Was bringt es, Kommentare zu disliken?
Da schaut man ganz friedlich ein Video von Krass Klassenfahrt, weil man sich trotz der
Spielzeugsoldaten in der Nase immer noch zu schlau fühlt und dann das; ein Kommentar,
der mich ausgerechnet hier zum christlichen Fundamentalismus konvertieren will.
Man kennt es.
Nun, das gehört hier wirklich nicht hin. [klickt Dislike]
[Pause]
[klickt öfters]
Ähm… was…
Es ist doch komisch, oder?
YouTube-Videos haben einen Like- und einen Dislike-Button.
Bei der Betätigung von einem der beiden wird der jeweilige Zähler um den Wert 1 erhöht
und das dargestellte Verhältnis ändert sich entsprechend.
Bei YouTube-Kommentaren wiederum gibt es zwar auch jeweils einen Like- und einen Dislike-Button,
doch nur die Likes haben einen Zähler.
Und einem Kommentar mit beispielsweise 10 Likes einen Dislike zu geben, verändert an
dieser Zahl gar nichts.
Teilweise verschwindet sogar die Grafik, die anzeigt, dass man bei einem Kommentar einen
Dislike angeklickt hat, wenn man die Seite aktualisiert.
Das alles wirkt ein bisschen so wie dieser “Duschkopf” auf den damals auf Facebook
viel zu viele reingefallen sind.
Eine vorgegaukelte Funktion, die jedoch nicht mal ans System angeschlossen ist.
Und das hat mich ins Nachdenken gebracht.
Mein erster Gedanke war: “Genial, das sind Diskussionsplacebos.
Dislikeglobuli sozusagen, die Nutzern das Gefühl geben sollen, sie hätten einem Kommentar,
den sie nicht mögen, geschadet, ohne die Autoren des Kommentars mit einer sinkenden
Likezahl zu demotivieren und mit dem netten Nebeneffekt, organisierte Dislikestürme auf
Kommentare ineffektiv zu machen.”
Interaktion wiegt für eine Plattform schließlich deutlich schwerer als eine aufgeräumte Diskussionskultur.
Aber so ist es nicht.
Tatsächlich ist das ganze etwas komplexer und macht den Dislikebutton bei Kommentaren
zur vielleicht alltäglichsten Erinnerung an YouTubes Werdegang.
Denn wenn wir die Zeit einmal zurückdrehen, ins Jahr 2010, fällt auf, dass der Dislikebutton
damals etwas anders funktioniert hat.
Ein Klick auf den Dislikebutton hat die Anzahl der Likes des Kommentars tatsächlich verringert.
So dass es möglich war, wenn man besonders unbeliebten Kram schreibt, eine negative Likeanzahl
zu haben.
Das hat dafür gesorgt, dass Lesern wie Autoren von Kommentaren schnell klar wurde, wie das
Meinungsbild zu einem Kommentar aussieht.
Doch das ändert sich Ende 2013 als Google sein eigenes soziales Netzwerk “Google+”
auf YouTube überstülpt und dafür sorgt, dass man einen Google+ Account besitzen muss,
um auf YouTube weiterhin kommentieren zu dürfen.
Das war die Zeit, in der Bob der Panzerfahrer durch die Kommentarsektionen von Videos fuhr,
in der Hoffnung den alten Status wiederherzustellen.
Die Idee der Integration von Google+ war (abgesehen von dem deutlichen Wachstum an unfreiwilligen
Nutzern) die Bedienbarkeit von YouTube-Inhalten aus dem Google+ Interface heraus.
Die Philosophie von Google+ war ähnlich wie die von Facebook: Man konnte nur in positiven
Sinne auf einen Beitrag reagieren.
Bei Facebook war es der “Gefällt-mir”-Knopf, bei Google+ das “+1”.
Damit YouTube Kommentare also auch aus dem Google+ Interface aus bedient werden konnten,
musste man dafür sorgen, dass ein “Like” auf YouTube und ein “+1” auf Google+ das
gleiche bedeuteten und bewirkten.
Warum sie das nicht gleich auch für die Bewertungen von Videos gemacht haben… versteh' ich
ehrlich gesagt auch nicht.
Dadurch verlor der Dislikebutton von Kommentaren aber seine Gleichberechtigung mit dem Like-Button.
Im Juli 2015, zwei Jahre nachdem Bob auf YouTube im Kreis gefahren ist, hebt Google die Restriktionen
auf, so dass man nicht mehr Google+ Nutzer sein muss, um auf YouTube kommentieren zu
dürfen.
Im April 2019 wird schließlich ganz Google+ eingestellt und aus den Systemen mehr oder
weniger entfernt.
Das änderte jedoch nichts an der Funktionalität der Bewertungsfunktionen.
Das System von 2010 wird nie wiederhergestellt.
Und damit wurde der Dislikebutton von YouTube-Kommentaren zu einer Art lebendem Fossil.
Der einzige Grund warum er so ist, wie er ist, liegt in der einstigen Existenz eines
sozialen Netzwerks, das niemand so richtig wollte.
Im Zuge dessen rühmt sich YouTube mit der Leistung, es geschafft zu haben, 35% weniger
Dislikes auf Kommentaren zu verzeichnen; was so gar nicht überrascht, wenn man der Funktion
jegliches Feedback wegnimmt.
Aber so ganz ohne Funktion scheint der Dislike-Button nicht zu sein.
Gerade wenn man sich Kommentarsektionen von populären Videos ansieht, fällt auf, dass
trotz Sortierung nach “Top-Kommentaren” häufiger Kommentare mit weniger Likes und
Antworten über Kommentaren mit mehr von ihnen angezeigt werden.
Was sogesehen ziemlich unlogisch ist.
Es sei denn YouTube zählt die Dislikes doch, allerdings verdeckt.
Und das Verhältnis aus öffentlich einsehbaren Likes und unsichtbaren Dislikes bestimmt mit,
wie hoch ein Kommentar angezeigt wird.
Dieses System würde ehrlich gesagt niemandem helfen, weil alle nur sehen wie beliebt ein
Kommentar aber nicht wie unbeliebt er gleichzeitig ist.
Also ist der Dislikebutton kein Placebo, der Leuten vorgaukeln soll, sie hätten etwas
gegen einen doofen Kommentar getan.
Er hat tatsächlich einen historischen Hintergrund und wahrscheinlich auch immer noch eine Wirkung,
nur eben keine sonderlich effektive.