Zwischenruf US Wahlen - die USA stehen vor einem Berg von Problemen
Zwischenruf zu den Wahlen in Amerika. Während wir diesen Zwischenruf aufzeichnen, wird in
sechs Staaten immer noch gezählt. Ich lege mich trotzdem fest. Biden wird gewinnen.
Das ist in vieler Hinsicht eine glückliche Wendung. Die Nachrufe auf die USA waren verfrüht.
Sie hatten ja oft einen merkwürdig triumphalistischen Unterton. Als könnten manche gar nicht
abwarten Amerika abzuschreiben. Der Witz an der weit verbreiteten Antipathie gegen die USA
ist ja, dass auch alle die die Vereinigten Staaten für ein kaputtes Land halten, auf Amerika fixiert sind.
Das kommt nicht von ungefähr. Die USA haben wie kein anderes Land über die letzten hundert
Jahre die Moderne definiert. Wer aus Europa nach Amerika schaute, sah unsere Zukunft vor sich.
Die großen Städte, das Tempo, eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft par excellence , die
Filmindustrie, den Jazz, der im Dritten Reich Nigger- musik hieß, Woodstock, das Internet, Apple, Facebook,
Twitter, kurz und gut: alles, was unsere moderne Lebenswelt kennzeichnet. Der kulturelle Dünkel
gegenüber Amerika, das Gefühl der Überlegenheit ist oft nur die Kehrseite für einen tief sitzenden
Minderwertigkeitskomplex. Keine Frage, die USA stehen vor einem Berg von Problemen: eine politisch
und kulturell extrem polarisierte Gesellschaft, eine vielfach heruntergekommene Infrastruktur,
ein gigantisches Handelsbilanzdefizit, eine übergroße soziale Ungleichheit und ein
veraltetes Wahlsystem. Und dennoch: es ist Trump nicht gelungen, die demokratischen Checks and
Balances außer Kraft zu setzen. Die politischen Institutionen sind intakt. Die für amerikanische
Verhältnisse enorm hohe Wahlbeteiligung zeigt, dass bei den meisten Bürgerinnen und
Bürgern die Leidenschaft für die öffentlichen Angelegenheiten hoch ist. Das zeigt sich auch in
der Lebendigkeit der amerikanischen Demokratie vor Ort, in den Städten und Kommunen. Während Trump
im weißen Haus tobt, machen hunderttausende von Wahlhelfern ruhig ihre Arbeit und sorgen dafür,
dass jede Stimme gezählt wird. Es wäre eine krasse Selbsttäuschung zu glauben, dass die Probleme der
USA nicht auch unsere Probleme wären. Das gilt für den anhaltenden Rassismus, wie für den sozialen
Zusammenhalt. Die Staatsverschuldung in Europa oder den fruchtbaren Boden für populistische Demagogen.
Wir müssen diese Probleme gemeinsam lösen, statt mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Das gilt
auch für die Außen- und Sicherheitspolitik. Das transatlantische Bündnis ist mitnichten überholt.
Ganz im Gegenteil: Wir brauchen die Allianz der Demokratien umso dringender gegenüber
dem Auftrumpfen autoritärer Mächte - allen voran China. Europa muss stärker und handlungsfähiger
werden -nach innen wie nach außen, aber nicht um uns von Amerika abzuwenden, sondern um als Partner auf
Augenhöhe zu agieren. Dafür ist die Wahl Bidens ein gutes Signal. Damit wird nicht alles wieder gut,
aber wir können jetzt wieder konstruktiver zusammenarbeiten. Welcome back Amerika!