Viertes Kapitel - Die Erziehung zum Philosophen - 01
Der adoptierte Stalljunge war somit glücklich in den Haushalt aufgenommen, und das Getriebe des Lebens im Doktorhause setzte seinen Lauf reibungslos fort. Jean-Marie lag am Morgen seinen Stallpflichten ob, half mitunter im Hause, oder ging auch wohl mit dem Doktor spazieren, um aus der Quelle der Weisheit zu schöpfen; abends wurde er dann in die Wissenschaften und in die toten Sprachen eingeführt. Hierbei behielt er die außergewöhnliche innere und äußere Gelassenheit seines Wesens bei; er war selten zu tadeln, machte hingegen in seinen Studien nur recht mäßige Fortschritte und blieb im großen und ganzen ein Fremder in der Familie.
Der Doktor war ein Muster an Gewissenhaftigkeit. Den ganzen Vormittag arbeitete er an seinem großen Werke: »Vergleichende Pharmacopoea, oder historisches Diktionär der medizinischen Wissenschaften«, das vorläufig in der Hauptsache aus Zetteln und Klammern bestand. Später sollte es dann zahlreiche höchst persönliche Bände füllen und antiquarisches Interesse mit wissenschaftlicher Brauchbarkeit vereinen. Allein der Doktor liebte den literarischen Stil und das Pittoreske; eine Anekdote, eine Eigenart, ein moralischer Vorzug oder ein klingendes Epitheton wurden von ihm unfehlbar wissenschaftlichen Qualitäten vorgezogen; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte die »Vergleichende Pharmacopoe‹ in Versen geschrieben. Der Artikel ›Mummia‹ war zum Beispiel schon ganz fertig, obwohl das übrige Werk bis über den Buchstaben ›A‹ nicht gediehen war. Das Ganze war äußerst umfangreich und amüsant, originell und lebendig geschrieben, exakt, gelehrt, eine literarische Abhandlung, hätte indes einem modernen praktischen Arzt wohl schwerlich als Leitfaden gedient. Mit weiblicher Einsicht und Vernunft hatte seine Frau sich denn auch hinreißen lassen, ihm unverblümt über diesen Punkt die Wahrheit zu sagen, denn selbstverständlich wurde ihr das Diktionär auf seinem endlosen Weg zur Vollendung Stufe für Stufe vorgelesen, während sie zwischen Schlafen und Wachen schwebte; ja, der Doktor war in Punkto Mumien ein wenig empfindlich, und pflegte auf Anspielungen in dieser Richtung mitunter sogar mit Heftigkeit zu reagieren.
Nach dem Mittagessen und nach Ablauf einer angemessenen Verdauungsfrist ging er, mitunter allein, mitunter mit Jean-Marie spazieren, da Madame jede andere Art von Strapaze dieser vorzog.
Sie war, wie gesagt, überaus geschäftig, unausgesetzt um ihr leibliches Wohl bemüht und stets bereit, wenn sie nichts zu tun hatte, über einem Romane einzuschlafen, was um so weniger störend wirkte, als sie niemals schnarchte oder während des Schlafes häßlich oder abgespannt aussah. Im Gegenteil, sie war das Bild üppigen, appetitlichen Behagens und pflegte, wenn sie dann plötzlich erwachte, sofort munter zu sein und alle fünf Sinne beisammen zu haben. Eigentlich war sie nicht viel mehr als ein Tier, aber ein liebes Tier, das man gern um sieh hatte. Darin hatte Sie wenig mit Jean-Marie gemein, trotzdem blieb die Sympathie, die am ersten Abend zwischen ihnen entsprungen war, ungeschwächt fortbestehen. Sie unterhielten sich auch dann und wann, meist über hauswirtschaftliche Fragen, und zogen sogar mitunter, zur bittersten Enttäuschung des Doktors, selbander in jenen Tempel entwürdigenden Aberglaubens: die Dorfkirche. Zweimal im Monat fuhren Madame und er, in ihren besten Sonntagskleidern, nach Fontainebleau, von wo sie mit Einkäufen beladen heimkehrten. Mit einem Wort, obwohl der Doktor fortfuhr, sie als zwei unversöhnlich antipathische Naturen zu betrachten, standen sie doch so freundschaftlich, intim und vertraut miteinander, wie ihre Charaktere es gestatteten.
Zwar ist zu befürchten, daß Madame in ihrem tiefsten Herzen den Jungen auf ihre gutmütige Weise verachtete und bemitleidete. Sie hatte für seine Art von Vorzügen nichts übrig; ihr gefielen die aufgeweckten, höflichen, naseweisen, schelmischen Bürschchen, die, schnellfüßig, die Mütze in der Hand, ihr ohne Schüchternheit in die Augen sahen. Sie liebte Redseligkeit, Charme, ein wenig Laster – kurz einen zweiten Doktor Desprez en miniature. Außerdem war es ihr unerschütterlicher Glaube, daß Jean-Marie dumm sei. »Armer lieber Junge,« sagte sie bei einer Gelegenheit, »wie traurig, daß er so dumm ist.« Sie wiederholte diese Bemerkung jedoch niemals, denn Dr. Desprez tobte wie ein wilder Stier, warf ihr die viehische Stumpfheit ihres Gehirns vor, bejammerte sein Los, das ihn so ungleich mit einer Eselin gepaart hatte, und drohte, was Anastasie vor allem naheging, durch feine wütenden Gestikulationen das Tafelservice zu zerschmettern. Sie hielt jedoch im Stillen an ihrer Ansicht fest, und wenn Jean-Marie in stoischer, gedankenloser Ruhe, ohne jedoch unglücklich zu sein, über seinen unvollendeten Aufgaben brütete, benutzte sie die Abwesenheit des Doktors, um zu ihm hinzugehen, die Arme um seinen Hals zu legen, ihre Wange an die seine zu lehnen und ihm ihr Mitgefühl für seine Nöte zu bezeigen. »Nimm es dir nicht zu Herzen,« pflegte sie zu sagen, »auch ich bin gar nicht klug, und du kannst mir glauben, es macht im Leben nichts aus.« Der Doktor war natürlich ganz anderer Ansicht. Dieser liebenswürdige Herr ward es nie müde, sich selbst reden zu hören, und er hatte ja in der Tat eine recht angenehme Stimme. Jetzt endlich hatte er einen Zuhörer gesunden, der nicht Anastasiens zynischen Gleichmut besaß, und der ihn überdies durch die treffendsten Einwände auf dem Qui Vive erhielt. Und galt es nicht außerdem, den Jungen zu erziehen? Darin find sich sämtliche Philosophen einig, daß die Erziehung der Jugend die philosophischste aller Pflichten ist. Und kann den armen Sterblichen etwas Himmlischeres passieren, als wenn ihr Steckenpferd sich zu einer Staatsbürgerpflicht auswächst? Dann, wahrlich, verwandeln sich die Gewohnheiten des Lebens zu Genüssen. Noch nie hatte der Doktor so sehr Ursache gehabt, mit seiner Begabung zufrieden zu sein. Die Philosophie floß ihm nur so von den Lippen. Er war ein so gewandter Dialektiker, daß er seinen Unsinn, wenn nötig, auf irgend einen sinnvollen Ursprung zurückzuführen vermochte und ihn als Blüten seines Systems verkleidete. Den Antinomien entschlüpfte er wie ein Fisch und versetzte seinen Junger in Erstaunen über des Rabbis Abgründigkeit.
Überdies war er in der tiefsten Tiefe seines Herzens enttäuscht über den Mißerfolg seines formalen Unterrichts. Ein Junge, den ein so scharfsinniger Beobachter aus Grund seiner Fähigkeiten auserlesen hatte, und dem ein so philosophischer Erzieher den Weg zur Weisheit wies, mußte nach den Gesetzen des Universums offensichtlichere und gründlichere Fortschritte machen. Nun war aber Jean-Marie in allen Dingen schwerfällig und in manchen Dingen unergründlich; und sein Talent zum Vergessen hielt mit seinem Talent zum Lernen Schritt. Daher legte der Doktor ganz besonderen Wert auf die peripatetischen Vorträge, denen der Junge beiwohnte, die ihm gewöhnlich Freude machten, und aus denen er nicht selten lernte. Viele, viele solche Unterhaltungen fanden zwischen den beiden statt, und Gesundheit und Mäßigung waren der Gegenstand von Doktor Desprez Abschweifungen. Zu ihm kehrte er immer wieder zurück.