Christoph Matschie: Rede zum Fall Nawalny 11.09.2020
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen!
Für mich ist es wichtig, dass fast alle in diesem Hohen Hause
diesen schändlichen Mordversuch
klar verurteilt haben.
Es ist wichtig, das deutlich zu machen.
Es ist ein Fall, der sich einreiht in eine ganz lange Reihe;
der Kollege Hardt hat es hier sehr eindrücklich deutlich gemacht,
andere auch.
Und deshalb geht es mir wie vielen: Mich wühlt auf, was dort passiert.
Dies muss dazu führen - hier gebe ich Norbert Röttgen recht -, dass wir unseren Umgang
mit Russland sehr grundsätzlich überdenken.
Aber rechtfertigt das, dass wir jetzt schon eine Entscheidung treffen?
Ich glaube, dass es klug ist, jetzt nicht nur aus heißem Herzen heraus, sondern auch
mit klarem Verstand vorzugehen.
Einige haben hier deutlich gemacht: Es ist keine bilaterale Angelegenheit zwischen Deutschland
und Russland, um die es hier geht, sondern es ist eine internationale Angelegenheit.
Russland hat einen chemischen Kampfstoff eingesetzt, der erst vor kurzer Zeit auf die Verbotsliste
der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen gesetzt worden ist
- mit russischer Beteiligung.
Jetzt, wenige Wochen später, verstößt Russland gegen diese eigene Verpflichtung.
Dieses Verhalten muss eine internationale Antwort bekommen.
Dazu ist es aber auch notwendig, dass dieser Befund mit den klaren Erkenntnissen,
die das Bundeswehrlabor gewonnen hat - dieses Labor ist eines von 17 zertifizierten Laboren
der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen -,
noch einmal von einem anderen Labor der OVCW überprüft wird
und dann Schlüsse daraus gezogen werden.
Ist es aber richtig, wenn Russland sagt, es könne nur ermitteln, wenn die deutschen Ergebnisse
den russischen Stellen jetzt zur Verfügung gestellt werden?
Nein, der Tatort liegt in Russland.
Es war ein russischer Inlandsflug.
Die Tat ist an einem russischen Bürger begangen worden.
Er lag dort zwei Tage im Krankenhaus.
Alle Befunde, alle Tatortspuren, alle medizinischen Erhebungen, die man braucht, liegen Russland vor.
Russland kann jetzt ermitteln.
Das sollte es auch tun.
Hat Deutschland ein Interesse daran, die Gräben zu vertiefen: zwischen Deutschland und Russland,
zwischen Europa und Russland?
Nein.
Gerade Deutschland hat in der Vergangenheit viel dafür getan,
immer wieder Brücken zu bauen.
Ich will nur daran erinnern, dass - lange geplant - im Herbst das Deutschlandjahr in
Russland starten soll.
Aber Brückenbau funktioniert ja nur, wenn auf der anderen Seite des Flusses auch ein
Pfeiler gebaut wird.
Wenn dort keiner gebaut wird oder immer eingerissen wird, dann kann es keine Brücke geben,
dann funktioniert sie nicht, jedenfalls nicht mit der Regierung Putin.
Das ist uns klar.
Wir brauchen natürlich auch die Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft.
Das ist mir sehr wichtig.
Diese Brücken existieren vielfältig.
Die müssen wir von beiden Seiten begehen, so intensiv wie möglich.
Russland ist nicht Putin, sondern Russland ist viel mehr.
Diese Partnerschaft ist es wert, noch viel mehr Energie hineinzustecken als bisher.
Mir ist wichtig, dass wir jetzt eine überlegte europäische Antwort geben, nicht nur auf
diesen einzelnen Fall.
Ich gebe allen Rednern recht, die das auch betont haben.
Dieser Fall, dieser einzelne, ist jetzt Anlass, unser Verhältnis zur russischen Führung
grundsätzlich zu überdenken.
Ich finde, dass keine Option in der Reaktion vorzeitig vom Tisch genommen werden darf.
Ich bin nicht dafür, jetzt schon zu entscheiden, ob wir Nord Stream 2 nicht bauen.
Aber ich bin dafür, alle Optionen offenzulassen, sorgfältig mit den europäischen Partnern
zu beraten, auch in der NATO zu besprechen, und dann eine gemeinsame Reaktion zu geben;
denn eine gemeinsame Reaktion wird eine viel stärkere Reaktion gegenüber Russland sein,
als wir sie allein geben können.
Das wird für die nächste Zeit wichtig sein und unser Verhältnis bestimmen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen,
ich will am Schluss Alexej Nawalny und seiner Familie alles, alles Gute wünschen.
Die Wünsche zur Besserung, die er jetzt braucht, und die Hoffnung, dass er vollständig genesen wird,
sollen aus diesem Haus in die Charité dringen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)