Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle und Keinen (2)
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Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er
also:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und
Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches
Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches
Schaudern und Stehenbleiben.
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein
Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein
Übergang und ein Untergang ist.
Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als
Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.
Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden
sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.
Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund
suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass
die Erde einst der Übermenschen werde.
Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen
will, damit einst der Übermensch lebe. Und so will er seinen
Untergang.
Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem
Übermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze vorbereite:
denn so will er seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum
Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht.
Ich liebe Den, welcher nicht einen Tropfen Geist für sich
zurückbehält, sondern ganz der Geist seiner Tugend sein will: so
schreitet er als Geist über die Brücke.
Ich liebe Den, welcher aus seiner Tugend seinen Hang und sein
Verhängniss macht: so will er um seiner Tugend willen noch leben und nicht
mehr leben.
Ich liebe Den, welcher nicht zu viele Tugenden haben will. Eine Tugend
ist mehr Tugend, als zwei, weil sie mehr Knoten ist, an den sich das
Verhängniss hängt.
Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben
will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht
bewahren.
Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu
seinem Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher
Spieler? – denn er will zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten voraus wirft und
immer noch mehr hält, als er verspricht: denn er will seinen
Untergang.
Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die
Vergangenen erlöst: denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde
gehen.
Ich liebe Den, welcher seinen Gott züchtigt, weil er seinen Gott
liebt: denn er muss am Zorne seines Gottes zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der
an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne über
die Brücke.
Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber
vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang.
Ich liebe Den, der freien Geistes und freien Herzes ist: so ist sein
Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum
Untergang.
Ich liebe alle Die, welche schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus
der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen,
dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde.
Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer
Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst
Übermensch. –
5
Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk
an und schwieg. »Da stehen sie«, sprach er zu seinem Herzen,
»da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für
diese Ohren.
Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den
Augen hören. Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredigern? Oder
glauben sie nur dem Stammelnden?
Sie haben etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was
sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor den
Ziegenhirten.
Drum hören sie ungern von sich das Wort »Verachtung«.
So will ich denn zu ihrem Stolze reden.
So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist
der letzte Mensch.«
Und also sprach Zarathustra zum Volke:
Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an
der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.
Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm
und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner
Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens
verlernt hat, zu schwirren!
Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden
Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in
euch.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären
wird. Wehe! Es kommt die Weit des verächtlichsten Menschen, der sich
selber nicht mehr verachten kann.
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.
»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was
ist Stern« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte
Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der
Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die
letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben den Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man
braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man
braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht
achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel
Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt
dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer
will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich:
wer anders fühlt, geht freiwillig in's Irrenhaus.
»Ehemals war alle Welt irre« – sagen die Feinsten und
blinzeln.
Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende
zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst
verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen
für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die
letzten Menschen und blinzeln –
Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche man auch
»die Vorrede« heisst: denn an dieser Stelle unterbrach ihn das
Geschrei und die Lust der Menge. »Gieb uns diesen letzten Menschen, oh
Zarathustra, – so riefen sie – mache uns zu diesen letzten Menschen!
So schenken wir dir den Übermenschen!« Und alles Volk jubelte und
schnalzte mit der Zunge. Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem
Herzen:
Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht den Mund für diese
Ohren.
Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche
und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten.
Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag. Aber
sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Spässen.
Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen
sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen.
6
Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr
machte. Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen:
er war aus einer kleiner Thür hinausgetreten und gieng über das Seil,
welches zwischen zwei Thürmen gespannt war, also, dass es über dem
Markte und dem Volke hieng. Als er eben in der Mitte seines Weges war,
öffnete sich die kleine Thür noch einmal, und ein bunter Gesell,
einem Possenreisser gleich, sprang heraus und gieng mit schnellen Schritten dem
Ersten nach. »Vorwärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche
Stimme, vorwärts Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass ich
dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst du hier zwischen Thürmen?
In den Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, einem Bessern, als du
bist, sperrst du die freie Bahn!« – Und mit jedem Worte kam er ihm
näher und näher: als er aber nur noch einen Schritt hinter ihm war,
da geschah das Erschreckliche, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr
machte: – er stiess ein Geschrei aus wie ein Teufel und sprang über
Den hinweg, der ihm im Wege war. Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler
siegen sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und
schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe.
Der Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm hineinfährt: Alles
floh aus einander und übereinander, und am meisten dort, wo der
Körper niederschlagen musste.
Zarathustra aber blieb stehen, und gerade neben ihn fiel der
Körper hin, übel zugerichtet und zerbrochen, aber noch nicht todt.
Nach einer Weile kam dem Zerschmetterten das Bewusstsein zurück, und er
sah Zarathustra neben sich knieen. »Was machst du da? sagte er endlich,
ich wusste es lange, dass mir der Teufel ein Bein stellen werde. Nun schleppt
er mich zur Hölle: willst du's ihm wehren?«
»Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es
Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle.
Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun
Nichts mehr!«
Der Mann blickte misstrauisch auf. »Wenn du die Wahrheit
sprichst, sagte er dann, so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere.
Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch
Schläge und schmale Bissen.«
»Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der Gefahr deinen
Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu
Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«
Als Zarathustra diess gesagt hatte, antwortete der Sterbende nicht
mehr; aber er bewegte die Hand, wie als ob er die Hand Zarathustra's zum Danke
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