Fünftes Kapitel - Der Schatz wird gefunden - 01
Der Doktorwagen war ein zweirädriges Gig mit einer Haube; ein Gefährt, wie es von Landärzten bevorzugt wird. Wie oft ist man ihm auf entlegenen Landwegen zwischen den Pappeln oder auf der Dorfstraße, an irgend einen Torpfosten gebunden, begegnet! Diese Art Wagen leidet – besonders im Trott – an einer Art schaukelnder Bewegung quer über der Achse, die ihm ein recht albernes Aussehen gibt. Die Haube beschreibt einen stattlichen Bogen in der Landschaft und übt auf den nachdenklichen Fußgänger eine feierlich-lächerliche Wirkung aus. Das Fahren in solch einem Wagen kann daher nicht wohl zu den bevorzugten Beschäftigungen des Lebens zählen, mag sich bei Leberleiden indes als eine recht nützliche Sache erweisen. Daher wohl auch seine große Beliebtheit bei Ärzten.
Eines frühen Morgens führte Jean-Marie des Doktors Einspänner aus dem Stall, öffnete das Tor und erklomm den Kutschersitz. Der Doktor folgte ihm, von Kopf bis zu Fuß in schneeweißes Leinen gekleidet, mit einem ungeheuren flaschenfarbenen Sonnenschirm bewaffnet und einer Botanisiertrommel am Gürtel, und die Equipage fuhr alsbald in schlankem Trabe in selbsterzeugtem Wirbelwind davon. Das Ziel war Franchard, der Zweck, Pflanzen zu sammeln, im Hinblick auf die »Vergleichende Pharmacopoea«.
Ein kurzes Rattern auf der offenen Landstraße und sie hatten den Rand des Waldes erreicht und bogen auf einen unbefahrenen Weg ein. Das Gig schaukelte zur Begleitung des Geräuschs knackender Zweige sanft über den Sand hinweg. Zu Häupten spannte sich eine große, grüne, leise murmelnde Wolke dichten Laubes. In den Bogengängen des Waldes hatte die Luft die Frische der Nacht beibehalten. Die athletische Haltung der Bäume, die statuengleich jeder einen Berg Blätter zu stemmen schienen, erfreute das Herz; und die Umrisse der Stämme führten den bewundernden Blick aufwärts dorthin, wo die äußersten Blattspitzen in einem Fleck von Azur glänzten. Kurz, es war der richtige Ort für einen Anhänger der Göttin Hygieia.
»Bist du schon in Franchard gewesen, Jean-Marie?« erkundigte sich der Doktor. »Ich glaube nicht.«
»Niemals,« erwiderte der Junge.
»Es ist eine in einer Schlucht gelegene Ruine,« fuhr Desprez in belehrendem Tonfall fort; » die Ruine einer Klausnerei und Kapelle. Die Geschichte weiß viel von Franchard zu erzählen; daß die Einsiedler häufig von Räubern ermordet wurden; daß sie eine höchst ungenügende Diät hielten, und daß man von ihnen erwartete, daß sie ihre Tage im Gebet zubrächten. Ein Brief voll der vorzüglichsten hygienischen Ratschläge von einem Vorgesetzten des Ordens an einen dieser Einsiedler ist uns erhalten geblieben; er rät ihm, von seinem Buch zum Gebet sich zu wenden und dann wieder zum Buche zurück, der Abwechslung halber, und, wenn er beides satt habe, im Garten zu wandeln und den Honigbienen zuzuschauen. Dies ist auch heute noch mein System. Du wirst häufig bemerkt haben, daß ich – oft in der Mitte eines Satzes – meine Pharmacopoea im Stich ließ, um an die Sonne und die Luft zu gehen. Ich bewundere den Verfasser dieses Briefes aus tiefstem Herzen; er war ein Mann, der über die meisten Dinge nachgedacht hatte. Ja, hätte ich im Mittelalter gelebt (Gott sei Dank, daß ich es nicht tat), ich wäre auch Eremit geworden ... das heißt, wenn ich nicht von Beruf Narr geworden wäre. Diese waren damals noch die einzigen, die philosophisch leben durften, ob lachend, ob weinend, ob im Spott, ja, man kann sagen, sogar in ihren Tränen. Bis die Sonne des Positiven tagte, blieb dem Weisen nichts übrig, als zwischen diesen beiden zu wählen.«
»Ich wäre natürlich ein Narr geworden,« bemerkte Jean-Marie.
»Ich kann mir nicht denken, daß du dich in deinem Berufe ausgezeichnet hättest,« sagte der Doktor, den Ernst des Jungen bewundernd. »Lachst du eigentlich jemals?«
»Oh ja,« entgegnete der andere. »Ich lache häufig. Ich habe Witze sehr gern.«
»Seltsames Wesen!« meinte Desprez. »Aber ich divagiere. (Ich merke an tausend Dingen, daß ich alt werde.) Franchard wurde schließlich in den englischen Kriegen, die auch Gretz schleiften, zerstört. Aber – und hierauf kommt es an – die Klausner (denn inzwischen gab es ihrer schon mehrere) hatten die Gefahr vorausgesehen und die Opfergefäße sorgfältig versteckt. Diese Gefäße hatten ungeheuren Wert, Jean-Marie, – einen ungeheuren, ja man kann sagen, unschätzbaren Wert; sie waren herrlich gearbeitet, von kostbarstem Material. Und jetzt höre auf mich, – man hat sie niemals gefunden. Unter der Regierung Ludwigs des Vierzehnten gruben einige Kerls ganz in der Nähe der Ruinen nach. Plötzlich – tock! – stieß der Spaten gegen einen harten Gegenstand. Stell dir vor, wie die Männer sich anblickten; wie ihre Herzen klopften, wie sie die Farbe wechselten. Es war eine Truhe – die Stelle, wo der Schatz von Franchard begraben lag! Wie hungrige Raubtiere rissen sie den Deckel hoch. Aber ach! Es war nicht der Schatz, sondern nur einige Priestergewänder, die, sowie sie mit der zehrenden Luft in Berührung kamen, zusammensanken und in Staub zerfielen. Der Schweiß dieser braven Kerls ward ihnen am Körper eiskalt, Jean-Marie. Ich möchte meinen Ruf dafür verpfänden, daß, falls gerade ein schneidender Wind wehte, der eine oder andere von ihnen sich für seine Mühe sogar eine Lungenentzündung holte.«
»Ich hätte gern gesehen, wie sie in Staub zerfielen«, sagte Jean-Marie. »Sonst wäre es mir ziemlich gleichgültig gewesen.«
»Du hast keine Phantasie«, rief der Doktor. »Stell dir doch die Szene vor! Verweile bei dem Gedanken: ein großer Schatz liegt jahrhundertelang in der Erde; der Stoff für eine Existenz des Leichtsinns, der Fülle und des Überflusses liegt brach; Kleider und herrliche Bilder werden nicht gekauft; die flinksten Pferde rühren, wie von einem Zauber befallen, keinen Huf; Frauen, mit der lieblichen Gabe des Lächelns begabt, lächeln nicht; Karten, Würfel, Operngesang, Orchester, Schlösser, wundervolle Gärten und Parks, große Schiffe mit Türmen von Segeltuch, liegen alle ungeboren im Sarge – und die dummen Bäume wachsen im Sonnenlicht Jahr um Jahr über sie hinweg. Der Gedanke kann einen doch rasend machen.«
»Es ist doch nur Geld«, entgegnete Jean-Marie. »Es würde ja nur schaden.«
»Na, na,« rief Desprez, »das ist Philosophie; das ist ja alles sehr schön, trifft aber den Nagel nicht auf den Kopf. Außerdem handelte es sich ja nicht ›nur um Geld‹, wie du es nennst; es waren auch Kunstwerke dabei; die Gefäße waren getrieben. Du redest wie ein Kind. Du machst mich wirklich müde, meine Worte so wie ein Papagei, aus jedem logischen Zusammenhang heraus, daherzuleiern.«
»Nun, uns geht die Sache ja nichts an«, meinte der Junge gehorsam.
In diesem Augenblick stießen sie auf die große Landstraße, und der plötzliche Wechsel von der Waldesstille zum rasselnden Straßenpflaster bewirkte, zusammen mit seinem Ärger, daß der Doktor schwieg. Das Gig holperte weiter: die Bäume glitten vorüber, in schweigender Beobachtung, als hätten sie etwas auf dem Herzen. Vorbei gings an der Wegkreuzung; dann hatten sie Franchard erreicht. Sie stellten das Pferd in dem kleinen einsamen Gasthof ein und gingen im Schlenderschritt weiter. Die Schlucht war dunkelrot von Heidekraut; die Felsen und Birken leuchteten in der Sonne. Lautes Biengesumm machte Jean-Marie schläfrig, und er setzte sich gegen einen Klumpen Heidekraut, während der Doktor beim Sammeln seiner Kräuter in raschen Wendungen hin und her ging.