
Willingen und Nachbargemeinden planen weitere Mountainbike-Strecken.
Der Boom auf zwei Rädern
soll hier dauerhaft ein zu Hause finden.
Wir haben entschieden: Investieren Ja.
Aber: Wir brauchen den Sommer, das Ganzjahresgeschäft.
Dafür haben wir 15 Mio. investiert.
Da gehört der Sommer dazu, und das macht richtig Spaß.
In der nordwestlichen Ecke Hessens, im Sauerland,
schauen viele Menschen optimistisch in die Zukunft.
Auch die Gemeinde Willingen investiert
und baut für 31 Mio. Euro ein neues Hallenbad.
Baukräne wie Ausrufezeichen.
Corona? Es geht weiter!
Der letzte Sommer habe das gezeigt, erzählt der Tourismus-Chef.
Ab Juli waren wir deutlich über Vor-Corona-Niveau.
Das zeigt: Wir sind nachgefragt.
Familien, Wanderer, Aktivsportler, die Radler, die Mountainbiker:
Das sind Zielgruppen, die vermehrt Willingen wahrnehmen
und auch wiederkommen.
So der Plan.
In der Corona-Krise haben Menschen die Heimat entdeckt.
Sie sollen wiederkommen.
Willingen bereitet sich vor.
Und täglich grüßt das usselige Winterwetter.
Claudia.
Ich würde gerne Sonne pur versprechen.
Ein bisschen Sonne wird dabei sein.
In den nächsten Tagen ist die Sonne dabei.
Morgen im Norden noch am ehesten.
Der Samstag wird für die meisten trüb.
Am Sonntag 4-6 Stunden Sonne.
Das Wetter mit Nebel und Hochnebel verschwindet jetzt,
es kommen Tiefs.
Auf dem Radar sehen Sie den Regen, der aus Norden kommen.
Oberhalb von 300 Metern ist Schnee dabei.
Der Regen kam weiter nach Süden und Südosten voran.
In der Nacht einzelne Gewitter.
Sonst Schneeregen und Regen.
An der Nordsee und Ostsee kräftige Windböen.
Zum Teil Sturmböen.
Morgen beruhigt sich das ein bisschen.
Danach kommt noch ein Schwall milder Luft.
Es wird stürmisch an der Küste und auf den Bergen.
Es kann orkanartige Böen geben.
Am Sonntag auch windig mit sonnigen Abschnitten.
Die Temperaturen gehen runter.
Vielen Dank, Claudia.
Hier macht Dieter Nuhr weiter.
Das nachtmagazin mit Anna Planken meldet sich um 0.05 Uhr.
Und wir uns morgen wieder. Bis dann.
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