Der Schatten über Innsmouth - Kapitel 3 – 09
Meine Muskeln wieder kontrollierend und erneut begreifend, wie ausgesprochen sichtbar ich stand, nahm ich meinen strammeren und verstellt watschelnden Schritt wieder auf, doch behielt ich meinen Blick auf dem höllischen und unheilvollen Riff so lange die Öffnung der South Street mir einen Blick zur See gewährte. Was die ganze Prozedur bedeuten sollte, konnte ich mir nicht ausmalen, außer dass es sich um ein fremdartiges Ritual im Zusammenhang mit Devil Reef handelte, oder dass eine Gruppe von einem Schiff aus auf dem finsteren Fels gelandet sei. Ich beugte mich nun nach links um das verfallene Grün, noch immer in Richtung des Ozeans starrend, der im gespenstischen Mondlicht des Sommers funkelte und das kryptische Blinken jener namenlosen, unerklärlichen Leuchtfeuer beobachtend.
Es war genau dann, dass der furchtbarste Eindruck all dessen in mir aufkam --- der Eindruck, der die letzten Überbleibsel von Selbstbeherrschung in mir zerstörte und mich verzweifelt nach Süden, an gähnend schwarzen Eingängen und fischartig starrenden Fenstern jener verlassenen Straße voller Alpträume. Denn bei genauerem Blick sah ich, dass die mondbeschienenen Wasser zwischen dem Riff und der Küste alles andere als leer waren. Sie schienen lebendig vor einer wimmelnden Horde von Gestalten, die einwärts zur Stadt schwammen und sogar auf meine große Entfernung und in einem einzigen Moment der Wahrnehmung konnte ich erkennen, dass ihre sich auf und ab bewegenden Köpfe und ihre strampelnden Arme fremd und auf eine Weise abnormal waren, der sich kaum ausdrücken oder bewusst formulieren ließ.
Ich stellte mein hektisches Rennen ein, bevor ich einen Block durchmessen hatte, denn zu meiner Linken begann ich so etwas wie das Geschrei organisierter Verfolgung zu vernehmen. Da waren Fußstapfen und kehlige Laute und ein rasselnder Motor schnaufte südwärts, die Federal Street entlang. Innerhalb einer Sekunde änderten sich alle meine Pläne --- denn wenn der Highway nach Süden vor mir abgeriegelt wurde, musste ich natürlich einen anderen Weg aus Innsmouth heraus finden. Ich hielt inne und wand mich in einen klaffenden Hauseingang, darüber sinnend, wieviel Glück ich hatte, aus der mondhellen offenen Fläche geflohen zu sein, bevor jene Verfolger die Parallelstraße hinunter kamen.
Eine weitere Betrachtung brachte weniger tröstliches: Da die Verfolgung eine andere Straße hinunter verlief, war es offensichtlich, dass die Gruppe mir nicht direkt auf den Fersen war, sondern lediglich einem Generalplan zur Verhinderung meiner Flucht folgte. Dies jedoch implizierte, dass alle Straßen, die aus Innsmouth führten ähnlich patrouilliert wurden, denn die Bewohner konnten nicht gewusst haben, welche Route ich zu nehmen beabsichtigt hatte. Wenn dem so wäre, würde ich meine Flucht querfeldein, ab von jeder Straße machen müssen. Doch wie sollte ich das in Anbetracht der sumpfigen und von Bächen durchzogenen Landschaft der Umgebung anstellen? Einen Moment lang war mein Verstand erschüttert --- sowohl von der schieren Hoffnungslosigkeit als auch von dem schnellen Anstieg des omnipräsenten Fischgestanks.
Dann fiel mir die stillgelegte Bahn nach Rowley ein, deren stabile Linie aus befestigter, unkrautbewachsener Erde sich noch immer von dem verfallenen Bahnhof am Rande der Schlucht gen Nordwesten erstrecke. Es bestand noch die Chance, dass die Stadtbewohner nicht daran dachten, da ihre von Gestrüpp bewachsene Verlassenheit sie sehr unwegsam und als unwahrscheinlichsten aller Wege, die ein Flüchtling wählen mochte erscheinen ließ. Ich hatte sie klar von meinem Hotelfenster aus gesehen und wusste, wo sie lag. Der größte Teil der Strecke war unangenehm gut von der Straße nach Rowley und von hohen Orten in der Stadt aus einzusehen. doch würde ich womöglich unauffällig durch das Unterholz kriechen können. Jedenfalls stellte es meine einzige Chance auf Erlösung dar und es blieb mir nichts anderes als es zu versuchen.
Ich zog mich zurück in den Flur meiner verlassenen Zuflucht und konsultierte ich ein weiteres mal die Karte des Jungen aus dem Lebensmittelgeschäft. Das unmittelbare Problem bestand darin, wie die uralte Bahnlinie zu erreichen sei und ich erkannte nun, dass die sicherste Route geradeaus zur Babson Street, dann nach Westen zur Lafayette -- dort vorbei an einem, doch nicht über einen offenen Platz ähnlich jenem, den ich bereits überquert hatte --- und anschließend zurück nordwärts und westwärts im Zickzackkurs durch Lafayette, Bates, Adams und Bank Street --- letztere verlief entlang der Schlucht am Fluss hin zu dem verlassenen und verfallenen Bahnhof, den ich von meinem Fenster aus gesehen hatte. Mein Grund, die Babson zu wählen lag darin, dass ich weder den Wunsch verspürte, den Platz noch einmal zu überqueren, noch wollte ich meinen Weg westwärts entlang einer Straße so breit wie die South Street beginnen.
Aufs neue beginnend, kreuzte ich die Straße zur rechten um so unauffällig wie möglich in die Babson zu biegen. Es war immer noch Geräusche aus der Federal Street zu vernehmen und als ich hinter mich blickte, glaubte ich, einen Lichtschimmer nahe des Gebäudes, durch welches ich entflohen war zu erspähen. Bestrebt, die Washington Street zu verlassen, verfiel ich in einen ruhigen Hundeschritt, auf mein Glück vertrauend, keinem wachsamen Auge zu begegnen. An der Babson Street bemerkte ich zu meiner Sorge, dass eines der Häuser noch immer bewohnt war, wie die Vorhänge am Fenster belegten, doch waren keine Lichter zu sehen und ich ging ohne Unheil daran vorbei.
In der Babson Street, die die Federal kreuzte und mich daher meinen Verfolgern offenbaren könnte, hielt ich mich so nah wie möglich an den absackenden unregelmäßigen Gebäuden und pausierte zweimal in einem Hauseingang, als die Laute hinter mir vorübergehend stärker wurden. Der weite Platz vor mir schien trostlos im Mondlicht, doch mein Weg würde mich nicht dazu zwingen, ihn zu überqueren. Während meiner zweiten Pause bemerkte ich eine frische Quelle von vagen Lauten und als ich vorsichtig aus meiner Deckung hervorlugte, erblickte ich ein Automobil, das über den Platz entlang der Eliot Street, die sowohl die Babson als auch die Lafayette kreuzt, nach draußen schoss.
Während ich dies --- durch einen plötzlichen Anstieg des Fischgestanks nach einem kurzen Abflauen erstickt --- beobachtete, sah ich eine Gruppe von groben, kriechenden Umrissen in die gleiche Richtung unbeholfen watscheln und ich wusste, dass dies die Gruppe sein musste, die die Straße nach Ipswich bewachte, da diese sich aus der Eliot Street erweitert. Zwei der Gestalten, die ich erspähte waren in wallende Roben gehüllt und eine trug ein spitz zulaufendes Diadem, das im Mondlicht weißlich glänzte. Der Gang dieser Figur war so merkwürdig, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagte --- denn es schien mir fast als würde die Gestalt hüpfen.
Als der letzte des Trupps außer Sicht war, nahm ich meinen Schritt wieder auf und lief um die Ecke in die Lafayette Street, kreuzte die Eliot in großer Eile, aus Furcht, dass noch Nachzügler der Streife auf diesem Weg vorrückten. Ich hörte ein paar weit entfernte quakende und rumpelnde Geräusche aus Richtung des Dorfplatzes, doch überwand ich diesen Abschnitt ohne Zwischenfall. Meine größte Furcht lag darin, die breite und mondhelle South Street wieder queren zu müssen --- mit ihrer Aussicht zur See --- und ich musste mich für diese Prüfung zusammennehmen. Jemand könnte mühelos herschauen und eine mögliche Nachhut in der Eliot Street musste mich aus einer der beiden Richtungen sehen. Im letzten Moment entschied ich, meinen Schritt lieber zu verlangsamen und die Überquerung wie zuvor im watschelnden Gang eines Bewohners von Innsmouth zu vollziehen.